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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 24.06.2007

Predigt zu Lukas 15:1-10, verfasst von Inger Hjuler Bergeon

Wenn wir Jesus Gleichnisse hören, dann kennen wir sie so gut, sie sind so gut erzählt. Und vielleicht sitzt man da und kann sich erinnern, was Jesus erzählte, hat aber vergessen, was ihn dazu bewegte, dass er es erzählte. Die Gleichnisse sind ja oft Antwort auf etwas, was gesagt wurde. Sie sind eine Reaktion. Sie sind Teil eines Gesprächs. - Oder Lukas möchte jedenfalls, dass wir sie so sehen.

             Und was die Gleichnisse heute hervorbringt, ist, dass jemand schimpft. Das kann man aus vielen Gründen tun, hier geschieht es, weil Jesus mit denjenigen isst, mit denen man nichts zu tun haben durfte: mit den Sündern und Zöllnern. Also wie wir wissen, mit denen, die die gesetzlichen Regeln über die Reinheit nicht befolgten. Oft waren es Menschen, die es wegen ihrer Arbeit nicht tun konnten. Z.B. die Zöllner, aber auch Gerber und andere, die mit Blut zu tun hatten. Man konnte aus vielerlei Gründen zur Kategorie der Sünder gehören. Vielleicht aus Gründen, die wir nicht als sündiger betrachten als so manches andere. Aber weil wir vielleicht von uns selbst meinen, wir hätten eine großzügigere und tolerantere Auffassung davon, wann man ein Sünder ist, denn heutzutage ist es ja gang und gäbe zu meinen, wir alle seien Sünder, und deshalb ist das nicht von so überwältigender Bedeutung, da sollen wir nicht zu schnell über die schrecklichen Pharisäer und Schriftklugen urteilen. Denn sobald wir anfangen, "alle die Intoleranten und Tadelsüchtigen" zu schelten, ja, dann sind wir doch selbst so geworden und schimpfen selbst.

          Dass sie schimpfen, weil Jesus Christus offensichtlich etwas anderes tut und mit anderen Leuten zusammensein will, als sie erwartet hatten, - das veranlasst ihn, diese beiden Gleichnisse zu erzählen.

             Und ja, nicht bloß diese beiden, von dem verlorenen Schaf und dem verlorenen Groschen, sondern gleich darauf kommt noch das Gleichnis vom verlorenen Sohn - oder von den zwei verlorenen Söhnen. Wir fangen also damit an, dass manche schimpfen, und dann endet der Zusammenhang eigentlich erst dort, wo Jesus es - nach seiner Erzählung von dem Fest für die Heimkehr des jüngsten Sohnes - offen lässt, ob der älteste Sohn mit hineingehen und feiern will oder ob er in seinem Zorn draußen bleiben will.

             Die offene Frage also, die am Ende dieser drei Gleichnisse vom Verlorensein oder Verdammtsein stehen bleibt, ist die, ob wir dasitzen und schimpfen wollen, dastehen und wütend sein wollen - oder ob wir an der Freude und dem Fest teilnehmen wollen.

             Wenn uns die Worte vom Verschollen- oder Verlorensein in religiösem Zusammenhang begegnen, ja, dann springen unsere Assoziationen leicht über auf das Wort "Verdammnis". Und entweder denkt man sich Verdammnis dann als etwas Jenseitiges, also als etwas nach dem Tode. Aber weil das Jenseits heute nicht richtig in Mode ist, interpretieren wir vielleicht Verdammnis als etwas, das mit unserem hiesigen Leben zu tun hat: dass wir keinesfalls unser Leben verspielen dürfen. Und diese Angst, das Leben nicht zu leben, wie man es müsste, nicht das daraus zu machen, was möglich ist, die verursacht uns, glaube ich, heute genauso Angt und Beunruhigung, wie Menschen früher die ewige Verdammnis fürchteten.

             Wir könnten versuchen, das Verschollensein, von dem diese drei Gleichnisse erzählen, so zu sehen, dass wir nicht gleich an Verdammnis, im Diesseits oder im Jenseits, denken. Es besteht doch ein gewisser Unterschied in der Art und Weise, wie man in den drei Gleichnissen verloren geht oder verdammt wird. Es ist ja nicht dasselbe, ob ein Schaf sich verläuft, ob man einen Groschen verliert oder ob man einen Sohn hat, der ins Ausland geht.

             Da besteht ein Unterschied in Bezug auf Verantwortung und Willen.

