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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 29.01.2012

Predigt zu Matthäus 5:17-20, verfasst von Martin Honecker

 


Bessere Gerechtigkeit

Nicht nur der Ort dieses Gottesdienstes in einem Hörsaal ist ungewöhnlich. Auch der Predigttext hat es in sich. Die paar Verse gehören nämlich zu den schwierigsten im ganzen Matthäusevangelium. Zudem sind die einzelnen Worte, Logien, verschieden und vermutlich unterschiedlicher Herkunft. Allerdings stehen sie im Evangelium an prominenter Stelle. Sie sollen nach der Sicht des Matthäus Auskunft geben über die Stellung Jesu zum Gesetz und zum Judentum. Aber das ist so allgemein formuliert, dass recht unterschiedliche Deutungen möglich sind. Und dazu nun noch das Stichwort „bessere Gerechtigkeit“. Die Überschrift stammt von mir, also muss ich mich dazu äußern. Das will ich auch versuchen. Dabei türmen sich jedoch erhebliche Schwierigkeiten auf, die ich in drei Schritten angehen will.


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Da ist zunächst einmal das Wort Gerechtigkeit. Ich habe vor meiner Zur-Ruhe-Setzung das Fach Ethik in der Lehre vertreten. Dabei kommt man am Wort Gerechtigkeit gar nicht vorbei.
In meinen Anfängen als Dozent in Tübingen hatte ich im Fach Ethik zu prüfen. Einmal stand ein Prüfling im Verdacht, in der Klausur geschummelt zu haben. Mein Mitprüfer meinte: den müssen wir scharf prüfen; also fragen wir ihn, was Gerechtigkeit ist.

In der Tat, wenn man jemanden fragt, was Gerechtigkeit sei, kann man ihn in Verlegenheit bringen. Unter Philosophen kursiert die Redewendung: Niemand weiß, was Gerechtigkeit ist, „nobody knows, what justice is“. Einem mittelalterlichen Papst wird ein Ausspruch zugeschrieben, mit dem er einem Bescheid gab, der sich über ihm widerfahrene Ungerechtigkeit beklagte: „Auf Erden gibt es eben Ungerechtigkeit, im Himmel herrscht Liebe, aber vollständige Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle.“

Es gibt bislang keine allgemein akzeptierte Definition, was überhaupt Gerechtigkeit ist. Im Zusammenleben von Menschen, in der Gesellschaft, ist das Reden von Gerechtigkeit so unscharf wie das Thema Wahrheit in der Wissenschaft. Ein reflektierter Wissenschaftler spricht doch nicht davon, seine Forschungsergebnisse seien wahr, sondern er sagt lediglich, sie seien richtig, nachprüfbar, einsichtig, anerkannt. Und einem Richter wird nachgesagt, er habe einem Prozessbeteiligten auf seinen vorwurfsvollen Ausruf „Ich will Gerechtigkeit!“ geantwortet: „Hier bekommen sie nur ein Urteil“, d.h. nicht unbedingt Gerechtigkeit. Wenn ein Urteil so ausfällt, dass die Beteiligten und Betroffenen damit leben können, dann ist es gut. Deshalb habe ich, je älter ich wurde, desto mehr auf eine Definition von Gerechtigkeit verzichtet.

Natürlich weiß ich, dass es Begriffe, Kriterien und Theorien der Gerechtigkeit gibt. Dazu kann man viel sagen, aber jeder versteht dann, warum es so schwierig ist, eindeutig zu sagen, was Gerechtigkeit ist. Man kann folglich von Gerechtigkeit nur in der Mehrzahl, im Plural sprechen. Dafür gibt es entsprechende Worte, Äquivalente, wie beispielsweise Gleichheit, Gleichbehandlung, Fairness, Ermöglichung von Teilhabe, Inklusion. Und es gibt Näherbestimmungen von Gerechtigkeit, die zugleich Maßstäbe, Kriterien angeben, anhand derer zu bemessen ist, was gerecht ist. Ich nenne nur exemplarisch: Verteilungsgerechtigkeit, Bedürfnisgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit. Die Zusätze wie Verteilung, Bedürfnis, Leistung, Chance, Teilhabe und noch andere mehr sind nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Und fügt man noch Adjektive hinzu wie soziale, historische, ökologische, individuelle Gerechtigkeit, dann wird es noch komplizierter.

