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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reformationstag, 31.10.2011

Predigt zu Matthäus 10:26-33, verfasst von Johannes Schick

 

Liebe Gemeinde,

Kirche des Wortes nennen wir uns. Wenn wir irgendwo ein Lutherbild sehen, dann fast immer so: In der einen Hand hält er die Bibel, sie aber noch mehr ihn, mit der anderen Hand zeigt er auf sie, um anzuzeigen: Das Wort, sie sollen lassen stahn. Luther hat die beiden Testamente geliebt, sie übersetzt mit der Hingabe seiner Sprachkraft, er hat sich darin verkrochen in der Not und ist daraus auferstanden ins Paradies. Er hat die Geschichten und Lieder der Rettung kostbar gemacht, damit Menschen ihren Mut daran nähren.

Kirche des Wortes. Die Sätze Jesu heute sagen, was es um das Wort ist. Es will in Umlauf kommen, und wie! Was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Ganz im Leisen, ganz intim nimmt die Ohrmuschel den Ton auf, er gräbt sich seinen Gang, vom Ohr ins Herz, der Ton gewinnt Resonanz, bringt etwas zum Schwingen und will Ausdruck finden, wird zur Stimme, die sich herauswagt aus den Engen und den ganzen Atemlosigkeiten des Lebens, hinaus und hinauf bis an den offenen Himmel, wo die Spatzen pfeifen und der Wind die Furcht verweht. - Wow, was für ein Lauf! Wir stehen ganz verdutzt da mit unserem scheuen Glauben. Aber merken wir nicht? Um Jesus herum stehen ein paar Fischer, einige Randsiedler der Gesellschaft, manche, die Jesus geheilt und zurechtgebracht hat. Das sind alles keine Helden. Er meint solche, die ihren Mut zusammenkratzen und sich ab und zu wegducken. Uns.

... was euch gesagt wird in das Ohr ... Alles beginnt mit dem Hören. Hören? Wir hören so Vieles den ganzen Tag: helle und schroffe Töne, Schrilles und Sanftes, und wir produzieren selbst viel Lärm und hören uns ständig mit. Die Gefahr ist groß, dass man am Ende des Tages nicht all dies sondern gar nichts gehört hat: „ein Tongeräusch, und es verschwand". Aber was ist des Hörens wert? Wo sind die Perlen, die sich in die Ohrmuschel senken? Was löst die Sorge? Was löst uns von den Einreden, die uns im Griff haben? Das war ja die Frage Luthers: Was spricht mich frei von der Einrede: „Du bist nicht gut genug, du schaffst es nie, gib's auf"? Die Einrede ist bis heute nicht fremd geworden. Manchen schließt sie das Leben zu.

Aber wird ein anderer Ton angerissen. Fürchte dich nicht! sagt die Stimme Jesu. Wir horchen auf. Eure Haare auf dem Haupt sind gezählt. Wir lassen das Bild wirken. Wir hören, horchen, und wir würden wohl gerne der Stimme gehören, die so redet. Na, beim ersten Gedanken an die gezählten Haare habe ich geschmunzelt, weil ich da an einige denken musste, bei denen das Zählen der Haare nun wirklich keine große Kunst mehr ist. Aber es ist klar, was gemeint ist: Wenn Gott so kleine, schmale, ja: fadenscheinige Dinge wie Haare zählt, dann zählen wir bei ihm. Dann ist ihm nichts und niemand zu gering, kein zitternder Gedanke, kein Wesen, das noch nicht geworden ist, dessen Tage aber schon in sein Buch geschrieben sind, kein Mensch, der seine Tage verrinnen sieht. Wir hören's. Zögern.

Was euch gesagt wird ins Ohr ... - Was ist das Besondere an der Stimme Jesu? Zunächst, seine Worte haben ein Gedächtnis. Wir kennen alle genug Worte heute, die ohne Gedächtnis sind. Sie gelten heute und sind morgen vergessen, verbraucht, verraucht, sie transportieren nichts mehr, haben keine Seele, in ihnen schwingt kein Leben mit. Fürchte dich nicht! Das sind Worte mit einem Gedächtnis. Wir erinnern uns an die Geschichten vom Durchzug durchs Meer, wir hören die Psalmen mit, die gegen die Untergänge des Lebens reden, wir sehen die Tische, an denen das Brot der Vergebung gegessen wird im Angesicht der Feinde. Dreimal redet Jesus von der Furchtlosigkeit, dreimal, um das Gedächtnis wachzurufen (einmal etwas sagen, reicht ja oftmals nicht): Wisst ihr nicht? Habt ihr nicht gehört? Und habt ihr nicht schon selbst erfahren, wie die Furcht gewichen ist nach der unruhigen Nacht? Fürchte dich nicht! Ein ganzer Vorrat von Mut ist darin gespeichert.