             Der Groschen kann nichts dafür, dass er verloren geht. Es wäre verrückt, wollte man ihn darum ausschelten. Er hat keinen Willen. Er hat keine Möglichkeit zu handeln. Mit ihm geschieht, was die Umgebung nun einmal mit ihm macht. Man kann ihn gebrauchen, um Waren damit zu bezahlen. Man hat sich ihn vielleicht durch Arbeit verdient. Er lässt sich in Speisen, Lichter und Kleidung verwandeln. Er entspricht so etwa einem Tagelohn. (Im Text ist von einer Drachme, einer griechischen Münze, die Rede.) Er ist also nicht bloß Kleingeld.

             Dann ist da das Schaf. Es kann selbst gehen. Es kann sich selbst von der Herde entfernen. Aus vielen verschiedenen Gründen kann es das tun. Vielleicht ist es neugierig, innovativ und kreativ, wie man heute ja zu sein hat. Vielleicht hat es besseres Gras anderswo gesehen. Vielleicht kann es die anderen 99 Schafe nicht leiden. Vielleicht können die das eine Schaf nicht ausstehen, weil es immerzu querdenkt und nicht mitgehen will und sie immer warten müssen und weil die Hunde hin- und herlaufen müssen, um eben dies Schaf zu finden, das unablässig seinen eigenen Weg gehen will. Vielleicht ist aber auch einfach nur abhanden gekommen. Hat für kurze Zeit die Stimme des Hirten nicht gehört. War in sich selbst versunken. Vielleicht ist es nicht so intelligent, ist etwas langsam von Begriff. Oder in den Beinen. Ist vielleicht nicht das schärfste Messer in der Schublade. Es kann eine Million Gründe geben, dass es abhanden kommt. Es kann selbst gehen, deshalb hat es selbst einen Teil der Verantwortung, im Gegensatz zum Groschen. Aber warum es nicht in der großen Herde ist, dafür kann es unzählige Gründe geben. Also, dass es abhanden gekommen ist, dazu hat es selbst beigetragen, aber ob es aus Überschuss oder Mangel geschah, ob es außenvor gehalten worden ist oder selbst draußen bleiben wollte, das können wir nicht wissen. Ob eine Willenshandlung zugrunde liegt oder der reine Zufall, das können wir auch nicht wissen.

             Und schließlich ist da der Sohn - das Evangelium dieses Sonntags in einem Jahr -, der Sohn, der ja ganz freiwillig und absichtlich die Wahl trifft, in die Welt hinauszuziehen. Und das wird ihm völlig freigestellt. Er ist selbst der aktive und handelnde Faktor mit der Folge, dass er am Ende alles verschwendet hat. Aber dass er in großer Not endet, ist nicht allein seine Verantwortung, denn es war eine große Hungersnot im Lande, wie man sagt. Er ist selbst der aktive und handelnde Faktor, aber nicht alleinverantwortlich, wie es ihm im Ausland ergeht. Er ist der Aktive und Handelnde, der zum Vater heimkehrt. Aber wiederum nicht alleinverantwortlich, denn der Vater ist jemand, zu dem er heimzukehren wagt.

             So ist hier also von drei verschiendenen Arten die Rede, wie man abhanden kommen kann. Und massenhaft Gründe dafür. Und schon hier sollten wir angesichts dessen, dass wir so unendlich wenig von unserem gegenseitigen Leben begreifen, unserer Demut gestatten, unsere eigene Beurteilung der Möglichkeiten anderer weit wegzulegen.

             Es gibt verschiedene Weisen, abhanden zu kommen. Es ist unterschiedlich, wie viel Verantwortung oder Schuld der einzelne Abhandengekommene selbst daran hat.

UND, es gibt auch Unterschiede bei den Besitzern und ihrer Verantwortung dafür.

Die Frau, die den Groschen verliert, ja, sie hat also fast 100 % der Verantwortung. Selbstverständlich hat sie ihn aus Versehen verloren, aber wem sonst soll man die Schuld geben, wenn nicht ihr? Und die Verantwortung?

             Der Hirte, dem sein Schaf abhanden kommt, der ist auch dran. War es denn nicht er, der seine Augen hätte offen halten müssen? Er ist ein guter Hirte, denn er hält die Schafe offenbar nicht so streng, dass sie nicht frei Plätze mit gutem Gras finden können. Aber er ist kein fehlerfreier Hirte, denn eines der Schafs kommt tatsächlich abhanden. Hier kann man sagen, dass das Schaf einen kleinen Anteil und ein wenig Schuld daran hat, dass es abhanden kommt, aber die Hauptschuld liegt beim Hirten. Und er nimmt sie auf sich.

             Und dann ist da der Vater, der seinem Sohn den Erbteil überlässt und ihn fortgehen lässt. Hier stehen zwei gleichrangige Partner. Der eine bittet um sein Erbteil, und der andere gibt ihn. Der eine zieht von dannen, der andere lässt ihn ziehen.

