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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag im Advent, 11.12.2011

Predigt zu Römer 15:4-13, verfasst von Siegfried Krückeberg

 

Liebe Gemeinde!

In einer Grundschulklasse: Till und Philipp, die beiden Streithähne, stehen sich gegenüber. Den Blick nach unten gesenkt. Jetzt geben sie sich die Hand. „Entschuldigung", sagt Till. Und dann murmelt Philipp: „Tut mir auch leid!" Die Lehrerin ist erleichtert. Es war nicht einfach, die Beiden dazu zu bringen. Sie waren so wütend aufeinander. Sie hatten sich beschimpft und geprügelt. Nur mit viel Mühe konnte sie die Beiden voneinander trennen. Dann, als sie sich endlich beruhigt haben, konnten sie erzählen, wie es zum Streit gekommen ist, jeder aus seiner Sicht. Im Gespräch haben sie dann erkannt, was sie falsch gemacht haben. Jetzt sagt die Lehrerin: „Schaut euch ins Gesicht. Ihr müsst euch ansehen, damit der andere weiß, ob ihr es wirklich ehrlich meint mit der Entschuldigung."

Den anderen um Verzeihung bitten, ihm die Hand zur Versöhnung ausstrecken, das kann sehr schwer sein. Gerade bei Kindern, die das Gefühl haben: Ich muss mich behaupten. Ich muss zeigen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse, dass ich der Stärkere bin. Aber so geht es nicht nur Kindern. Wer setzt sich durch? Diese Frage stellt sich in vielen Bereichen: im Verein, in der Jugendgruppe, am Arbeitsplatz, unter den Kollegen, in der Familie, aber auch was die Religion angeht. Wer ist stärker? Islam oder Christentum? Welche Konfession hat in unserer Stadt die Nase vorn? Evangelische, Katholiken oder Freikirchen? Oder in unserer Kirchengemeinde. Wenn darüber diskutiert wird, wofür wir unser Geld ausgeben, welche Projekte wir fördern wollen, wo der Schwerpunkt unserer Arbeit liegen soll oder wann wir unsere Gottesdienste feiern?

Wie soll man sich entscheiden, wer setzt sich durch? Jetzt denken Sie vielleicht: das ist doch ganz einfach. Schließlich haben wir eine Demokratie. Zuerst reden wir, tauschen unsere Meinungen aus, dann wird abgestimmt, und wer dann die meisten Stimmen bekommt, hat gewonnen. Klare Regeln also. Ja, das stimmt. Aber oft ist es so, dass sich nicht alle an die Beschlüsse halten.

Solche Konflikte hat es schon in den ersten christlichen Gemeinden gegeben. Zum Beispiel in Rom. Da standen sich zwei Gruppen gegenüber. Die einen haben Fleisch gegessen, die anderen nicht. Und wenn man sich auf dem Markt begegnet ist, dann hat sich das so oder so ähnlich angehört:

„Hallo Lydia!" „Hallo!" „ Ich hab gesehen, du hast gerade Fleisch gekauft." „Ja, bei diesem Händler dort ist es immer besonders gut!" „Aber du weißt doch ganz genau, dass wir dieses Fleisch nicht essen dürfen!" „Ach, das ist für uns Christen doch längst überholt!" „Nein, das gilt immer noch, auch wenn wir glauben, dass Jesus der Messias ist, sind wir doch immer noch Juden, also müssen wir die Speisevorschriften auch einhalten!" „Maria, wenn du wirklich an Christus glauben würdest, dann würdest du darauf vertrauen, dass Gott uns frei gemacht hat. Das ist die richtige Einstellung. Freiheit vom Gesetz, nicht eure kleinliche, ängstliche Befolgung von irgendwelchen Regeln, völlig veraltet ist das!"

Da gab es also ganz unterschiedliche Meinungen, was das Befolgen der alten Gesetze anging. Vielleicht war die Gemeinde sogar kurz davor, sich zu spalten. Damit es nicht dazu kommt, schreibt Paulus im Römerbrief, Kapitel 15, Verse 4-13, Folgendes:

TEXT

„Seid einmütig, sprecht mit einer Stimme, denkt aneinander, miteinander und füreinander, nehmt den anderen an!" Schöne Worte. Aber wie kann man dieses Ziel erreichen? Aber um einen Streit zu schlichten, reicht das nicht aus. Genauso wenig, wie wenn man versucht, ein Machtwort zu sprechen. Das wirkt dann vielleicht eine kurze Zeit, aber danach ist alles wieder wie früher. Paulus muss Wege aufzeigen, die die Gemeinde gehen kann, damit der Streit aufhört.

Das Erste ist: er erinnert an das, was allen gemeinsam ist: die gemeinsamen Wurzeln, die Überlieferungen. Darin steht, wie Gott sein Volk ausgewählt und groß gemacht hat, also die Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob. Wie er das Volk aus der Sklaverei geführt hat, in ein neues Land - durch Mose. Und wie er sein Volk weiter begleitet, ihm Könige gegeben hat und Propheten. Gott war geduldig, wenn das Volk ihn vergessen hat, er hat es getröstet in Niederlagen, wenn die Lage ausweglos erschien, und er hat ihm immer wieder Hoffnung gegeben. So wie ein guter Vater das macht oder eine gute Mutter. Daran erinnert Paulus die Gemeinde in Rom. Und er sagt: diese Liebe gilt allen Kindern, auch denen, die später dazu gekommen sind.