Und das andere Kostbare an der Stimme Jesu. Wie ist es bei den Vorbildern, die sich nicht abbringen lassen von ihren Überzeugungen? Sie hören ihr Stichwort. Sie sind davon ergriffen, gepackt, sie merken, dass sie gemeint sind und gebraucht werden. Sie erkennen, dass das Gedächtnis der Furchtlosigkeit auch Präsenz braucht: in ihrer eigenen Stimme. Luther wurde urplötzlich aus seinem Teufelskreis von Tun und Versagen gerissen, als er die „Gnade" entdeckte, die alles neu macht, weil keine Verlorenheit mehr das Ende ist. Und kürzlich hat sich die Welt wieder an den Mann erinnert, der Luther in seinem Namen trägt: Martin Luther King. Es kommt ja nicht auf sein Denkmal in Washington an, aber auf seinen Traum von der „Gerechtigkeit", in der alle, Schwarze und Weiße, ihren Platz beieinander haben. Mir ist auch das Kindheitserlebnis Albert Schweitzers eingefallen. Eines Sonntagmorgens will ihn der Schulfreund überreden, Vögel zu schießen. Aus Angst, verlacht zu werden, legt er den Kieselstein auf die Schleuder, aber plötzlich läuten die Kirchenglocken, die für Schweitzer wie eine Stimme aus dem Himmel sind: „Du sollst nicht töten!"; in dem Moment gräbt sich ihm die Ehrfurcht vor dem Leben in den Sinn und er weiß, wozu er da ist.

Menschen, die ihr Stichwort finden, sind wahrhaft frei. Sie sind frei, nicht weil sie alles Mögliche wählen können, vielmehr weil sie etwas Bestimmtes haben, dem sie sich widmen. Sie wissen, was sie zu tun haben und was sie lassen müssen. Das ist ihre Freiheit. ... was euch gesagt wird in das Ohr ... - vielleicht kristallisieren sich in unserem Leben nicht die großen Themen heraus, aber genug, wenn wir ein kleines Stichwort finden, das Kräfte frei setzt, genug, wenn wir merken, die Furchtlosigkeit braucht unser Ohr, unser Herz, ja: meine, deine Stimme, nicht unbedingt eine laute, aber die eigene.

Jetzt aber sehen wir: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Offenbar nicht nur das: der ganze Mensch läuft mit, läuft hinauf, um es überallhin in Umlauf zu bringen: ... das predigt auf den Dächern ... Wir sehen vor uns die flachen Dächer Israels. Dort ist freie Sicht nach allen Seiten. Wind, Weite, Leuchten. Und wieder schweifen wir zu Luther. Mit seiner Bibel steht er da, nicht für sich, sondern coram publico, vor den Fürstenthronen, vor Kaiser und Papst, ob es passt oder nicht. Ja, er steigt den Leuten aufs Dach, wenn's drauf ankommt, und spart nicht mit dem deutlichen Wort dort, wo Menschen sich unter Menschen ducken. Weil er weiß: Die Freiheit, zu der Christus befreit, liebt kein Versteck, und „hinter Gitterstäben geht sie ein, denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein" (G. Danzer).

Dächerpredigt? Müssen wir uns so exponieren? Wir riskieren ja nicht Haut und Seele, wenn wir unseren Glauben öffentlich machen. Aber die Menschenfurcht lässt uns nie ganz los. Wir fragen, wie wir wirken, ob man uns akzeptiert. Wir werden auch leise angesichts der Leiden unserer Zeit. Natürlich. Und wir denken: Wer den Mund voll nimmt, wird seine Leichen im Keller haben - Aber es ist doch so: Wenn du im Innern weißt, was dir wichtig ist, dann willst du es auch zeigen. So wie jedes Kind, wenn es sich in einer schönen Sache verfangen hat - schönes Eingefangensein, Gefangen sein aus Freiheit - und nicht mehr aufhören kann, sie auszuwickeln für alle Welt. Dächerpredigt? Sie meint vielleicht gar nicht so sehr die Sprache am ausgefallenen Ort. Obgleich das geistreich sein könnte: raus aus der Kirche und heraus mit der Sprache auf den Plätzen dieser Welt. Aber eher ist da etwas über die Sprache selbst gesagt. Dächerpredigt, das ist die Sprache, die etwas zeigen will, die die Freiheit zeigt, auswickelt, ausstreut, die sich wohl auch überschlägt bis ins - Singen. Im Singen von der großen Furchtlosigkeit (heute!) sagen wir immer zu viel, aber wir wachsen mit den Gesängen, manchmal ist es, als wachsen uns Flügel.

Die zeigende Sprache. Sie kriecht sich nicht ein in die Sitzungszimmer und in die abgewogenen Formulierungen. Sie liebt schon gar keine Art von Winkelmessen. Sie geht aus sich heraus. Sie zeigt, was ist: das gebeugte, verletzte Leben, sie legt auch den Finger in die Wunden der Zeit - und der eigenen Kirche. Siehe da, die Opfer des Profits, der Macht, des Rennens. Sie zeigt aber auch, was sein könnte, wie das Leben teuer wird und schön vom Schonen und Aufrichten. Die Welt erwartet von den Kirchen nicht, dass sie ihre richtigen Sätze wiederholen, sie erwartet, dass wir die Furchtlosigkeit zeigen, die uns ins Ohr gegraben ist. Sie braucht unsere Stimme, die sich genährt hat an der Zuversicht, und die sie herumzeigen will wie ein keckes Kind: „Du zählst doch, Mensch, Gott gibt dich nicht auf! Geben wir die Welt nicht auf!"

