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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Trinitatis, 17.06.2012

Predigt zu 1. Korinther 14:1-4, 23-25, verfasst von Dieter Splinter

 

Kanzelgruß

Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde.

Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen überprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, uns so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.

 

Kanzelgebet

I.

Liebe Gemeinde!

Ordnung muss sein. Muss sie es?

Es geschah plötzlich. Die Frau reckte beide Arme in die Höhe. Sie begann mit dem Oberkörper hin und her zu wiegen. Erst langsam, dann schneller. Ihre Augen waren geschlossen. Dann begann sie unverständliche Laute von sich zu geben. Sie schlug dabei mit der Zunge gegen ihren Zähne. Auch das immer schneller. Und voller Verzückung. In Ekstase war sie schließlich außer sich und wälzte sich auf dem Boden. Nach wenigen Minuten war es vorbei. Erschöpft kam sie zu sich. Ihre beiden Nachbarinnen halfen ihr wieder auf die Beine und führten die erschöpfte Frau in einen Nebenraum. Nach einiger Zeit kam sie zurück, völlig erholt und mit einem verklärten Glanz auf dem Gesicht.

So geschehen in Baltimore, an der Ostküste in den USA. Zahlreiche afro-amerikanische Chöre hatten sich zu einem Treffen in einer großen Kirche zusammengefunden. Gospels und Spirituals wurden gesungen. Klassiker wie „Go down, Moses" oder „When the Saints go marchin' in". Und neue Spirituals wurden erfunden. Einer etwa erfand eine einfache Melodie zu einem bekannten Wort aus der Bibel, ein anderer stimmte spontan dazu die Oberstimme an, andere fielen ein - und plötzlich war die ganze Kirche voll Gesang.

Die wenigen Weißen, die den Weg dorthin gefunden hatten, staunten mit offenem Mund - bei so viel geistbewegtem Gesang. Darunter auch ich. Und dann noch jene Frau, die in Zungen redete. Während ihrer ekstatischen Verzückung schwiegen die Chöre. Keineswegs peinlich berührt. So etwas kam offenbar häufiger vor. Man wartete einfach bis es vorbei war.

Ordnung muss sein. Muss sie es? Hierzulande wird man solche Erlebnisse in Kirchen wie ich es einmal in Baltimore hatte, nicht haben. Gleichwohl gibt es Ähnliches. Ein Kollege berichtet Folgendes:

Sonntag 10 Uhr. Beide Hände zum Himmel erhoben, stehen Frauen und Männer beim Singen und Beten. Mein erster Besuch in einem Pfingstler-Gottesdienst einer charismatischen Gemeinde, irgendwo in Norddeutschland. Der Prediger - er spricht konkret und zugewandt - muss dreimal während seiner Ansprache weinen, überwältigt von dem, was zu sagen ist. Überhaupt wird viel geweint. Und gelächelt. Am Ende eines Lobpreisliedes intoniert die Band ruhige Akkorde, darauf lassen etliche meiner Banknachbarn ihre Stimmen klingen, ohne Wortkontur, ein großer Fluss. Seufzen, Jauchzen. Als die Klangwellen abebben, steht einer auf, spricht zu der Gemeinde von Eingebungen, die er erhalten hat, gibt Menschen eindeutige, direktive Anweisungen, was Gott mit ihnen vorhabe."

Und der Kollege fährt fort: „Zwar ist manches faszinierend, ohne Frage. Viele zeigen sich tief bewegt. Es kommt mir echt vor. Trotzdem: Ich bleibe allein. Außen vor. Komme nicht rein in diese Welt. Sie funktioniert ohne mich. Das Gefühl, ein Fremder zu sein." (Friedemann Margaard, 1. Korinther 14, 1-3.20-25, Du musst durchschauen können, was ich sage, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2011/12, Perikopenreihe IV - Zweiter Halbband, hrsg. Von Wilhelm Gräb et al., Freiburg 2012, S. 97)

II.

Ordnung muss sein. Muss sie es? Paulus meint: Ja, sie muss sein. Und zwar um der Liebe willen! Vor den Worten, die wir hier miteinander bedenken, hat er das „Hohelied der Liebe" angestimmt. Das endet bekanntlich so: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung. Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen."

Und dann fügt er gleich an: „Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede! ... Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung." Paulus schreibt später, dass er selber in Zungen reden kann: „...mehr... als ihr alle. Aber ich will lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen." (V. 18f)

Auf eine klare Sprache kommt es also an. Sie ist ein Ausdruck der Liebe. „Eure Rede sei Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, ist von übel." Jedes Miteinander zeugt davon. Selbst wenn man die gleiche Sprache spricht, kann es zu Missverständnissen kommen. Die zwischen Männern und Frauen kommen häufig vor. Auch, wenn beide Deutsch sprechen. Abhandlungen, warum dem so ist, füllen ganze Bücherregale. Längst haben sich Hirnforscher des Problems angenommen. Sie führen die Missverständnisse zwischen Frauen und Männern auf unterschiedlich gebaute Gehirne zurück. So kommen dann Buchtitel zustande wie: „Warum Männer nicht zuhören - und Frauen schlecht einparken" ... Wie dem auch sei. „Es gibt", schreibt Paulus, „so viele Arten von Sprache in der Welt und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich den nicht verstehen, der redet, und der redet, wird mich nicht verstehen." (V. 10f)

Ohne verstehbare Sprache keine Verständigung. Ohne klare Kommunikation keine ausführbare Aktion. Darum ordnet Paulus die Zungenrede der prophetischen Rede nach. Über die Zungenrede kann man staunen wie ich in Baltimore - und doch keinen Zugang dazu haben, weil einem das Verständnis dafür nicht vermittelt werden kann. Als Besucher eines Gottesdienstes in einer Pfingstgemeinde kann einem alles echt vorkommen. Und doch bleibt man außen vor, Ein Fremder unter Eingeweihten. Ekstatische Erlebnisse sind für sich genommen noch keine Einladung in eine christliche Gemeinde. Doch eine klare, verständliche Sprache ist es. Eine Sprache, die erbaut, ermahnt und tröstet, ist es. Worte, die orientieren, sind es. Paulus nennt solch eine Sprache, er nennt solche Worte prophetisch - und ordnet sie der Zungenrede vor.