             Hier ist also nicht nur von verschiedenen Weisen des Abhandenkommens die Rede, man verliert auch auf verschiedene Weisen und kommt auf verschiedene Weisen um sein Eigentum.

             Noch einmal müssen wir sagen: Jesu Gleichnisse handeln von Beziehungen. Wir können nicht einfach nur den Groschen für sich betrachten, oder das Schaf für sich oder den Sohn. Und wir können nicht einfach nur die Frau ansehen, den Hirten oder den Vater - jeweils für sich.

             Wir haben vielmehr die Beziehungen zu betrachten, die bestehen zwischen dem, der besitzt und die Verantwortung für das hat, was er besitzt, UND auf der anderen Seite dem, was sich in deren Besitz befindet und also mehr oder weniger die Freiheit hat, sich zu bewegen und zu wählen.

             Und da es sich um Gleichnisse handelt, geht es auch um das Verhältnis zwischen Gott und uns. Nicht nur um uns. Und nicht nur um Gott. Sondern um das Verhältnis zwischen Gott und uns. Denn wir können weder Gott noch uns selbst verstehen, wenn wir nicht die beiden Seiten in ihrem Verhältnis zueinander sehen.

             Und das ist in der Tat eine der Pointen, auf die es Jesus hier ankommt. Abhanden zu kommen, verloren zu gehen, verdammt zu sein, sich verdammt zu fühlen, das ist alles etwas, was einzig und allein in Kategorien der Verhältnisses zueinander verstehbar ist. Es ist sinnlos davon zu reden, dass man verloren geht, wenn es da nicht etwas gibt, wovon man verloren gegangen ist, oder vor allem: jemanden, für den man verloren gegangen ist.

             Und hier in den Gleichnissen zeigt sich: wenn die Peron, die besitzt und Verantwortung hat, entdeckt, dass etwas von ihrem Eigentum weggekommen ist, dann hat sie keine Ruhe, ehe sie das Verlorene nicht wiedergefunden hat. Die Frau steckt ein Licht an, fegt und ist wirklich aktiv. Der Hirte überlässt die 99 sich selbst, und zwar in der Einöde, und er geht hinaus, um zu suchen, BIS er es findet! Und der Vater, ja, er weiß, er hat seinem Sohn die Freiheit gegeben, er zieht also nicht aus und sucht nicht nach ihm. Aber in dem Augenblick, da er ihn entdeckt, in der Ferne, da beeilt er sich, und es ist ihm völlig gleich, in welcher Stimmung der Sohn heimkehrt. Er ist nur froh, froh, ihn wiederzusehen.

             Hier können wir schließen.

             Die Freude. Die Freude des Besitzers, das wiederzufinden, was er verloren hatte.

             Verloren aus vielen verschiedenen Gründen. Weggekommen aus vielen verschiedenen Gründen.

             Das ist unwesentlich. Das ist gleichgültig. Es gibt zahllose Arten und Gründe, seinem Besitzer abhanden zu kommen.

             Aber die Besitzer nehmen ihren Teil der Verantwortung auf sich. Denn diese Sache handelt von Verhältnissen und Beziehungen. Und deshalb geschieht es immer in einem Zusammenspiel. Da ist nicht nur der Eine, der gut ist, sucht und empfängt, und da ist nicht nur der Andere, der sündig ist und mit Willen unaufhörlich seine eigenen Wege geht, weg von der Milde des Vaters. Das ist eine Karikatur von Gott und von uns, wenn wir, um Gott gut und groß sein zu lassen, dann gezwungen sind, uns selbst klein und unsere Bewegungsfreiheit zu etwas Verkehrtem oder Bösem zu machen.

             In den Gleichnissen wird nicht so schwarz - weiß gezeichnet, sondern es wird von Verhältnissen, Beziehungen und Zusammenleben erzählt. Von jemandem, der den anderen nicht entbehren kann. Von Gott, der keinen Einzigen von uns entbehren oder verlieren will. Von Gott, der nicht nur dasitzt und wartet, dass wir kommen und uns übergeben. Sondern der selbst fahndet und sucht und unterwegs ist.Und dann, wenn er findet - NICHT: falls er findet -, wird festgehalten. Denn das ist die Freude: dass niemand verloren geht. Ob wir uns damit abfinden können, ja, das ist die Frage. Ob wir schimpfen oder mit hineingehen wollen zum Fest. Der Besitzer hat gesprochen.

Amen

 



Pastorin Inger Hjuler Bergeon
Odense, Dänemark
E-Mail: ihb@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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