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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trintatis, 01.07.2012

Predigt zu Matthäus 5:43-48, verfasst von Leise Christensen

 

Manchmal kann ich auf den Gedanken verfallen, dass es eigentlich schade ist, dass wir diese wesentlichen Texte vom Kern des christlichen Glaubens ausgerechnet am Anfang der Trinitätszeit zu hören bekommen. Letzte Woche hatten wir das Gleichnis vom verlorenen Sohn, in der Woche davor die Forderung der Nachfolge, nächste Woche ist es das Bekenntnis des Petrus, und heute sind es also die Texte über die Nächsten- und Feindesliebe. Noch wesentlicher kann es fast nicht mehr werden. Aber diese fantastischen Texte sollen wir also mitten im Sommer hören, wenn die Leute auf Ferienreise sind oder im eigenen Garten oder am Strand. Dieser Gedanke soll uns aber nicht daran hindern, die Texte für heute etwas genauer in Augenschein zu nehmen.

Das Gebot der Nächstenliebe ist für manche Menschen das Wichtigste am christlichen Glauben. Wenn man beliebige Passanten auf der Straße fragen würde, was kennzeichnend für das Christentum ist, dann glaube ich, würden viele Menschen, vielleicht sogar die meisten, antworten, dass die Nächstenliebe das Allerwesentlichste sei. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Aber wie wir im Text aus dem AT, den ich eben vorgelesen habe, gehört haben, ist dies Gebot ja ganz und gar nicht dem Christentum allein vorbehalten. Nein, das Alte Testament hat ein klares Gebot, dass man sich der Witwen, der Waisen und der Fremden annehmen soll. Diese drei Gruppen waren in der israelitischen Gesellschaft die wehrlosesten, und deshalb verlangt Gott im AT, dass man gerade für sie sorgt. Diese Gruppen sind also, mit einem anderen Wort gesagt, die schwächsten in der Gesellschaft. Ein entsprechendes Gebot, seinen Nächsten zu lieben, kann man eigentlich in den meisten Religionen finden. Man kann also keineswegs sagen, dass Jesus es hier und jetzt erfinde als etwas einzigartig Geniales und Neues. Nein, das Gebot der Nächstenliebe ist nichts Besonderes im Christentum.

Etwas Besonderes ist allerdings die Fortsetzung: Du sollst deinen Feind lieben, ja, du sollst sogar für ihn beten. Das ist sehr viel schwieriger zu befolgen. Denn unseren Nächsten können wir zur Not lieben - unseren Ehepartner, unsere Kinder, Nachbarn, Arbeitskollegen und Landsleute; aber unsre Feinde? Bedeutet das wirklich, dass man sich mit allem abfinden und immerfort auf sich herumtreten lassen soll? Bedeutet das wirklich, dass die alte Rede, dass „jedermanns Freund jedermanns Narr" ist, keine Gültigkeit mehr hat - dass man nicht mehr nein sagen darf, wenn man meint, genug ist genug? Soll man immer die andere Backe hinhalten? Jesus zufolge - soll man es! Sollen wir al-Assad lieben, und sollen wir die Taliban lieben? Ja, das sollen wir! Sollen die Journalisten von „Ekstra Bladet" [entspricht etwa der Bildzeitung] diejenigen lieben, die sie professionell hassen? Ja, dass sollen sie! Und wir sollen es auch. Sagt jedenfalls der Herr. Und wir sollen obendrein für sie beten.

Gegenwärtig ereignen sich einige der wichtigsten Tage seit 2008, jedenfalls für Fußballenthusiasten. Sie sitzen wie gebannt vorm Fernseher, und ich bin sicher, sie sehen zu mehreren Spielern in beiden Mannschaften auf, die sich, wenn sie auf den Platz laufen, oder beim Anpfiff bekreuzigen. Und gewiss haben manche Spieler zu Gott gebetet, noch bevor sie ihre Fußballstiefel zugeschnürt und die Schienbeinschützer in die Strümpfe geschoben haben. Und haben die Spieler darum zu Gott gebetet, dass ihre Gegenspieler, die Fußballfeinde, gewinnen mögen? Kaum. Mitnichten, sie haben doch gebetet, dass sie selbst Europameister werden und am Ende triumphierend in einem wahren Siegesrausch die Arme hochwerfen können. Aber sollten sie stattdessen nicht lieber für die Fußballfeinde beten? Gewiss sollten sie das - Jesus zufolge. Nun kann es doch völlig gleichgültig sein, ob Spanien oder Deutschland Europameister wird - jetzt wo Dänemark ausgeschieden ist -, obwohl doch auch große Summen Geldes in dem Sumpf stecken. Das Beispiel kann veranschaulichen, wie schwer es ist, für seinen Feind zu beten. Wenn man nicht einmal für seine Gegner in einem Fußballspiel beten kann, wie sollte man das dann in einem Krieg, in einem von Eifersucht geplagten Verhältnis und in anderen hasserfüllten Beziehungen können? Kann man überhaupt Gefühle auf Befehl haben, mögen sie hasserfüllt sein oder der Liebe gelten? Kann man auf Kommando hassen oder lieben oder ganz ohne Gefühlsbeteiligung sein? Man kann es ja nicht. Und wir wissen das. Viele Ehen hätten gerettet werden können, wenn man es gekonnt hätte.

