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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag im Advent, 11.12.2011

Predigt zu Römer 15:7-9a.12-13, verfasst von Rainer Stahl

 

Liebe Leserin, lieber Leser, liebe Schwestern und Brüder,

aus dem Predigttext des 3. Advent dieses Jahres hebe ich die folgenden Verse hervor. Paulus schreibt:

„Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.

Denn ich sage:

Christus ist ein Diener der Beschnittenen (der Juden) geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen,

um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind;

die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen,

wie geschrieben steht: ...

‚Es wird kommen,

der Spross aus der Wurzel Isais

und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden;

auf den werden die Heiden hoffen.'

Der Geist der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes."

Damit werden wir zum diesjährigen 3. Advent herausgefordert, über unsere Beziehung zu Christus nachzudenken:

Auf wen freuen wir uns als Deutsche,

als deutsche Staatsbürger anderer Herkunftsnationalitäten

oder als Gäste aus anderen Völkern und Ländern,

wenn wir Weihnachten feiern wollen?

In Deutschland Weihnachten feiern wollen?

Und das ist ja schon bald, in genau auf den Tag zwei Wochen. Machen wir da einfach mit bei den vergesellschafteten Festtraditionen ohne echten Bezug mehr zur christlichen Wurzel? Oder ist dieses Kind, an dessen längst vergangene Geburt da gedacht wird, dieser Jesus aus dem Dorfflecken Nazaret, der ja auch an dem Tag des 25. Dezember gar nicht geboren wurde - wir wissen weder Jahr noch Tag genau (!) -, oder ist dieser Jesus aus dem Dorfflecken Nazaret wirklich Inhalt für unser Weihnachten-Feiern?

Und wie kann er Inhalt sein?

Dazu gibt uns Paulus einen ganz überraschenden Verstehenshorizont. Dieser Verstehensschlüssel - wie ich auch sagen könnte - hat etwas damit zu tun, dass Paulus und Jesus Juden waren,

wir aber Juden nicht sind,

sondern Deutsche z.B.,

oder deutsche Staatsbürger anderer Herkunftsnationalitäten,

oder gar Gäste aus anderen Völkern und Ländern in unserem Weihnachtsdeutschland:

Paulus als Jude schreibt zuerst eine Wahrheit, die heute viele Christen in Deutschland nach den Verbrechen an den jüdischen Nachbarn nie in den Mund zu nehmen wagen würden:

Paulus schreibt:

Christus - also der, dessen Geburt wir zu Weihnachten feiern - ist um der Wahrheit willen ein Diener an der Gemeinschaft geworden, deren Jungen und Männer beschnitten werden, also an den Juden!

Auch wenn wir - auch wir in unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern - das nicht so zu sagen mehr wagen, so stimmt das doch.

Christus ist für alle Menschen gestorben und auferstanden. Auch für seine eigene Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Juden.

Wir alle wissen, dass Jesus zeit seines Lebens Jude geblieben ist. Christus war und bleibt Diener zuerst seiner Gemeinschaft. Wenn also heute Menschen dieser Gemeinschaft nach Christus fragen sollten,

uns fragen sollten,

dann dürfen wir ihnen die Botschaft nicht vorenthalten,

dann müssen wir uns selbst und diesen so fragenden Juden Weihnachten aufschließen.

Wie?

Paulus schreibt: Um der Wahrheit Gottes willen; unser Übersetzung sagt: um der „Wahrhaftigkeit" Gottes willen.

Also: Der Gott, den unser jüdischer Gesprächspartner längst glaubt

- über nichtglaubende Juden denke ich jetzt nicht nach, sie sind wie alle anderen nichtglaubenden oder anderes glaubenden Menschen -,

also, der Gott, dem unser jüdischer Gesprächspartner dient,

auf den er hofft,

für den er lebt,

dieser tritt ihm nun durch den Jesus aus dem Dorfflecken Nazaret neu und entschieden entgegen.

Diese Bewegung haben wir zu bezeugen.

Nochmal: Wie?

Wir müssen hier ganz vorsichtig sein. Denn es gibt leider eine Tradition in christlicher Predigt und Verkündigung,

die macht das Jüdische erst schlecht, um dann eine hellstrahlende Christusverkündigung zu gestalten.

Die zeichnet unsere jüdischen Schwestern und Brüder zum Beispiel versklavt unter eine unbarmherzige Macht eines Gesetzes, gegen die sie dann die Liebe, die Christus verkündigt und gelebt habe, in Stellung bringt.

So geht es nicht!

Das Gesetz, die Weisung, die Thora zum Beispiel transportiert Befreiung, Identität, Lebendigkeit. Eine Gemeinschaft, die das Fest der „Simchat Thora", der „Freude an der Thora", der Freude an der Weisung feiert, muss anders angesprochen werden.

Und wieder falsch: Nicht „angesprochen werden", aber: ihr gegenüber „Rechenschaft gegeben werden", wenn aus ihr heraus gefragt wird.

Paulus zitiert in einem anderen Brief das Bekenntnis der frühen christlichen Gemeinden, die ganz aus früheren Juden gebildet waren,

dass sich Gott in Christus seiner selbst entäußerte (Philipper 2,7),

dass Gott,

dass der Schöpfer allen Lebens, aller Materie, des gesamten unvorstellbaren Kosmos,

in etwas Kleinem erkennbar wird

- das ist die Botschaft.

Sinnbildlich in vielen Kleinen.

Tatsächlich in dem Jungen der Weihnacht,

in dem Jesus aus dem Dorfflecken Nazaret,

in dem Hingerichteten am Kreuz.

