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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 06.11.2011

Predigt zu Matthäus 5:1-12, verfasst von Poul Joachim Stender


Beim Allerheiligen-Gottesdienst in der Kirche von Saaby Kirke brennt für jeden, der seit dem letzten Allerheiligen in der Gemeinde verstorben ist, auf dem Altar eine Kerze. Die Namen der Toten werden von der Kanzel verlesen. Am Ende des Gottesdienstes ziehen alle singend aus der Kirche aus, mit den Blumen aus der wunderschön geschmückten Kirche. Der Gottesdienst schließt mit einem Gebet, dem Segen und einem Lied am Gemeinschaftsgrab. Danach essen wir zusammen - miteinander und bei den Verstorbenen. Es gibt eine heiße, dampfende Suppe und frisch gebackenes Brot zwischen den Gräbern.

~ ~ ~

Als ich vor vielen Jahren in die Gemeinde kam, schloss das Lebensmittelgeschäft am Samstag um 13 Uhr. Und es gab keinen Supermarkt in der Nähe. „Erzähl uns von dem Dorf, als du hierher kamst", bitten meine Kinder mich. Und ich erzähle ihnen von der Zeit, als die Geschäfte ganz früh zumachten und es samstags nachmittags und abends und den ganzen Sonntag lang unmöglich war, sich ein Video zu holen oder eine Tüte Lakritz. Ihnen stehen die Haare zu Berge vor Entsetzen. Heutzutage scheint es, als ob die Geschäfte jederzeit geöffnet hätten. Es ist selten, dass einem etwas ausgeht, es sei denn, mangels Geld.

Die ausdehnten Öffnungszeiten sind zweifelsfrei der Ausdruck einer Art kollektiver Todesangst. In unserer Gesellschaft sollen die Dinge nicht zum Stillstand kommen. Erblickt man eine geschlossene Ladentür, ist es so, als erblicke man die eigene Sterbeurkunde. Das erinnert uns allzu sehr an den Tag, an dem einst unser Herz stehen bleibt. Die Geschäfte sollten, ginge es nach uns, wie auch wir selber keinen Ladenschluss haben. Insgesamt verstehen wir uns nämlich schlecht darauf, zu sterben, denn wir verstehen uns schlecht darauf, zu leben. Wir können aufbrechen und anfangen. Aber nicht aufhören und abbrechen.

Ein jeder weiß, wie wichtig Generalproben sind, wenn etwas Großes bevorsteht. Wenn wir uns nie darin üben, zu sterben, wie sollen wir dann auch nur annähernd damit zurechtkommen können, wenn unsere Stunde gekommen ist?

Meine Großeltern hielten Dämmerstunde. Sie saßen ganz still da und ließen den Abend langsam in ihre Stube eindringen. Dunkelheit quoll herein durch die Schlüssellöcher und füllte den Raum mit kleinen, dunklen Flecken, bis es so dunkel geworden war, dass mein Großvater sich den Weg zur Steckdose vorantasten musste, um das Licht einschalten zu können. Ich glaube, sie übten sich im Sterben. Da sie die Dunkelheit kannten, konnten sie das Licht wahrhaftig genießen. Heute zünden wir die Lampen mehrere Stunden vor Einbruch der Dunkelheit an, um dem Gefühl zu entgehen, dass auch der Tag einen Feierabend hat.

Eine weitere hervorragende Möglichkeit, sich im Sterben zu üben, ist, sich Zeit zu nehmen, sich zu langweilen. Man kann z. B. in die Kirche gehen. Die Gottesdienste sind zwar mit der Zeit immer unterhaltsamer geworden. Aber es ist immer noch nicht schwer, eine Kirche zu finden, in der man keine Angst davor hat, sich Kinder und Erwachsene gotterbärmlich langweilen zu lassen. Es ist ein starkes Erlebnis, dort zu sitzen und sich von der Stille und den Pausen, von der Langeweile und von Gottes Wort überwältigen zu lassen. Beim ersten Mal hat man Entzugserscheinungen an Lärm und Unterhaltung. Aber nach dem kalten Entzug beginnt man allmählich nachzudenken.

Früher fasteten wir hier in Dänemark. Das war ein ausgezeichneter Brauch. Man aß nicht viel während der kirchlichen Fastenzeit. Man stellte sich gewissermaßen ein wenig auf den Tag ein, an dem man stirbt und nicht mehr in der Lage ist zu essen. Wir sollten ernstlich einmal in der Volkskirche zu unterschiedlichen Formen von Fasten aufrufen, als Generalprobe für den Tod. Augenfasten: Man sieht einen ganzen Monat lang nicht fern, sondern hält dafür die Dämmerstunde. Ohrenfasten: Man schaltet sein Handy aus und zieht den Stecker aus dem Computer - und versucht für ein paar Wochen ganz Ohr zu sein für die Stille oder, was noch schwieriger ist, für die Kinder und den Partner.

