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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31.12.2011

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 13:20-22, verfasst von Ralf Hoburg

Im Leuchtfeuer den Weg sehen...

I

Wege des Dunkeln

Orte, an denen man sich überhaupt nicht auskennt, haben etwas Unheimliches und Situationen, die man ganz und gar nicht überblicken kann, meidet jede und jeder von uns so oft es nur geht.  Es gibt manchmal Strecken und Straßen,  die machen mir Angst. Nachts allein unterwegs mit dem Auto wird die Dunkelheit nur von einem schmalen Lichtkegel des Scheinwerfers durchbrochen. Im Winter ist diese Dunkelheit der Straße pechschwarz und bei Überlandfahrten mit unbekannten Wegegabelungen und Kurven sieht man nur wenige Meter nach vorne. Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der in solchen Situationen gerne das Autoradio ein bisschen lauter stellt und bei bekannten Songs mitsingt zwischen angespannter Konzentration etwas zu sehen und ein bisschen bangem Herzen. Und nicht selten verspüre ich ein Aufatmen, wenn ich die Lichter der Stadt sehe und  in die Straße einbiege, in der ich wohne.  Dann löst sich die innere Anspannung und ich sage mir: „Wieder einmal heile angekommen“. Das Unheimliche der Situation drängt auf Auflösung und Überwindung. Kinder suchen in solchen Momenten gerne Schutz an der Hand ihrer Eltern. Bei Nachtwanderungen auf Konfirmandenfreizeiten musste ich dann immer vorne an der Spitze gehen, um Sicherheit im Unwägbaren zu vermitteln.  

Ein bisschen wie auf der Autofahrt in der Nacht geht es mir am Ende eines Jahres. Wenn das Jahr beginnt, kennt man noch nicht die Kurven und Hindernisse, die auf dem Weg von 365 Tagen liegen auch wenn das Leben meistens in ruhiger Kontinuität von einem Jahr in das andere hinübergleitet.  Und zum Ende des Jahres wünscht sich jede und jeder nichts sehnlicher als sagen zu können: „Heile angekommen“.  Aber wie es Unfälle auf der Straße gibt, so auch Schicksalsschläge im Leben Vieler, die nicht vorhersehbar waren und plötzlich das Leben von einer Sekunde zur anderen verändern können. Das deutsche Sprichwort drückt es klar aus: „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“.  Das zu Ende gehende Jahr 2011 birgt diese Momente des „Heile Ankommens“ ebenso in sich wie die Schicksalsschläge im Leben Einzelner. Insoweit spiegelt es die Wechselfälle des Lebens und hat nichts Außergewöhnliches an sich. 

Aber darüber hinaus hat mir dieses Jahr 2011 wie vielleicht nur wenige in meinem bisherigen Leben auch Angst gemacht. Nach der Fragilität und Brüchigkeit des Weltfriedens im Jahr 2001, wie sie durch das Datum des 3. September 2001 der Welt vor Augen geführt wurden, sehen wir genau zehn Jahre später nicht um die nächste Kurve und können nicht wissen, ob im kommenden Augenblick das Weltwirtschaftssystem zusammen bricht. Das Starren auf die Börsen und die Hoffnung auf permanente Rettungsschirme hat etwas Unheimliches, denn wie bei einem Fallschirm besteht auch bei den Rettungsschirmen die Gefahr, dass sie sich nicht öffnen. Wenn ich zurückblicke auf das Jahr 2011, so ist bei mir etwas kaputt gegangen wie bei einem Kind der Glaube an den Weihnachtsmann. Mein Vertrauen ist weg! Der Vertrauensverlust in den Berufsstand der Politiker ist so groß in der Bevölkerung wie nie zuvor und damit wird die Demokratie in Zukunft auch ein Stück weit fragiler. Ich weiß nun durch das Jahr 2011 mehr als vorher, dass es niemanden mehr gibt, der den Weg kennt – weder vor noch zurück. Es gibt ein Kinderbuch über den Däumling, der im Wald einen Faden spannt um den Weg aus der Dunkelheit zu finden. Wer spannt heute den Faden und zeigt im Dunkeln mit der Taschenlampe nach vorne, um den Weg auszuleuchten? Das Jahr 2011 – es war für mich ein kleines Stück Weg mehr in die Dunkelheit der Zukunft in unserer Gesellschaft hinein. Und wie passend zum Weihnachtsfest: Die Zahl von 12 Millionen Menschen in unserem Land, die von Armut bedroht sind – es ist eine Zahl, die so klebrig ist wie ein Kaugummi, das auf der Straße klebt und nun nicht mehr vom Schuh abgeht. Seit Jahren bewegt sich in dieser Hinsicht nichts. Mir scheint als sei die Gesellschaft dieser Tage wie das Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste. Aber wer leuchtet den Weg voran? Oder wird die Dunkelheit immer größer? Aber: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – so sagte es der Philosoph Theodor W. Adorno.