Es kommt etwas dazu. Die zeigende Sprache, diese Dächerpredigt, denkt nicht als erstes an den Gegenwind. Der Gegenwind macht ja das Gute nicht ungeschehen. Dem lasst uns nun noch kurz nachdenken. Ich erinnere mich an die Grußbotschaft des Ulmer Oberbürgermeisters Ivo Gönner bei der Eröffnung der EKD-Synode in Ulm vor zwei Jahren. Er erzählte als Impuls für die Arbeit der evangelischen Kirche folgende Begebenheit zu Albert Einstein (die Synode tagte im Einsteinsaal des Congresszentrums): Um Einstein für seinen Nobelpreis 1922 zu ehren, hatten die Ulmer Gemeinderäte eine Straße nach ihm benannt. Unmittelbar nach der Machtübernahme durch Hitler, 1933, wurde das Schild aber wieder abgenommen. Nun beschloss der Gemeinderat nach dem Krieg, es wieder anzubringen. Als Einstein dies erfuhr, bedankte er sich in einem Brief herzlich dafür, dass zum zweiten Mal eine Straße nach ihm benannt werden sollte. Aber er fügte ein P. S. dazu, in dem er zu bedenken gab: Wenn die erneute Benennung nach seinem, Einsteins Namen, reiflich überlegt sei, sei es gut, wenn nicht, so könne man die Straße auch gleich Fähnlein-in-den-Wind-Straße nennen. - Die Geschichte ist ein Signal für unsere Kirche: Die wirkliche Freiheit zeigt sich dort, wo Christen das Gute hochhalten, weil es gut ist, egal ob der Wind günstig ist.

Wenn wir noch einmal nach Ulm schauen. Hans und Sophie Scholl streuten die Flugblätter, diese Predigten der Menschlichkeit und Gottesfurcht, in die Welt des Naziterrors. Sie retteten die Freiheit der Meinung, der Gesinnung, des Glaubens auf ihre Zettel. Sie hatten eine Fähigkeit zur Abscheu gegenüber dem Leben zerstörenden Unwillen. Und sie hatten diesen Mut zum Guten, der nicht naiv ist, sondern der die wunderbare Möglichkeit des Menschen zeigt; die Courage, die auffährt, wenn die Wahrheit verraten wird, wenn Menschen geschändet werden; die Sympathie, die voreingenommen ist vom Wunsch nach Gerechtigkeit und sich aufs Spiel setzt. Sie starben dafür, aber Hans Scholl rief, ehe er sein Haupt in den Block legte, laut, dass es durch das ganze Gefängnis hallte: „Es lebe die Freiheit".

Was für eine Sprache, die die Furchtlosigkeit, dieses Gottesversprechen, zeigt, auch wenn es ganz und gar nicht opportun ist. Gewiss, wir bleiben dahinter zurück. Wir haben die große Probe nicht erlebt und scheitern doch. Aber an den großen Freiheitspredigten reinigen wir unser eigenes Leben von den kleineren Versuchungen der Unfreiheit ... das predigt auf den Dächern ... Wir müssen uns nicht begnügen mit den so genannten Realitäten, die angeblich keine Alternative kennen. Wenn wir einmal, zweimal, viele Male dem Fürchte dich nicht! lauschen, damit es sich uns ins Ohr gräbt, dann verlieren wir allmählich die große Angst vor dem Dunkel und dem Scheitern und müssen uns nicht mehr flüchten in die kleinen Ängste der Woche. Dann wächst unser Sprachmut an. In jeder Zeit. Hans Scholl hat sich noch vor seinem Tod das Hohelied der Liebe aus 1. Korinther 13 und Psalm 90 vorlesen lassen ... er lebte und starb bei dem, was ihm gesagt wurde in das Ohr. Was er im Innern bewachte, das gab ihm seine Unbeirrbarkeit, auch sein Gefasstsein am Ende, denn es war nicht das Ende. Die Stimme Jesu kommt nicht ans Ende.

Liebe Gemeinde, heute am Reformationstag denken wir daran, dass wir eine Kirche des Wortes sind. Wir merken, das Wort ist alles andere als eine staubige Sache - als müsste man einmal im Jahr kommen und den Staub von der Bibel blasen -, vielmehr: das Wort will in Umlauf sein, es sucht unser Ohr und die Stimme der Freimütigkeit. Vor wem sollten wir uns fürchten? - Am Schluss müssen wir nur noch fragen: Fürchten wir Gott? Nun, nehmen wir ihn einfach ernst, darin, dass er unser verstreutes Leben sammelt. Und nehmen wir uns die Freiheit, den Mund voll zu nehmen. Nicht aus dem Nichts (wie so viele). Aber schöpfst du nicht aus dem Gedächtnis der Furchtlosigkeit, hörst du nicht dein Stichwort? Amen



Pfarrer Dr. Johannes Schick
89173 Lonsee
E-Mail: johannes.schick@t-online.de

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