In den 70-erJahren meinte man, ein amerikanischer Philosoph habe nunmehr die Theorie der Gerechtigkeit gefunden. Es wäre dies dann erstmals eine neue Theorie gewesen nach der das abendländische Denken prägenden Konzeption von Gerechtigkeit durch den Philosophen Aristoteles. Inzwischen gibt es jedoch neue Bücher zu diesem uralten Thema. Aber darum geht es hier in der Predigt nicht. Ich wollte bloß auf die großen Schwierigkeiten bei der Berufung auf Gerechtigkeit aufmerksam machen.

In der politischen Debatte und Auseinandersetzung ist freilich das Schlagwort Gerechtigkeit nach wie vor sehr beliebt, zumal wenn man noch ein Eigenschaftswort davor setzt und etwa von sozialer Gerechtigkeit spricht. Häufig ist dennoch nicht klar, was dabei konkret gemeint ist. Ich ziehe es vor, zu sagen und zu hören, was man im Einzelnen vorschlägt und gestalten will.

Die Studierenden konnte ich freilich nicht mit der Feststellung entlassen und abspeisen, das Wort Gerechtigkeit sei halt schwierig. Ich habe daher formuliert: Gerechtigkeit sei Unungerechtigkeit. Das meint: Es gib keine absolute Gerechtigkeit, aber durchaus eine relative Gerechtigkeit, nämlich als Verminderung und Verhinderung von Unrecht und Ungerechtigkeit. Das ist schon etwas – nein, es ist und wäre sehr viel. Wenn es in unserer Gesellschaft, auch in der Politik, weniger Ungerechtigkeit, mehr Rücksicht auf Schwache und Bedürftige, mehr Beteiligung geben würde, dann wäre dies ein Schritt in die richtige Richtung. Dann ginge es in Richtung bessere Gerechtigkeit.


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Damit bin ich beim zweiten Schritt, bei einer weiteren Schwierigkeit. Wie sollen wir Jesu Wort verstehen: „Ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übersteigt, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“? Diese Aussage hat es in sich. Sie stellt eine Provokation dar.

Mir selbst ist erst in den letzten Jahren bewusst geworden, wie stark unser Bild von den Pharisäern durch das Neue Testament geprägt ist. Wer jung die Bibel kennen lernte, insbesondere auch das Matthäusevangelium, der hat eine bestimmte Vorstellung von den Pharisäern. Sie sind zwar fromm, aber selbstgerecht, spitzfindig, heuchlerisch. Sie sehen auf den Durchschnittsjuden, auf den Alltagsmenschen herab. Ob dieses Bild zutreffend ist, weiß ich nicht. Denn außerhalb des Neuen Testaments haben wir kaum Quellen von dem, was Pharisäer und Pharisäismus zur Zeit Jesu waren. Für Matthäus und seine Gemeinde jedenfalls bildeten sie eine große Konkurrenz. Nur auf dem Hintergrund einer solchen Konkurrenzsituation erhält unser Text Kontur. Es geht darum, Gesetz und Propheten zu erfüllen. Jedes einzelne Jota und jedes Häkchen vom Gesetz soll Bestand haben.

Dunkel ist der Satz: „Wer nun eines dieser kleinsten Gebote löst und die Menschen entsprechend lehrt, der wird groß genannt werden im Himmelreich.“ Erkennbar geht es hier um eine Rangordnung. Unklar ist, wodurch und wie diese Rangordnung hergestellt wird. Bei dem allen geht es um die bessere Gerechtigkeit, und zwar in der frühchristlichen Auseinandersetzung zwischen einem frommen Judentum und der aus dem Judentum herauswachsenden christlichen Gemeinde.