II

Gottes Leuchten bei Tag und bei Nacht

Das Volk Israel kennt diese Angst, die ich beschrieben habe, und diese Unheimlichkeit eines unsicheren Weges. Die Angst zählt geradezu zu den Identitätsmerkmalen dieses Volkes, das in der Geschichte unendliche Male beschimpft, getreten, verfolgt und vernichtet wurde. Und es stand immer wieder auf, hielt auch die nicht beschreibbare Dunkelheit von Auschwitz und Buchenwald aus und wandert weiter durch die Wüste mit der festen Vision vor Augen, einstmals das gelobte Land zu erreichen. In diesem Jahr war ich mit einer Gruppe Studierender auf einer Exkursion im Jordantal und habe das innere Aufatmen aller gespürt, dass inmitten von sengender Hitze und Kargheit grüne Oasen auftauchen. Das grüne Land – in den arabischen Ländern mit permanenter Wasserknappheit ist das das „gelobte“ Land.  Es heißt in der Sprache der Bibel das Land, darin „Milch und Honig fließt“ (Ex. 13,5).

Das biblische Volk Israel, das uns hier im Predigttext als das Volk, das aus Ägypten auszieht vorgestellt wird, sucht einen Ausweg aus der Knechtschaft in Ägypten. Auch wenn es das eine Volk Israel nach Auffassung der Bibelwissenschaftler beim Auszug aus Ägypten und dem Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 14) nicht als geschlossene Volksgröße, sondern nur als eine kleine soziologische Gruppe gegeben hat, so ist eines deutlich: Die Menschen, die die Knechtschaft in Ägypten erlebten, wollten ausbrechen aus der Enge eines Systems, das voller Plagen war (Ex 7-11) und das aus dem Ruder zu laufen drohte. Wer waren diese Menschen, die wir als Israel zu dieser Zeit bezeichnen? Allem Anschein nach waren es Menschen unterschiedlicher kultureller und ethnischer Herkunft, die am Rande der etablierten ägyptischen Gesellschaft eine kleine Minderheit waren. Ihre Einheit stellte der Glaube an einen Gott dar, der in Israel später als Gott JHWH verehrt wurde und sich aus unterschiedlichen regionalen Gottheiten  zusammensetzte. Ihre Stärke war die Tatsache, dass sie jemanden hatten, der wusste, wo’s langgeht. Mose hatte den „Masterplan“ oder den „Rettungsschirm“, der in die Zukunft führen konnte.      