Das ist ja das Faszinierende bei Eltern mit mehreren Kindern. So erlebe ich das jedenfalls in der eigenen Familie. Wir Kinder können noch so unterschiedlich sein, die Eltern lieben jedes Kind, so wie es ist. Sie lieben uns einfach, weil wir ihre Kinder sind. Und das ist das Verbindende, das ist die Basis für ein gutes Verhältnis untereinander. Weil sich jeder letztlich gleichwertig und gleich geliebt fühlt. Das hilft auch im Konflikt mit Bruder oder Schwester nachsichtiger zu sein, mal nachzugeben, Rücksicht zu nehmen, die Stärken des anderen anzuerkennen und seine oder ihre Schwächen zu ertragen.

Und dafür, so Paulus weiter, hat Gott uns ein Vorbild geschickt: seinen Sohn. Der soll uns zeigen und noch mal bestätigen, wie Gott sich das gedacht hat mit dem Verhältnis zwischen ihm und den Menschen und dem Verhältnis der Menschen untereinander. Sein Vorbild besteht darin, dass er dient. Er wird in einer Krippe geboren, muss fliehen, kommt auf einem Esel daher, wird verraten und stirbt am Kreuz. Das macht er für uns Menschen, für Juden, Muslime oder die, die an gar nichts glauben. Für alle. Ja, der ist wirklich stark, wer anderen dienen kann. Nicht weil er dazu gezwungen wird, sondern freiwillig, weil ihm das Wohl der anderen so wichtig ist, dass er eigene Interessen zurückstellt. Wer seinen Besitz, seine Fähigkeiten, sein Wissen und seine Beziehungen nicht nur für sich selbst benutzt, sondern sie als Gabe ansieht, die er anderen zur Verfügung stellt, die sie dringend brauchen, der ist wirklich stark. Weil er nicht nur für sich selbst Verantwortung übernimmt, sondern auch für die, die schwächer sind.

Wer stark ist, kann verzichten: auf Selbstbehauptung, Rechthaben und Macht. Aber, liebe Gemeinde, manchmal laden sich die scheinbar Starken auch zu viel auf oder sie lassen sich zu viel aufladen. Dann besteht die Gefahr, dass sie zusammenbrechen, auch unter der Last der Ansprüche an sich selbst. Sie brauchen dann Unterstützung, und sei es nur durch Zuhören, Mitdenken und Beten. So wie Jesus seine Jünger im Garten Gethsemane gebeten hat, doch zumindest wachzubleiben und mit ihm zu beten.

Sich auf die Gemeinsamkeiten besinnen und einander dienen - mit dieser Einstellung, meint Paulus, können wir unsere unterschiedlichen Auffassungen aushalten, egal was es auch betrifft: den angemessenen Lebensstil, politische Entscheidungen oder wie wir unseren Glauben richtig leben. Und dann ist da noch ein Drittes, was im Streit helfen kann: eine gemeinsame Hoffnung, ein gemeinsames Ziel, eine Vision. Paulus beschreibt das mit dem Bild von der Wurzel, die sich aufrichtet.

Es ist für mich ein Symbol dafür, dass etwas Neues entstehen kann, wo wir es nicht für möglich gehalten haben. Dass aus vermeintlicher Schwäche Stärke wird. Dass sich Ärger und Zorn in Milde und Nachsicht wandeln, dass aus tödlichem Hass Liebe wird. Ich weiß: im Alltag fallen immer wieder in unsere alten Verhaltensweisen zurück. Es ist eben ein ständiger Prozess, ein Auf und Ab. So wie bei Philipp und Till, von denen ich Ihnen erzählt habe. Für dieses Mal haben sie es geschafft sich zu versöhnen. Aber es wird wieder Streit geben und sie werden weiter daran arbeiten müssen. Mit Hilfe ihrer Lehrerin und mit diesem Ritual, dass sie sich die Hand geben und dabei in die Augen blicken. Auch wir brauchen Hilfe: den Heiligen Geist. Nur mit seiner Kraft können wir stärker werden, durch ihn können wir unsere und die Schwächen anderer annehmen und die Balance finden zwischen dem Wunsch nach Geborgenheit und dem Bedürfnis nach Freiheit. Durch ihn können wir respektvoll miteinander umgehen, auch mit Andersdenkenden, müssen nicht selbstgerecht auf der eigenen Meinung beharren, sondern können die Überzeugungen und die Gefühle des Gegenübers achten. Diese Kraft, die dazu nötig ist, um die können wir immer wieder bitten, gerade auch hier in diesem Gottesdienst.

Amen.



Pfarrer Dr. Siegfried Krückeberg
Hanau
E-Mail: medio.ffm@ekkw.de

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