Aber was sagt dies uns heute? Oft wurde mit diesen Sätzen eine Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum belegt und begründet: Also: Christen verfügen über eine höherwertige Gerechtigkeit als Juden. Mit dieser Überzeugung wurde Jahrhunderte lang eine Diskriminierung von Juden durch Christen begründet. Bis heute belastet dies das Verhältnis von Juden und Christen. Denn wer für sich beansprucht, er habe eine bessere Moral, der unterstellt heimlich, Christen stünden dadurch Gott näher als Juden. Die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden legt zu Recht einen Finger auf diesen wunden Punkt. Ein Überlegenheitsgefühl oder gar ein Siegesbewusstsein von Christen über Juden ist unangebracht, ja es ist gerade nicht Ausdruck von Gerechtigkeit.

Ebenso fragwürdig wäre auch eine Umkehrung. Das sage ich in der rheinischen Kirche durchaus bewusst. Die bessere Gerechtigkeit, die Jesus verkündigt, besteht nicht darin, dass nun Christen zu besonders frommen, gesetzestreuen Juden werden. In dieser Konkurrenz hätten schon damals vermutlich die Christen mit den Pharisäern nicht mithalten können. Im Fasten, Almosengeben, in der Befolgung jeder Vorschriften der Tora, in der religiösen Praxis hätten Christen allemal den Kürzeren gezogen. Das ist bis heute so.

Die „Gerechtigkeit“ – in Anführungszeichen – eines Christen ist nicht besser, höherwertig als die eines Juden. Sie ist vielmehr anders. Wenn man dieses Anders in einem Satz, in einer Abbreviatur zusammenfasst: Die Gerechtigkeit des Christen gründet nicht auf der Einhaltung des Gesetzes als Heilsweg, sondern auf dem Glauben, dem Glauben an Jesus Christus. Der so rätselhafte Satz von einer Gerechtigkeit, welche die der Schriftgelehrten und Pharisäer übersteigt, erschließt sich letztlich nur, wenn man beachtet, wem dieser Satz in den Mund gelegt ist.

Man kann den Satz für sich betrachtet zweifellos auch anders auslegen. Jedenfalls geht es um die Praxis des christlichen Glaubens in der Welt. Für Jesus war diese Praxis in seiner Bibel, im Alten Testament, vorgegeben und vorgezeichnet Ohne diese Vorgabe, die bis heute Christen und Juden teilen, gibt es keinen Hinweis auf den Weg der Gerechtigkeit. Aber Christen folgen auf diesem Weg Jesus Christus, und wir sind auf diesem Weg unterwegs in der Nachfolge Jesu. Christen sollen daher ihr Tun der Gerechtigkeit verstehen in Entsprechung zur Gerechtigkeit Gottes. Das übersteigt allerdings alle menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit.


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Damit bin ich beim dritten Schritt. Bislang war von menschlicher Gerechtigkeit, von Gerechtigkeit unter Menschen die Rede. Der christliche Glaube und das Evangelium reden ebenfalls von Gottes Gerechtigkeit. Sie benutzen dabei menschliche Worte.

Was der Apostel Paulus und der Reformator Martin Luther dazu geschrieben haben, ist mir bekannt. Paulus ist freilich nur auf seinem jüdischen Hintergrund, Luther nur auf der Folie seiner Biographie als Mönch vollständig zu verstehen. Aber was sagen wir heute dazu? Ist Gottes Gerechtigkeit etwa eine bessere, eine höhere, eine vollkommene Gerechtigkeit? Ich verstehe Zeitgenossen und Mitchristen, denen der Satz „Gott ist gerecht“ Schwierigkeiten und Unbehagen bereitet.