Und so zieht die Karawane los. Wahrscheinlich zu Fuß durch die Wüste mit seltsam anmutendem Beigepäck: Einem tragbaren Zelt, unter dessen Schutz sich die Heilige Lade und die Tora befindet und – einer katholischen Prozession vergleichbar – Zeichen der Erkennbarkeit. Die äußeren Merkmale dieses Zuges bilden die Wolkensäule am Tag (Ex 13,21), die vorweg zieht und den Weg weist und die Feuersäule bei Nacht, die die Dunkelheit aufhellt. Dieses Bild ist beeindruckend und man fragt sich, wie berühmte Maler der Kunstgeschichte wie Marc Chagall, Emil Nolde oder Paul Klee dieses sprachliche Bild visuell umgesetzt hätten. Gottes Gegenwart ist in Wolke und Feuer gehüllt. Die Wolke verhüllt und zeigt an, dass er da ist. Damit nimmt der Text Stilelemente der Gottesoffenbarungen um den Propheten Mose auf, denn auf dem Berg Nebo hüllt sich Gott vor Mose in einer Wolke und bei der Offenbarung seines Namens in Ex 3,13 zeigt sich JHWH in einem brennenden Dornbusch.  Die Aussage ist deutlich und bedarf keiner tiefsinnigen theologischen Interpretation: Gott ist da!  In den Psalmen findet sich in Psalm 121 ein Vers, der diese Anwesenheit als Schutz und Behütung beschreibt: „Der dich behütet schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.“ In der Dunkelheit ist diese Erkenntnis Garantie der Sicherheit. Wer es einmal erlebt hat, eine Nacht in der Wüste zu verbringen, weiß etwas von der potentiellen Schutzlosigkeit, die einen dort innerlich beschleichen kann. Und dann hilft auch der Gedanke nur begrenzt, dass es ja Autos und Mobiltelefone in der heutigen Zeit gibt. Die Macht der Natur umfängt uns Menschen dort anders als hier, elementarer und unmittelbarer. Ich kann die Sehnsucht Israels nach einem Hüter nachvollziehen. Und es ist die Stärke Israels, dass es das Vertrauen auf sicheres Geleit durch die Zeiten ebenso wenig aufgegeben hat wie die Hoffnung auf das Reich Gottes im gelobten Land. Aber es ist die Schwäche Israels, dass sich auf diesem ellenlangen Weg durch die Wüste mit Wolken- und Feuersäule Panzerspuren und verbrannte Erde und ein Geist der Zwietracht hinzu gemischt haben und kein dauerhafter Frieden im Nahen Osten zwischen Juden und Palästinensern am Horizont erscheint.      

III

Durch Umwege zum Ziel

Wie viele Umwege muss man im Leben gehen? Der Umweg gehört zum Weg, denn erst im Nachhinein weiß man ja, dass der gewählte Weg ein Umweg war.  In Ex 13,18 heißt es: „Darum ließ er das Volk einen Umweg machen und führte es durch die Wüste zum Schilfmeer“. So läuft Israel – von Mose im Auftrag JHWH’s geführt – einen Umweg zum Schilfmeer. Bibelwissenschaftler sind seit Jahrzehnten dabei diesen Weg Israels historisch zu verifizieren, um die Stelle lokalisieren zu können, an der dieses „Schilfmeerwunder“ sich vollzogen hat. Aber unabhängig von der historischen Frage stellt sich hier die Sinnfrage: Wozu sind Umwege gut? Deutet man die Erzählung vom Schilfmeerwunder aus theologischer Sicht, dann ist das Ziel der Glaube. Mehr als sonst ist man – wenn man Umwege geht – auf Vertrauen angewiesen. Ist es richtig was man tut oder hätte man doch vielleicht anders und auf direktem Wege das Ziel ansteuern sollen? Eines ist jedenfalls klar: Israel vertraut Mose und glaubt damit Jahwe. Der Umweg kann die Identität als Gruppe stärken und vielleicht anders als auf dem direkten Weg das Ziel fester focussieren.

