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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

7. Sonntag nach Trinitatis, 22.07.2007

Predigt zu Lukas 9:10-17, verfasst von Matthias Wolfes

„Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen allein in die Stadt zurück, die heißt Betsaida. Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Laß das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste. Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, daß wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen. Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Laßt sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig. Und sie taten das und ließen alle sich setzen. Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrigließen, zwölf Körbe voll."

 

Liebe Gemeinde,

Jesus in öder Gegend, nahe der Stadt Betsaida, umgeben von seinen Jüngern und einer großen Menge Volkes. Er spricht vom Reich Gottes, heilt diejenigen, die der Heilung bedürfen, und über dem fängt der Tag an sich zu neigen. Alle merken, daß sie hungrig und durstig werden, aber der vorhandene Handvorrat ist viel zu klein. Dennoch passiert es, daß Jesus die Menge von fünftausend Männern sowie die dazugehörenden Frauen und Kinder unter Rückgriff auf ganze fünf Brote und zwei Fische speist. Am Ende sind nicht nur sämtliche Personen gesättigt, sondern es waren noch zwölf Körbe voll. Ein Wunder hat sich ereignet!

Alle vier Evangelisten berichten die Begebenheit. Überall findet sie in einsamer Gegend statt. Bei den Evangelisten Markus und Matthäus gibt es noch eine Variante, in der viertausend Männer samt zugehörigen Frauen und Kindern gespeist werden, nachdem sie zuvor drei Tage lang nichts gegessen hatten. Die Speisungsgeschichte zählt zu den populärsten Jesuserzählungen überhaupt, und man muß wohl auch nicht lange grübeln, um herauszufinden, weshalb das so ist.

Es empfiehlt sich, einmal nicht gleich den neuzeitlichen Skeptizismus walten zu lassen und die intuitive Ablehnung alles Magischen, die den meisten Protestanten eigen ist, für einen Moment zurückzustellen. Denn dann könnten wir anhand dieser Erzählung den neutestamentlichen Jesus in seiner ganzen Eigentümlichkeit erkennen. Er wird als Wundertäter geschildert, wie es der antiken Vorstellung vom heiligen Mann entspricht. Seine Besonderheit ergibt sich aus der Besonderheit seiner Taten, die jedermann unmittelbar einleuchten, ob er nun persönlich dabei war oder ob ihm davon erzählt wird. Die Taten sind es, die das Zutrauen der Hörer wecken. Die ausgezeichnete Lehre hören sie dann gewissermaßen im Windschatten der schon anerkannten Besonderheit des Wundermannes.

Wir sollten uns diese Hör- und Verstehensverhältnisse einfach vor Augen führen. In der jüngeren Geschichte des Protestantismus ist viel von Entzauberung die Rede gewesen, und das hatte auch seinen guten Sinn. Man wäre blind für die Geschichte, wenn man nicht die große Befreiung sehen wollte, die sich mit der kritischen Bewegung vollzogen hat. Besonders gilt dies für die Kritik am neutestamentlichen Text; sie aber hat im späten 18. Jahrhundert ihren Ausgang gerade von solchen Erzählungen genommen. Das Ergebnis war ein ganz neuer, zeitgemäß moderner Blick auf den Text. Man verstand plötzlich, daß auch die Geschichten vom Neuen Bund Urheber und Autoren hatten und daß sie auf bestimmte Situationen und Interessen zurückgingen. Aber es galt doch auch, für diese Einsichten einen Preis zu zahlen. Und hierauf möchte ich heute näher eingehen.

Jesus wurde seines zauberischen Wesens entkleidet. Die Wundertaten verloren an Bedeutung. Im Zuge einer symbolischen Auslegung wurde die Existenz Jesu selbst zu dem einen, wahren Wunder. Demgegenüber traten die Heilungstaten, die Totenauferweckungen und Massenspeisungen als sekundäre Konkretisierungen zurück. Man sah in ihnen mitlaufende, aber eben unhistorische Produktionen einer auf Bilder fixierten Vorstellungskraft. Die Wunder waren etwas für die einfältigen Seelen; der aufgeklärte Geist hatte genug an den Worten Jesu, an seiner Erscheinung als solcher. Sie bedurfte der Illustrationen durch Mirakel nicht.

Auch mir selbst ist ein lehrhaft auftretender Jesus zugänglicher als ein letztlich unfaßbarer Wundermann, der wie aus fernen Welten in die Gegenwart einbricht. Ich kann mit den Wundererzählungen nicht viel anfangen, wenn ich sie für bare Münze nehmen soll. Als geschehenes Geschehen will ich sie nicht verstehen. Im vorliegenden Fall halte ich eine Auslegung für Unsinn, bei der am Ende im materiellen Sinne die von Jesus bereitgestellte Nahrung für zehn- oder mehr tausend Menschen tatsächlich aus den fünf Broten und zwei Fischen hervorgegangen sein soll.

Es verhält sich anders, und warum dürfte es nicht offen ausgesprochen werden? Jene Erzählungen transportieren einen Sinn, der in der Tat auf einer anderen Darstellungsebene liegt als auf der unmittelbar anschaulichen. Sie operieren mit dem Wunderbaren; es ist das Mittel, durch das die tatsächliche Aussage übertragen wird. Die Wunder sind Mittel zum Zweck, so wie sie das auch in allen anderen antiken Heldengeschichten sind.

Aber indem wir uns von dem goldenen Glanz, den das Wunderbare um die Jesusgestalt verbreitet hat, in unserem religiösen Gefühl und Bewußtsein verabschiedet haben, ist dort doch auch eine gewisse Kälte eingezogen. Auf eines dabei besonders hinzuweisen, gibt die heutige Erzählung Anlaß. Die entscheidenden Stichworte sind „Essen und Herberge". Von ihnen sprechen die Jünger, als sie Jesus die Notwendigkeiten nennen, die die Situation mit sich bringt.

