Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christnacht, 24.12.2011

Predigt zu Lukas 2:10, verfasst von Jennifer Wasmuth

Liebe Gemeinde,

was unterscheidet diese Nacht von allen Nächten? Was macht diese Nacht zur stillen, zur heiligen Nacht?

Es gibt Nächte, dunkle, finstere Nächte, in denen sich Angst und Verzweiflung um und in uns ausbreiten. Was am Tage klein war, wird in solchen Nächten übermächtig. Sorgen lassen sich nicht mehr klein reden, sie nehmen von uns Besitz; das Herz schlägt bedrohlich schneller, bis zum Hals pochen dumpf die Töne hinauf. In diesen Nächten werden wir von einer Todesahnung heimgesucht, die alle Müdigkeit verscheucht und mit banger Ungeduld den Anbruch eines neuen Tages herbeisehnen lässt.

Es gibt Nächte, die vom Schmerz beherrscht sind - vom eigenen Körper, der sich nach Ruhe sehnt, dem aber gerade das Liegen zur Qual wird; von der eigenen Seele, die Abschied nehmen muss - von unwiederbringlich gemeinsamer Zeit, von geteiltem Glück, von inniger Zweisamkeit. In diesen Nächten sind wir schutzlos, Tränen fließen ungehemmt; der Kummer, den wir sonst tapfer und gut verschlossen mit uns herumtragen - in diesen Nächten kennt er keine Schranken, bricht sich ungehindert Bahn.

Es gibt aber auch Nächte, die - ganz im Gegenteil - hell und leuchtend sind, Nächte wie Tage, voller Musik und Tanz, ein Rausch, der uns die Dunkelheit der Nacht und allen Trübsinn unseres Lebens vergessen lässt: In diesen Nächten fühlen wir eine Leichtigkeit, die keine Beschwernis kennt, eine Lebendigkeit, die uns mitreißt - einer nicht enden wollenden Zukunft entgegen. In diesen Nächten tauchen wir in ein Flutlicht ein, das jede Finsternis vertreibt.

Die stille, heilige Nacht: sie weiß von diesen Nächten, von den dunklen, finsteren ebenso wie von den hellen, rauschhaften:

Sie weiß von der Angst und dem Zittern der Hirten, von ihrer Einsamkeit auf dem Felde; sie kennt ihr Erschrecken vor der Zukunft, ist sich ihrer Trostbedürftigkeit bewusst. Sie weiß, dass die Hirten Zuspruch brauchen, ein starkes »Fürchtet euch nicht!« (Lk 2,10)

Diese Nacht - sie weiß auch um die Grausamkeiten von körperlichem und seelischem Schmerz: sie kennt die Entbehrungen, die Maria und Josef auf sich nehmen, die sich auf eine beschwerliche Reise begeben, um in Bethlehem, heimatlos und ohne Herberge, das neugeborene Kind in eine schlichte Futterkrippe zu legen.

Diese Nacht - sie weiß darüber hinaus auch um die schrecklichen Folgen politischer Machtgier, das unendliche Leid, das Menschen zugefügt wird, weil sie eine Gefährdung eigener Interessen darstellen: Sie kennt den abscheulichen Befehl des Herodes, alle Kinder in Bethlehem und in der ganzen Umgebung zu töten, die zweijährig und darunter sind: zu töten, damit Herodes auch in Zukunft, ungestört von einem gerade erst geborenen König der Juden, weiterregieren kann.

Aber auch von der Glitzerwelt weiß diese Nacht - von funkelnden Perlen, glänzenden Gewändern: Die Weisen aus dem Morgenland folgen dem Stern und lassen in ihrer königlichen Erscheinung die Finsternis vergessen. Schätze tragen sie vor sich her, Gold, Weihrauch und Myrrhe - ein wahres Fest für müde gewordene Sinne.

Die stille, die heilige Nacht, sie weiß von jenen anderen Nächten. Aber das macht sie nicht aus. Sie ist anderes und mehr, sie birgt ein großes Geheimnis in sich, dem wir uns nur tastend nähern können, auf leisen Sohlen, flüsternd und staunend, mit unverstelltem Kinderblick.

In der Mitte dieser Nacht bricht ein kleines Licht in die Dunkelheit ein, und wir werden hineingenommen in eine Geschichte: Die Geschichte ist so unglaublich, dass sie immer wieder, alle Jahre wieder, erzählt werden will; sie ist so gewaltig, dass sie nur im Flüsterton erzählt werden kann.

Die Geschichte reicht weit zurück, in Zeiten und Orte, fern von uns heute. Bereits in Israel gab es eine Ahnung davon. Der Prophet Jesaja verkündet, Gott selbst werde ein Zeichen geben: »Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.« (Jes 7,14)

Immanuel - das heißt: Gott mit uns. Immanuel - mit Maria wurde eine Jungfrau schwanger, sie gebar einen Sohn, mitten in der Nacht. Und mit der Geburt dieses Kindes sollte sich alles ändern, denn wer an der Krippe stand und das Kind sah, erkannte: Immanuel, Gott mit uns!

Seither haben viele zu dieser Krippe gefunden, haben sich hinter die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland gereiht. Seither standen viele dort und waren gebannt von diesem kleinen Kind, in dem Gott uns zum Greifen nahe kommt. Sie vergaßen alles um sich herum; Fragen nach der eigenen Macht und Geltung, nach eigenem Besitz und Vermögen verstummten. In dem Kind, das sie dort lagen sahen, erkannten sie die Verheißung einer neuen Zukunft, das Versprechen eines Lebens, das sich von Gott angenommen weiß.

Es standen viele dort an der Krippe, immer wieder auch Menschen, die sich abwandten - die der Verheißung gerne geglaubt hätten, sich aber dazu angesichts eigenen oder fremden Elends nicht in der Lage sahen. Es standen dort Menschen, die andere Wege gingen, weil sich für sie die Geschichte des Immanuel, des Gott mit uns, angesichts der Spielregeln unserer Welt wie ein Märchen für die ganz Kleinen unter uns ausnahm. Auch standen dort Menschen, die eine Zeitlang ganz nah dran waren, sich entfernten, um sich dann doch wieder zu nähern - weil sie in der Krippe etwas fanden, was es sonst nirgendwo gab.

Heute reihen wir uns ein, sehen auf die Krippe, hören die Geschichte von dem Immanuel: heute feiern wir die stille, die heilige Nacht.

Und so liegt es nun vor uns, das große Geheimnis, das Versprechen, dass wir endlich ankommen können - dass das Warten ein Ende hat, die Adventszeit ihre Erfüllung findet: dass wir nicht mehr Getriebene sind, nicht mehr Verärgerte, nicht mehr Geängstigte, Verzweifelte; dass hier ein Kind auf uns wartet, bei dessen Anblick wir innerlich ruhig werden, Frieden mit uns selbst und der Welt finden; dass wir eine Wärme erfahren, die uns inmitten unserer unbehausten Existenz ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt; dass ein Licht aufscheint, das uns in unsere noch dunkle Zukunft hinein einen sicheren Weg weist. Das ist das Versprechen auch heute - das Versprechen der stillen, der heiligen Nacht. Amen.

 



Dr. Jennifer Wasmuth
Berlin
E-Mail: wasmuthj@cms.hu-berlin.de

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