Mir fallen historische Parallelen ein, die durch Umwege das Ziel vor Augen deutlicher machen. Vor ein paar Tagen starb der Ex-Präsident Tschechiens, Vaclav Havel. Durch die Fernsehbilder des riesigen Trauerzuges in Prag hindurch sah ich vor meinem inneren Auge Gesichter von Schwestern und Brüdern aus der Kirche der Böhmischen Brüder, die als unterdrückte religiöse Minderheit bis 1990 wie viele Christen auch in der ehemaligen DDR eine gewisse Form ägyptischer Knechtschaft erlebt hatten. Auch wenn die Kirche der Böhmischen Brüder heute sehr klein ist wie die Protestanten in vielen europäischen Ländern, so strahlen für mich die Böhmischen Brüder doch nach dem 40-jährigen Umweg heute eine heitere Gelassenheit inmitten eines säkularen Umfeldes aus, die Mut macht.  Wie in Israel führte auch der Umweg des Sozialismus die Christinnen und Christen in Mittel- Osteuropa zu einem vertieften Befreiungserlebnis. Wahrscheinlich lehne ich mich jetzt zu weit aus dem Fenster, aber mir scheint, dass die Volkskirche hierzulande einen Umweg bitter nötig hat und dringend eine Schilfmeererfahrung braucht, um sich von der nach Ägypten folgenden babylonischen Gefangenschaft kirchlicher Verengung und Fixierung auf die Finanzierbarkeit der Arbeit zu lösen. Ein Ev. Kirchentagslied der 70er Jahre besingt es geradezu: „Wenn das Rote Meer grüne Welle hat, dann ziehen wir frei...“  Ist das Modell der Volkskirche ekklesiologisch sakrosankt? Wo ist die protestantische Freiheit der Kirche inmitten von Pastorendünkel und Stellenschacherei geblieben?  Es gab nach 1945 auch aus der Tradition der Bekennenden Kirche Stimmen wie die von Hermann Diem, die das Landeskirchentum mit seiner bleibenden Synthese von Thron und Altar ablehnten und stattdessen eine „Gemeinde unter dem Wort“ wollten. Die Kirche redet heute viel über „Leuchtfeuer“. Aber sehen die, die Verantwortung tragen im schmalen Lichtkegel noch den Weg oder sind die Sinne vom Rauch nach dem Feuer vernebelt? Erlebt die Kirche derzeit eine kollektive Wüstenillumination einer bloß „erträumten Realität“? In einer EKD-Synode allen Ernstes 430.000 Mitarbeitern der Diakonie das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Streik verweigern zu wollen – das ist inmitten einer Zivilgesellschaft kühn! Es zeigt die Wege des Dunkeln und den gravierenden Verlust des Vertrauens, der mich in diesem Jahr massiv beschleicht. Ich zweifele, ob der Vers aus Ex 13,22, der für das Volk Israel auf ewig gilt, auch für die Kirche noch gilt: „Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk noch die Feuersäule bei Nacht“.    

Ich denke in der heutigen Sylvesternacht bei den Millionen Feuerwerkslichtern in mehrfacher Hinsicht an die „Feuersäule“, die im Buch Exodus beschrieben steht. Das Licht leuchtet in der Dunkelheit und verbürgt die Anwesenheit Gottes mitten unter uns. Die bunten Lichter der Raketen, die in den Himmel geschossen werden, leuchten in der Nacht und sind ein Angeld des Lichtes, das am Neujahrsmorgen wieder über uns allen aufgeht. Der Bibeltext Ex 13,20-22 verheißt: Gott ist da... ! Das ermuntert mich, mich auf den Weg von neuen 365 Tagen zu machen und ich weiß, dass da schöne Momente und weniger schöne zu bewerkstelligen sein werden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie heile ankommen im Jahr 2012 und auch Sie der Schutz Gottes durch das Jahr leiten möge. Und ich hoffe für die Kirche, dass sie zurückkehrt aus dem Glauben an die Macht  unter den Schutz der Wolkensäule, die die Anwesenheit Gottes verspricht. Vielleicht sind Umwege nötig – um klarer wieder auf den rechten Weg zu kommen. Gottes Leuchtfeuer wird dringend gebraucht, um im Lichtkegel den Weg zu finden. Der Text aus Ex 13,20-22 gibt die Gewissheit, dass JHWH den Weg kennt. Das ist viel wert und gibt Hoffnung in dürftiger Zeit.

 



Prof.Dr. Ralf Hoburg
Hannover
E-Mail: Ralf.Hoburg@fh-hannover.de

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