Ich möchte die Erzählung von der Speisung der Fünftausend so lesen, als ginge es eben in erster Linie wirklich um diese Notwendigkeiten und nicht um die mit Brot und Fisch irgendwie „eigentlich" gemeinten Sachverhalte. Nicht als eine Vorwegnahme und Vorausdeutung auf das spätere Abendmahl will ich sie verstehen, sondern als das, was sie selbst im Kontext des Evangeliums zu sein beansprucht: als Bericht von einer speziellen Begebenheit, bei der Jesus seine vielzählige Zuhörerschaft aus einem vollkommen unzulänglichen Speisevorrat heraus mit ausreichender Nahrung versorgt, so wie seinerzeit das durch die Wüste wandernde Volk von Gott mit dem lebensspendenden Manna versorgt worden war.

Wenn es bei uns um Glaube und Religion geht, dann macht sich oft eine starke Abwertung der Dinge des Alltags breit. Alles ist plötzlich - als wäre das anders nicht denkbar - auf absolute Richtpunkte eingestellt. Was heute und jetzt wichtig ist, zählt nicht gegenüber dem immer und ewig bedeutsamen. Worauf das Leben eigentlich gerichtet sein soll, verdeckt, was man heute ißt und trinkt oder gerade getan hat. Religion sei ja schließlich das, was uns unbedingt angeht. Häufig leitet man daraus ab, daß Aspekte der praktischen Lebensführung unwesentlich seien im Vergleich zu den zentralen Fragen der Existenz. Es geht dann nur noch um die elementaren Entscheidungen, um Werte und Grundorientierungen, die sich aus dem Glauben ergeben.

So richtig das vielleicht ist, es darf doch nicht zur Blindheit gegenüber der einfachen Wahrheit führen, daß Hunger und Kälte, Mangel und Bedürftigkeit den frommen Menschen genauso so betreffen wie jenen, der sich in seinem ganzen Leben noch nie für Gott interessiert hat. Wir sind ja auch im Glauben leibliche Wesen, und die Leiblichkeit stellt uns vor gewisse Schwierigkeiten. Die Erzählung von der Speisung der Fünftausend sagt: Das Evangelium umfaßt auch eine leibliche, konkret materielle Dimension. Es gibt eine Leiblichkeit der guten Botschaft, und sie wird, ohne große Entschlüsselungsarbeit, in der Speisungsgeschichte sichtbar.

Mir scheint es wichtig zu sein, wenn wir uns als evangelische Christen klar vor Augen stellen: Beim Glauben geht es nicht nur um das Große und Ganze des Lebens. Von entscheidender Bedeutung ist etwas anderes, und dieses Entscheidende ist der eigentliche Kern. Das Entscheidende ist, daß der Glaube mir zu meinem persönlichen Leben wird. Das Wort Gottes ist immer nur innerhalb der menschlichen Konkretionen und Vermittlungen hörbar. Wenn man Christus als eine solche Konkretisierung betrachtet, dann geht das nur innerhalb einer lebendigen Beziehung. Die Beziehung zu Gott, die der Glaube selbst ja ist, ist eine erlebbare Realität innerhalb der tatsächlichen Lebensvollzüge, nicht außerhalb oder jenseits ihrer. Im religiösen Gebiet kann es deshalb auch keine abstrakten Wertentscheidungen geben. Dies macht die neutestamentliche Erzählung von der Speisung der Fünftausend deutlich. Jesus war nicht nur ein faszinierender Redner und charismatischer Prediger. Er wußte auch um die Nöte und Sorgen der Niederung.

Wenn man die Nähe Jesu zu seinen Hörern beschreiben und wenn man von hier aus ein Bild seines Wirkens zeichnen wollte, dann ließen sich große Teile der Überlieferung aus den Evangelien heranziehen. Gewiß gibt es auch die Momente der Unnahbarkeit, wenn er etwa seine eigenen Brüder und Schwestern zurückweist, die in Sorge um seinen Zustand ihm nachgefolgt sind und nun vor dem Haus, in dem er weilt, auf ihn warten. Das Gesamtbild aber ist doch anders: Es ist so, daß von einer unbegrenzten Solidarität die Rede sein müßte, von einem Ideal vorbehaltloser Offenheit, von einer Menschenfreundlichkeit, die wir sonst nirgendwo finden.

Für mich sind es diese Solidarität, Offenheit und Freundlichkeit, die Jesus spendet, wenn die Menge ihn umdrängt und sich dann, man weiß nicht wie, gesättigt und gekräftigt wiederfindet. Das ist das Wunder, und in dieser Haltung gewinnt für den Christen der Gott Gestalt, auf den er sein Vertrauen setzt und an dem sein Herz hängt.

Man hört gelegentlich: „Christen sind Leute, die an Wunder glauben." Aber es sind nicht irgendwelche Wunder, nicht die Zaubereien, die mit einem Mal aus einer geister- und magievollen Parallelwelt heraufsteigen. Wohl aber können es solche Geschehnisse sein, die wider den Augenschein den Blick weiten, das Vertrauen festigen und das Herz öffnen. Genau solch ein Wunder wird in der Erzählung von der Speisung der Fünftausend geschildert.

Amen.

 

Literaturhinweis:

François Bovon: Das Evangelium nach Lukas. Erster Teilband Lk 1,1 - 9,50 (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band III/1), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1989;

Wilhelm Herrmann: Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschluss an Luther dargestellt. Fünfte und sechste, verbesserte Auflage, Stuttgart und Berlin 1908.



Pfarrer Dr. Matthias Wolfes
Institut für Evangelische Theologie der Freien Universität Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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