Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 19.02.2012

Predigt zu Lukas 8:31-43, verfasst von Thomas Reinholdt Rasmussen

 

 

Wir befinden uns im Jahre 2012. Wir haben ein Jahrhundert verlassen, das wild, blutig und ideologisch voller Kämpfe gewesen ist. Das Jahrhundert, das wir verlassen haben, hat die größten Erfindungen unserer gemeinsamen Geschichte hervorgebracht, aber es hat wahrhaftig auch das größte Grauen und die entsetzlichsten Taten von Menschenhand gezeitigt.

               Das ganze Jahrhundert hindurch haben Ideologien– Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus – miteinander im Kampf gelegen um die Macht und um das Recht zu definieren, was die Wahrheit ist. Ceteris paribus – trotz allen Unterschieden - können diese Ideologien als totale Betrachtungen über das Leben bezeichnet werden und damit auch als Auffassungen, die sich selbst im Besitz der rechten Deutung des Menschenlebens wähnen.                                                                                         Deshalb gingen sie über Leichen, um ihre Ziele durchzusetzen.

        

       Im neuen Jahrhundert – um nicht zu sagen Jahrtausend – ist diese Deutungshoheit über das Leben, wie wir es nennen wollen, nicht so sehr politisch gefärbt und geprägt als vielmehr religiös begründet gewesen. Wir sind auf fundamentalistischen Islam und fundamentalistisches Christentum gestoßen; also auf Formen des Glaubens, bei denen der Horizont dann von der Auffassung – von der Ideologie bestimmt ist, dass alles andere an zweiter Stelle zu kommen hat und dass andere Menschen leiden müssen, sei es bei einem Angriff auf die USA oder bei der Zurückweisung einer bestimmten Sorte von Menschen an der Tür der Kirche. Die rechte Glaubensgrundlage rangiert höher als das Leben. Die Wirklichkeit, die uns das Leben aufzwingt, bewegt den Gläubigen– sei es nun ein religiös oder ein politisch Gläubiger – nicht dazu, seinen Lebenshorizont zu ändern oder zu revidieren.

               Wir pflegen dann zu sagen, der Zweck heilige die Mittel. Wenn das Ziel, das man erreichen will, so groß ist, dass alles andere dahinter zurückstehen muss. Wenn die Realitäten des Alltages unserer Überzeugung nicht das Geringste anhaben können, das nennen wir dann  Fundamentalismus in jeglicher Form

               Dafür haben Menschen Unsägliches erleiden müssen. Viele mussten ihr Leben lassen.  Die Ablehnung derer, die anders sind, ist umfassender. Da die Wirklichkeit gegenüber der Überzeugung, die man nun einmal hat, nichts zu sagen hat, werden die Anderen abgelehnt.

               Diese Gefahr besteht in allen Formen des Glaubens, ob es sich dabei um Politik oder Religion handelt. Es ist die Gefahr, dass man bei seinem Streben nach dem Ziel fundamentalistisch wird. Das Ziel ist wesentlich. Die Mittel sind beliebig. Und hier haben wir das Rezept für Leiden, Abweisung und Totalitarismus.

               Und weil nun jeder Glauben diese Gefahr in sich birgt, darum ist es so wichtig, dass wir auf das Evangelium des heutigen Tages hören. Es spricht nämlich eine andere Sprache. Es spricht davon, dass sich die Wirklichkeit aufdrängt.

                Wir hören von Jesus und seiner Schar von Gläubigen, die auf dem Wege nach Jerusalem sind. Sie nähern sich Jericho, und sie streben ganz sicher in großer Eile ihren Zielen zu, viele sind gewiss von Glauben und Eifer entflammt. Jedenfalls klingt die Antwort wie eine Fanfare, als ein blinder Bettler fragt, was da im Anzuge ist: Es ist Jesus von Nazareth, er kommt hier vorbei! So lautet die Antwort aus der Schar der Gläubigen um Jesus. Es liegt gewissermaßen in der Luft, dass der Bettler jetzt Gelegenheit hat, es zu lernen: Es ist Jesus von Nazareth, der hier vorbeikommt!

               Aber der Bettler ruft Jesus um Erbarmen an. Die ganze Bewegung auf das Ziel hin kommt zum Stehen. Einige drohen dem Bettler und fahren ihn an, er solle schweigen. Die Wirklichkeit darf sich nicht in den Weg stellen – hier auf dem Weg zum Ziel.

               Aber die Wirklichkeit drängt sich auf, und man kann sie nicht vertreiben. Jesus vertreibt sie denn auch nicht. Denn das Ziel heiligt das Mittel nicht.

               Jesus bleibt nämlich stehen und macht den blinden Bettler sehend. Auf dem Weg zum Ziel wird der Triumphzug durch die Wirklichkeit, die sich aufdrängt, aufgehalten. Das Handeln Jesu sollte einen jeden aufrichtig Glaubenden dazu bewegen, es sich zweimal zu überlegen, bevor man absolute Urteile abgibt, wo der Glaube bestimmt, wie die Wirklichkeit zu sein hat. Denn das Problem ist doch, dass wir in unserem Eifer, die Forderungen und Taten des Glaubens zu erfüllen, unseren Nächsten vergessen. Wie aber, wenn es gerade nicht darum geht?

               Denn hier in dieser Erzählung widerspricht das Evangelium einer jeden Form von Fundamentalismus und Totalitarismus, mag er sich nun auf Glauben oder auf Politik berufen. Denn Jesus ist aufmerksam auf das Auftreten des Nächsten mitten in dem religiösen Triumphzug auf dem Wege nach Jerusalem. Der Nächste, der sich in Not befindet, vermag Jesus aufzuhalten. Das Ziel heiligt das Mittel nicht. Die Wirklichkeit drängt sich auf mit dem Ruf nach Gegenwart und Hilfe.

               Das hat der dänische  Liederdichter K.L. Aastrup in Worte gefasst, vielleicht sogar in einige der schönsten Texte, die wir besitzen:

Das ist unser Trost im Leben wie im Tod:

er war gerührt von eines Bettlers Not.

Und all uns’re Hoffnung liegt darin:

er konnte daran nicht vorbei.

Ja, unsere ganze Hoffnung liegt darin, er konnte nicht vorbeigehen! Jesus konnte nicht an dem blinden Bettler vorübergehen. Die Liebe muss vor der Wirklichkeit Halt machen. Die Liebe, die niemals aufhört, wie der Apostel schreibt, sondern sich aufdrängt und an Boden gewinnt. Und die den Nächsten nicht in ideologischen Nebeln vergisst. Denn der Kern des Christentums ist, dass Christus nicht auf die Erde gekommen ist, um in einem Triumphzug daher zu schreiten; sondern um auf dem Wege zu Kreuz, Grab und Auferstehung einen jeden von uns zu erreichen. Das ist es, was wir Evangelium nennen.

Amen



Pastor Thomas Reinholdt Rasmussen
DK-9881 Bindslev
E-Mail: trr@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier und Ulrich Nembach


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