Die Schwierigkeit ist doppelt begründet. Im einen Fall denkt man beim gerechten Gott an einen strafenden, richtenden Gott, an einen strengen Richtergott. Viele Bilder vom Jüngsten Gericht stellen uns eine solche Gottesvorstellung drastisch und drohend vor Augen. Ich erinnere nur an den Satz, absolute Gerechtigkeit gebe es nur in der Hölle. Ist also die Hölle der Ort, an dem Gott seine Gerechtigkeit bewährt und vollstreckt? Und sollte man dann nicht lieber von der Barmherzigkeit, von der Gnade und Liebe Gottes reden und darauf hoffen?

Das ist der eine Einwand. Der andere Einwand verweist hingegen auf die Realität auf Erden, auf schreiende Ungerechtigkeit, auf Bosheit, auf schlimme Katastrophen, unter denen Menschen leiden, oft grausam leiden müssen. Wie passt diese Wirklichkeit zur Behauptung, Gott sei gerecht? Kann man angesichts des Elends in der Welt und angesichts einer Wirklichkeit, wie sie ist, von Gerechtigkeit, gar von Gottes Gerechtigkeit sprechen? Verschlägt es uns da nicht die Stimme? Wie sollte unter diesen Umständen die göttliche Gerechtigkeit eine bessere Gerechtigkeit sein? Jede Antwort auf diese drängende Frage hat zunächst festzuhalten, dass auch der Glaube an Gottes Gerechtigkeit niemals das Bemühen und Bestreben von Beseitigung und Überwindung von Ungerechtigkeit unter Menschen ersetzen kann. Vielleicht ermöglicht der Glaube dieses Bemühen sogar auf seine Weise.

Glaube ist jedoch eine sehr persönliche Angelegenheit. So kann ich auch nur eine persönliche Antwort geben auf das Verständnis von Gottes Gerechtigkeit. Seit dem Altertum wird Gerechtigkeit erläutert durch die Formel: Suum cuique, jedem das Seine. Wohlgemerkt: Es heißt das Seine, und nicht das Gleiche, auch nicht dasselbe, was ein anderer hat. Diese Formel „Jedem das Seine“ kann missdeutet und missbraucht werden. Das ist häufig genug geschehen. Dennoch: Das Seine – das betrifft einen jeden individuell und persönlich. Es muss nicht alles, jede und jeder gleichgemacht werden, auch nicht im Glauben. Menschen sind nun einmal nach Aussehen, Geschlecht, Herkunft, Biographie anders. Sie haben je eigen Wünsche und Sehnsüchte, Sorgen und Ängste, Stärken und Schwächen, Fehler und Fähigkeiten. Und genau so, wie jeder nun einmal ist, so, wie ich bin, nimmt Gott uns ernst.

Darauf vertraue ich, daran halte ich mich. Gott trägt mich, selbst dann, wenn ich mich nicht tragen, vielleicht sogar nicht ertragen kann. Und Gott achtet dabei auf das, was ich nötig habe; auch das ist unterschiedlich, vielleicht muss mir eine Grenze gesetzt werden – ein längst verstorbener Kollege sagte gelegentlich zu mir: Sie brauchen wieder einmal etwas zwischen die Hörner. Vielleicht habe ich im Gegenteil eine Ermunterung und Ermutigung dringend nötig. Das Verhältnis zu Gott ist und bleibt immer eine sehr persönliche Sache, weil Gott mich so sieht, wie ich bin.

Was bin ich, wie bin ich? Ich bin Geschöpf, Gottes Geschöpf, also ein endliches hinfälliges Lebewesen. Und ich bin fehlbar, ich bin Sünder. Was ein Sünder nötig hat, was ihm gerecht wird, ist vor Gott nicht eine gerechte Strafe, sondern ist allein Barmherzigkeit, ist Gnade. Legt man den Maßstab einer gnadenlosen Welt an, ist Gottes Gerechtigkeit nicht zu begreifen. Denn sie ist eine andere, eine bessere Gerechtigkeit.

Amen.



Prof.Dr. Martin Honecker
Bonn
E-Mail: honecker@gmx.de

Bemerkung:
Universitätsgottesdienst Bonn, Hörsaal 1


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