Heutzutage sind wir geneigt, alles mit Gefühlen zu belegen. Man muss Liebe oder Hass empfinden. Man heiratet nicht, wenn man nicht eine ganze Masse ungemein tiefer und großer und warmer und umsichgreifender Gefühle füreinander hat. Gefühle, sichere Gefühle und Gespür, das Innerlichste, Tiefste und Persönliche haben kolossale Bedeutung für unsere Enscheidungen bekommen, und wenn man keine Liebe zum Feind empfindet, ja, dann kann man ihn nicht lieben, man kann nicht anders als ihn hassen, und dann wünscht man ihm Unglück. So hat man es nämlich im Gefühl! Liebe wie auch Hass sind Gefühle, und über Gefühle haben wir keine Macht und keine Kontrolle. Wir wissen es, wir fühlen es, und danach handeln wir. Aber eigentlich ist es gar nicht das, was Jesus verlangt. Er verlangt von uns nicht die tief empfundene Liebe gegenüber unseren Feinden. Er verlangt nicht Liebe als Gefühl, sondern Liebe als Lebenshaltung, als eine Einstellung, die man zum Leben und zu den Menschen hat, denen wir begegnen. Die Liebe, die von uns verlangt wird, ist nicht ein Gefühl, sie ist vielmehr eine Haltung, die von uns ein Handeln verlangt. Wir sind so sehr angetan von großen, schönen Worten, von großen Gefühlen, aber Liebe, die nicht im Handeln zum Ausdruck kommt, ist nichts.

Hier könnte man an ein Gedicht von Benny Andersen denken, in dem vom Gut-sein die Rede ist, von der Liebe. Er nennt alle die Dinge, die er tut, um zu lieben und gut zu sein, aber er macht die Erfahrung, dass das viel Übung erfordert. Und also übt er sich. Ganz für sich allein. Und schließlich gelingt es ihm, durch tägliches Üben, dort in seiner Einsamkeit, eine geschlagene Stunde lang gut zu sein. Mit Benny Andersen müssen wir sagen, dass es schwierig ist, gut zu sein, und zwar ganz besonders anderen Menschen gegenüber. Sowas kommt nämlich nicht von allein. Es gehören Wille, Handeln, Glaube, Hoffnung, Verantwortung, Fürsorge und Respekt dazu - alle die Dinge, die das Wesen der Liebe ausmachen, denn sonst wäre nicht von Liebe im biblischen Sinne die Rede. Es sind die Dinge, um die wir uns bemühen müssen, um auch den Feind umfassen zu können. Vielleicht nicht geradezu als Freund, aber doch als einen gottgeschaffenen Menschen auf der gleichen Ebene wie wir, als einen Menschen, der alles Recht hat, er selbst zu sein, weil er oder sie von Gott gewollt ist.

Der Text des Evangeliums von heute ist kein Befehl: Du sollst bitteschön deinen Feind lieben! Nein, es ist ja gerade ein Evangelium, eine frohe Botschaft: der heutige Text ist eine Einladung, das Leben aus einer anderen Perspektive heraus zu sehen als aus der ewigen Perspektive des Haders, des Streits und der Feindschaft, in der wir Menschen unaufhörlich die Dinge sehen. Es ist eine Einladung, das Leben von der Seite der Liebe her zu sehen, von der Seite Gottes. Es ist eine Einladung, in der Welt Gottes zu leben, die in Liebe geschaffen ist, aus Liebe, zu Liebe. Das ist Liebe der verpflichtenden, handelnden Art.

Der Text des heutigen Tages ist kein Gericht über Menschen, kein Gericht, das uns auf die Erde niederdrücken soll, weil wir nicht im Stande sind, unseren Nächsten zu lieben, geschweige denn unseren Feind. Sondern er ist eine Mahnung, dass wir unser Leben in Achtung davor leben sollen, dass Gott sowohl mich selbst und meinen Nächsten als auch meinen Feind in seinem Bild geschaffen hat. Und ich darf meinem Feind nicht die Gottesebenbildlichkeit absprechen, indem ich ihm gegenüber rede und handle, als wäre er nicht ein Kind Gottes. Dass wir beide, mein Feind wie ich, Kinder Gottes sind, verpflichtet uns zu einem Handeln in der Welt, das genau diese Tatsache respektiert. Und das bedeutet auch, dass wir dann, wenn wir nach dem Bösen in unserem Feind jagen, zu allererst bei uns selbst zu suchen haben.

Denn haben wir auch nichts gemein mit dem Menschen, den wir als unseren Feind betrachten, so haben wir dennoch allezeit eines gemeinsam, nämlich die Bosheit. Auf diese Weise spielt sich der Kampf zwischen dem Bösen und dem Guten nicht zwischen meinem Feind und mir ab, sondern zwischen dem Bösen und dem Guten in mir. Jesu Wort, dass wir unsere Feinde lieben sollen, ist ein Angebot, die Welt, unseren Mitmenschen und unser eigenes Leen aus einer anderen Perspektive zu sehen, nämlich aus der Perspektive der Liebe, in der wir nach dem Willen Gottes leben sollen.

Amen

 

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 



Lektor Leise Christensen
DK-6240 Løgumkloster

E-Mail: lec@km.dk

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