III.

Um der Liebe willen muss Ordnung sein. Ohne ordentliche Sprache, so Paulus, gelingt das Miteinander in einer christlichen Gemeinde nicht. Ohne verstehbare Sprache kein Glaube. Aus solchen und anderen Überlegungen hat die christliche Gemeinde ihren Gottesdienst entwickelt. Erstaunlich ist dabei, dass sich in vielen Kirchen ganz ähnliche Formen herausgebildet haben.

Was uns unbedingt angeht - und Gott geht uns unbedingt an! - haben wir in eine Ordnung gebracht. Wenn wir Gottesdienst feiern, kann unser Miteinander darum gelingen. Der Posaunenchor weiß, wann er zu spielen hat. Und ich weiß, wann ich zu predigen habe. Und doch erhebt sich gerade hier auf die schlichte Feststellung „Ordnung muss sein" die Nachfrage: Muss sie das? Diese Nachfrage hat einen Grund. Ein von mir sehr geschätzter Predigtlehrer hat es einmal so formuliert:

Im Schmerz verschlägt es mir die Stimme, im Schrecken verliere ich die Sprache, im Erstaunen und im Entzücken verzichte ich auf sie, weil sie mir nicht genügt. Auch die Liebe braucht die Worte nicht mehr, wenn sie ihre Erfüllung findet. Aber immer muss ich ins Gefängnis der Sprache zurück." (Rudolf Bohren, Predigtlehre, 4. veränd. und erw. Auflage, Münschen 1980, S. 332)

Es gibt Dinge, die können wir mit unserer Sprache nicht ausdrücken. Wir greifen dann auf Laute zurück. Vor allem, wenn es uns nicht gut geht. Dann stöhnen wir. Dann ächzen wir. Dann seufzen wir. Mit diesen Lauten versuchen wir aus dem Gefängnis der Sprache auszubrechen. Wir tun es nicht allein. Im 8. Kapitel seines Briefes an die Römer formuliert Paulus es so: „Wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in den Wehen liegt. Aber nicht nur sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und warten auf die Kindschaft, die Erlösung unseres Leibes."

Dieser Geist hilft unser Schwachheit auf. Auch dann, wenn wir angesichts des Elends in der Welt oder bei uns selbst nicht mehr wissen, was wir beten sollen. Dieser Geist vertritt uns dann mit unaussprechlichem Seufzen. (Römer 8,26) Wir sagen dann vielleicht bloß noch: „Ach, ach Gott!" Und beginnen zu ahnen wie es jenen geht, die in Zungen reden. Sie hören offenbar kein Seufzen mehr, sondern verstehen etwas von der Sprache des Himmels. Ein Glanz legt sich auf ihr Gesicht. Damit allerdings erbauen sie sich selbst, nicht die Gemeinde. Darum ordnet Paulus die Zungenrede der klaren Rede nach, aber er sondert sie nicht aus. Am Ende des 14. Kapitels seines 1. Briefes an die Korinther schreibt er jedenfalls: „Darum, liebe Brüder (und Schwestern!), bemüht euch um die prophetische Rede und wehrt nicht der Zungenrede, Lasst aber alles ehrbar und ordentlich zugehen."

IV.

Ordnung muss sein! Muss sie das? Wir sagen in unserer Kirche: Ordnung muss sein. Sie hilft dem Miteinander. In dieser Ordnung lehren wir: Gottes Geist wird uns in Wort und Sakrament gegeben. In charismatischen Gemeinden heißt es hingegen: Gottes Geist spricht direkt mit dir und mit mir. Er tut es in der Zungenrede. Was gilt?

Ich schaue auf den Gekreuzigten und sehe keine Ekstase. Ich sehe einen, der sich ganz auf die Seite derer gestellt hat, die stöhnen, die seufzen, die ächzen. Ich glaube, dass dieser eine ganz bei den Toten war und nun zur Rechten Gottes sitzt. Ihr Geist ist als Tröster in der Welt. Sein Trost ist in der Ordnung. Ich kann mir vorstellen, weil ich das mit eigenen Augen und Ohren erlebt habe, dass dieser Geist, sich in Menschen niederlässt und sie in Begeisterung versetzt. Wenn das aber zur Vorbedingung für den rechten Glauben gemacht wird, halte ich es mit Paulus - und sage: „Strebt nach der Liebe!" Schließlich ist es die Liebe, die Jesus Christus in die Welt gebracht hat. Er steht für sie ein. Für dich und für mich.

Und so bewahre der Friede Gottes, welcher höher ist denn all unsere Vernunft, unsere Herzen und Sinne, in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

 



Pfarrer Dr. Dieter Splinter
79114 Freiburg
E-Mail: dieter.splinter@ekiba.de

Bemerkung:
Herr Dr. Splinter ist Landeskirchlicher Beauftragter für den Prädikantendienst
an der Evangelischen Hochschule Freiburg




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