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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ewigkeitssonntag / Letzter Sonntag im Kirchenjahr, 20.11.2011

Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Anders Kjærsig


Gericht, Nächstenliebe und Hoffnung

Einerseits stimmt es jedes Mal etwas wehmütig, wenn etwas zu Ende geht. Das ist bei der Ausbildungszeit so, bei einem Arbeitsverhältnis oder bei den Ferien. Und das ist auch nicht anders mit einem Jahr und mit dem Kirchenjahr. Andererseits aber ist der Abschluss doch auch die Voraussetzung für einen Neubeginn. Wäre da nicht der letzte Sonntag im Kirchenjahr, gäbe es auch keinen ersten. So wird das Vergangene ausgelegt im Lichte des Kommenden. Oder wie wir es im Eingangslied von Boye gesungen haben:

             Herr Christe, dich zu ehren
             beschließen wir unser Kirchenjahr;
             vertrauensvoll können wir Abschied nehmen,
             der Advent kommt, wie das alte Jahr geht.
             Das Wort wird seine Stimme erschallen lassen,
             der Geist wird seine Orgel zum Klingen bringen,
             das Altarlicht des Glaubens wird brennen,
             bis dass die Welt vergeht. (DDS 431,1)

Der Predigttext für den letzten Sonntag im Kirchenjahr verortet uns im Spannungsfeld zwischen Gott und dem Nächsten. In unserer Beziehung zum anderen Menschen nimmt die Beziehung zu Gott konkrete Gestalt an. Gott ist zwischen mir und dem anderen, und das ist er darum, weil die christliche Beziehung zu Gott eine handfeste Beziehung ist, eine Beziehung, die sich in der zwischenmenschlichen Begegnung kundtut. Der Text zeigt das an durch die wiederholte Verwendung des Satzes: „Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen; ich bin nackt gewesen, und ihr gabt mir Kleidung."

Welche Bedürfnisse sind, menschlich gesehen, dringlicher als diese? Wir alle müssen essen und trinken, und wir alle brauchen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Wir können nicht ohne es leben. Einem anderen die Möglichkeit zu verweigern, sich heimisch zu fühlen, bedeutet nicht bloß eine Herabsetzung des Nächsten, es bedeutet, Gott selbst zu missachten. Im Angesicht meines Nächsten sehe ich gewissermaßen Jesu Antlitz, verweigere ich mich meinem Nächsten, der hungert und dürstet, dann verweigere ich mich zugleich Christus. Der Segen wird zum Fluch. Ein Gedanke, der sich auch in der Bergpredigt findet: „Selig sind, die hungern, denn sie sollen satt werden. Und weh denen, die in Fülle haben, denn sie werden hungern." [Lukas 6,21.25] So handfest ist das Christentum, entweder - oder: Erlösung oder Verdammnis, Segen oder Fluch.

Wir werden nach unserem Handeln oder Unterlassen gerichtet - doch erlöst werden wir allein durch den Glauben. Im Glauben an Gottes Sohn aber ist der Nächste uns recht eigentlich zur Gabe und Aufgabe geworden. Wir bleiben am Leben, weil der andere da ist, wie wir am Leben bleiben, weil wir essen und trinken. Denken Sie nur an die Geschichte [das Kinderbuch] von „Palle allein auf der Welt"! [Jens Sigsgaard, 1942; dt.: 1949; mit zahlreichen Neuauflagen]. Er hatte nicht nur seine Mitmenschen verloren, er hat auch seinen Gott verloren. Und zwar deswegen, weil es so ist, dass wir nur im Lichte des Angesichts des anderen wissen, Gott ist da.

Nun geht es im heutigen Text nicht nur um das Verhältnis von Gericht und Nächstenliebe. Es geht auch um die Hoffnung. Sie ist bereits inbegriffen im Gericht: Wenn der Menschensohn einst wiederkommen wird in Herrlichkeit, wird er die Böcke von den Schafen scheiden. Darin steckt mit anderen Worten der Gedanke, dass der Tisch, den wir füreinander decken in dieser Welt, nicht der letzte ist. Einst werden die Dinge sich ändern. Es bleibt nicht bei dem, was wir jetzt sehen, es ist nicht alles.

Bei dem dänischen Satiriker Carl Erik Soya gibt es in dem Erzählungsband „Wenn das Dasein sie langweilt" eine Geschichte, die das auf leicht komische Weise illustrieren kann. Die Geschichte heißt: „Genug zu sehen, aber nicht zu schmecken" und handelt von einem reichen Kaufmann, der das perfide und amoralische Hobby hat, dass er nur dann eine gute Mahlzeit genießen kann, wenn er einen armen, abgerissenen und hungrigen Menschen vor sich sitzen hat. Während der Kaufmann sich locker mit allen denkbaren und undenkbaren Gerichten vollstopft, läuft dem anderen sorgenvoll das Wasser im Munde zusammen. Doch er bekommt nichts von den Leckerbissen, bloß ein Stück trockenes Brot und ein Glas Wasser; was bloß den Appetit des Kaufmanns vermehrt. Daher der Titel: „Genug zu sehen, aber nicht zu schmecken".

Niemand wird bezweifeln, dass der Kaufmann ein Schuft ist. Er erhält denn auch nicht Gottes Segen. Er wird verflucht, und der Fluch besteht darin, dass er seine Tage in einem dunklen und feuchten Verlies beschließt, ohne Kontakt mit anderen Menschen. Da sitzt er, einsam und verlassen. Er hat nicht einmal eine Geschichte, an die er sich halten könnte, eine Geschichte, die ihm Kraft geben könnte und Mut. Er hat nur sich selbst, und das ist nicht viel.

Gänzlich anders sieht es bei dem abgerissenen Menschen aus; von ihm stellt sich heraus, dass er ein Dichter ist. Er vermag nämlich ein Mahl anzurichten in seiner Phantasie, das alles, was der Kaufmann verspeist, weit übertrifft. Die Nahrung des Kaufmanns ist vergänglich, die des Dichters nicht. Wenn er erzählt, wie der Tisch gedeckt ist mit Farbe und Licht, wie die verschiedenen Weine funkeln im Kristall, wie Engel ihm aufwarten und Pfeffer sich auflöst wie Weihrauch, vergisst er alles Elend, den Hunger und den Mangel. Wasser und Brot verwandeln sich durch die Erzählung des Dichters in ein Gastmahl aus einer ganz anderen Welt. Eine Verwandlung, die ihm Kraft gibt und Mut, die Situation zu meistern, in die er gestellt ist.

Die Geschichte vom Menschensohn, der kommen wird in all seiner Herrlichkeit, wirkt in eben dieser Weise. Sie gibt uns Richtung in der Zeit, so dass wir in der Welt handeln können, wie sie jetzt nun einmal ist. Einst werden wir zu Tisch sitzen in Gottes Reich. Lassen Sie es uns vorwegnehmen, indem wir den Tisch füreinander decken! Darin besteht die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Oder, mit den Worten Grundtvigs gesagt:

             Liebe ist des Lebens Krone,
             Liebe ist des Lichtes Glanz,
             darum sitzt auf Gottes Throne
             Jesus nun mit Strahlenkranz.
             Er ist Licht, und er ist Leben,
             hat für uns sich selbst gegeben,
             lebet in und bleibet bei
             seines Vaters Liebe treu. (DDS 696,2)

Amen



Pastor Anders Kjærsig
Årslev
E-Mail: ankj@km.dk

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