Darüber ins Gespräch zu kommen, das wäre die eine Aufgabe.

 

Und nun die zweite Aufgabe:

Sie weist uns an uns selbst,

auch an uns als Deutsche,

an deutsche Staatsbürger verschiedenster Herkunftsnationen,

an unsere Gäste:

Auf sie, auf uns, tritt Gott auch, ja: nur (!) durch diesen Jungen aus dem Dorfflecken Nazaret entgegen.

Wie?

Paulus stellt eine ganze Reihe von biblischen Hinweisen zusammen. Der letzte ist mir wichtig, nur ihn habe ich gelesen:

In Jesaja 10 wird eine überraschende Hoffnung zum Ausdruck gebracht:

die Hoffnung auf einen neuen Nachkommen aus der Wurzel Isais,

d.h. aus dem Geschlecht, das David hervorgebracht hat.

Also aus einem Nachkommen dieses Geschlechts,

aber eben nicht als Nachkomme Davids,

sondern als überraschend Geborener aus einer längst vergessenen Nebenlinie, der keine direkte verwandtschaftliche Beziehung zu David hat, aber zu den Vorfahren Davids!

Und dabei weist Paulus auf einen Satz in seiner Bibel, einer von ihm damals verwendeten jüdischen Bibel hin, der aber gar nicht in der Bibel unserer jüdischen Nachbarn heute steht.

Auf den Nebensatz,

dass die Völker, dass die Nationen „hoffen" auf diesen Erwarteten,

nicht nur nach ihm „fragen", wie in unserer Bibel, die den hebräischen Text aufgenommen hat, steht.

Eigentlich aber müsste es - dem Hebräischen ganz entsprechend - heißen: dass die Völker ihn „suchen".

Das haben die Übersetzer ins Griechische zugespitzt und formuliert, dass die Völker auf ihn hoffen:

Mit diesem Nebensatz endet Vers 10 in Jesaja 11 in der griechischen Bibel, in der Septuaginta:

„... auf ihn werden Völkerschaften hoffen..."

Der also würde die Lösung der Konflikte, die Antworten auf die Fragen bringen.

Gemäß der Deutung durch Paulus muss ich zuspitzen:

eben auf den Jesus aus dem Dorfflecken Nazaret.

Hier sieht Paulus die Grundlage für unsere Hoffnungen. Und inhaltlich umschreibt er das Wesen dieses Menschen mit dem Begriff „Erbarmen", „Barmherzigkeit":

„die Völker aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen" (Vers 9a).

Das brauchen wir Menschen aus fremden Völkern ganz dringend, zum Beispiel wir Deutsche aus den Wäldern nördlich der Alpen - Ihr spürt eine gewisse Selbstironie.

Wenn wir das erfahren - Erbarmen, Barmherzigkeit durch die Nähe des Jesus aus Nazaret -, dann können wir sagen,

dass wir Weihnachten erleben.

Wir, die Nichtjuden, die von ganz anderen Voraussetzungen herkommen.

Nun mögen manche meinen, dass uns die Voraussetzungen hier vertraut sind, sind wir doch seit Jahrhunderten christlich sozialisiert - wie man heute so sagt. Aber diese traditionelle christliche Sozialisation hat eben einen starken, zum Teil sehr unterschwelligen, Antijudaismus in sich, und sie ist für viele von einer Säkularisation zugedeckt, erstickt, dass wir in gewissem Sinne wieder ganz neu anfangen müssen.

Dieser Aufgabe des neu anfangen Müssens wollen wir uns stellen.

Gerade an diesem Punkt unseres Nachdenkens ist es wichtig, dass wir begreifen, dass Paulus das Erbarmen, die Barmherzigkeit anspricht. Sie, und nur sie, ist der Grund, dass wir Fernen Gott loben.

Beginnen wir doch zur Adventszeit des Jahres 2011 damit, dass bei uns - mitten in der Kirche - Weihnachten zu einem Fest der Barmherzigkeit wird.

Fragen wir uns: Wo bin ich rechthaberisch unbarmherzig?

Gerade als älterer Mensch - der ich ja nun auch schon bin -: Wo poche ich auf meine Lebenserfahrung und leite daraus Maßstäbe ab, die andere, jüngere, nur versklaven können?

In welchen Beziehungen kann ich - ich sage nicht: soll ich (!) -, kann ich Barmherzigkeit leben?

Ich meine:

Indem ich mich auch ein wenig entäußere.

Ein wenig das tue, was Gott in Jesus für uns getan hat.

Indem ich Erreichtes und Gewonnenes loslasse.

Indem ich klein werde.

Vor einiger Zeit hat eine Vierjährige mit mir gespielt. Und plötzlich hat sie mich als ihr „Söhnchen" angesprochen, als ihren ñûíîê - die Vierjährige redet Russisch. Da habe ich brav diese Rolle gespielt und ihr gehorcht: Auf ein Sofa gelegt und geschlafen, auf Befehl hin wieder aufgestanden und mit hinaus auf den Hof gegangen, dann wieder hinein in das Zimmer mich Schlafen gelegt, auf Aufruf hin sogleich aufgestanden und wieder an ihrer Hand hinausgelaufen. Gewiss, das war ein Spiel. War es nicht aber auch ein Bild für das, wozu uns Weihnachten befreit? „Söhnchen", „Töchterchen" zu werden!

Amen.



Generalsekretär Dr. Rainer Stahl
91054 Erlangen
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de

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