Ein französischer Schriftsteller hat einmal erklärt, dass das Alter eines Menschen nicht anders sein werde als das Leben, das man gelebt hat, bevor man alt wurde. Wenn man sich nie die Zeit genommen hat, das Leben zu genießen, sollte man nicht damit rechnen, nach seiner Pensionierung herausfinden zu können, wie man das macht. Es bedarf einer lebenslangen Übung, soll das Altern gelingen.

So ist es auch mit dem Tod. Der Tod fällt für einen nicht anders aus als das Leben, das man gelebt hat. Wenn man weder der Dunkelheit noch der Stille noch der Ewigkeit hat ins Auge sehen wollen, während man gesund und fit war, wird es ziemlich schwierig, wenn Krankheit und Tod einen treffen.

Heute ist Allerheiligen, und wir sind hier in der Kirche versammelt, uns ein wenig aufs Sterben einzustellen, auf dass wir besser darin werden, zu leben. Unser größtes Problem ist nicht unsere Angst vor dem Sterben. Sondern eher unsere Angst vor dem Leben. Wir zwängen uns ein in Sicherheiten, Betriebsamkeit und Aktivität, um das Leben selbst nicht allzu sehr wahrnehmen zu müssen. Wir schaufeln tonnenweise Bio-Lebensmittel in uns hinein, um länger zu leben. Wir joggen und nehmen Vitaminpillen. Wir leben, um zu überleben. Essen, um gesund zu bleiben. Bewegen uns, um uns in Form zu halten.

Doch die angemessen anständige Generalprobe des Sterbens besteht eigentlich darin, sich dem Leben anheim zu geben. Zu essen, um des Genusses willen. Zu leben, weil das Leben eine wunderbare Gelegenheit ist, die wir bekommen haben. Uns zu bewegen, weil es schön ist, sich zu bewegen. Kurzum: Zu wagen, leidenschaftlich zu leben, mit allem, was das Leben einschließt an Schmerz und Liebe, Besinnung und Rausch. Das Schlimmste, was uns geschehen kann, ist, dass wir auf dem Sterbebett liegen und stöhnen: Ich habe es nicht geschafft zu leben, bevor ich nun sterben muss.

Doch hier, am Sonntag Allerheiligen, halten wir nicht nur eine Generalprobe ab für unseren Tod, indem wir bedenken, dass unser Leben einem Ladenschlussgesetz unterliegt, das nicht annähernd so liberal ist wie das Ladenschlussgesetz für die Geschäfte. Wir erinnern uns heute auch unserer Toten. Und wenn wir an sie denken, dann sehen wir Licht, oder nicht? Es quillt ein wunderbares, warmes Licht aus den Gräbern. Fast können wir die Hände zum Licht hin ausstrecken und uns an all dem wärmen, was die Toten uns zu geben vermochten, bevor sie von uns genommen wurden. Im Rückblick kommen nicht Leere, Dunkelheit und Kälte in den Blick. Sondern Licht, Wärme und Liebe.

Und darum verstehe ich, warum Christus uns selig preist im Evangelium des heutigen Sonntags. Selig sind wir. Wir, die wir Leid tragen um unsere Verstorbenen. Wir, die wir nach einer gerechten Welt hungern in einer ungerechten Welt. Wir, die wir uns nach Barmherzigkeit sehnen in einer unbarmherzigen Welt. Wir, die wir von einer von einer friedvollen Welt träumen in einer Welt voll von Terror und Krieg. Denn wir sind schließlich, trotz Trauer, Unbarmherzigkeit, Ungerechtigkeit und Unfrieden, umgeben vom Licht der Liebe.

Im Rückblick auf unser Leben, auf die Menschen, die wir verloren haben und um die wir trauern, begegnet uns Licht. Sie waren Gottes Geschenk, und obwohl sie gegangen sind, sind sie immer noch da. Und wenn wir nach vorn schauen, sehen wir ebenfalls Licht. Dort sind der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, und Liebe quillt uns entgegen. Und allenthalben um uns herum, in eben diesem magischen Moment, gibt es lebendige, warme, wunderbare Menschen, die unser Dasein erhellen.

Amen



Pastor Poul Joachim Stender
Saaby
E-Mail: pjs@km.dk

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