Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 19.08.2012

Predigt zu Lukas 7:36-50 (dän.Perikopenordn.), verfasst von Anders Kjærsig

 

Die Frau im Haus des Pharisäers

Der dänische Theologe und Philosoph K.E. Løgstrup hat für diesen Sonntag drei Predigten zur ersten Textreihe (dänische Periopenordnung) und zwei zur zweiten verfasst. Hier sollen uns uns besonders die Predigten zur zweiten Textreihe interessieren. Die eine Predigt stammt aus dem Jahre 1940. Sie trägt Løgstrups eigene Überschrift: „Vergebung und Gesellschaft". Die zweite Predigt stammt aus dem Jahre 1942 und hat keinen Titel. Man könnte ihr den Titel: „Wir leben in Aufruhr" geben. Beide Predigten haben einen Hauch von „Tidehverv", der dänischen dialektischen Theologie,, vor allem was das Verhältnis zur ersten Verwendung des Gesetzes betrifft. Aber das Evangelium wird bei Løgstrup anders eingebracht, als es in einer klassischen Tidehvervpredigt der Fall wäre, beispielsweise bei einem Tage Schack.

Der arme Simon

Der Pharisäer Simon ist nach Løgstrup ein Bild für den modernen Menschen. Er macht im Verhältnis zu Gott nichts falsch. Er hält den Gesetzeskodex der damaligen Zeit ein, er kommt in den Tempel, opfert, betet und liest in den Mosebüchern; er vergibt der Sünderin selbstverständlich nicht, da sie per definitonem sowohl theologisch als auch politisch von der Kategorie der Vergebung ausgeschlossen ist. Das damalige Israel hatte nämlich Theokratie, und Simon ist ein gerechter Mann. Er tut, was man tun muss.

Aber er hat dasselbe Problem wie Luther: Er hat zwar Gottes Forderung erfüllt, aber er kann darin keine Ruhe finden. Der Moralkodex, den die Gesellschaft fordert, wirft einen Schatten auf Leben und Vergebung. Er vermag die Sünderin nicht als ein Geschöpf Gottes zu sehen, und er kann sein eigenes Leben nicht gegenwärtig und lebendig finden. In einer Überwachungsgesellschaft nennen wir den Kodex Konventionen und Moral, direkt und indirekt. Wir stellen säkulare Götter wie Konsum und Materialismus zufrieden. Schenkt das mehr Ruhe? Sind wir unbesorgter? Können wir besser vergeben?

„Mit all dem Fleiß, mit all der Gewissenhaftigkeit, mit all dem Eifer, womit er seine Gottesanbetung pflegte, mit Selbstzucht und guten Werken, entzog er sich selbst doch Gott, indem er mit all dem an seiner eigenen Gerechtigkeit arbeitete".

Wir leben in Aufruhr.

Aber Simon, die moderne Version, wäre ein Heuchler, wenn er nicht im Aufruhr gegen Gott leben würde. Der Aufruhr setzt mit der Verkündigung Jesu ein. Indem Jesus den Weg zum Reich Gottes zeigt, indem er ein Leben in Wort und Tat lebt, das der Idee des Schöpfers entspricht, enthüllt er zugleich unseren eigenen Mangel an einem Leben in Unmittelbarkeit und Unbekümmertheit. Jesus verrückt unseren Kodex. Das gilt für Juden wie für Heiden. Das Verhältnis des Menschen sowohl zu Gott als auch zu Mitmenschen und Gesellschaft wird von seinen moralischen Begriffen gelöst und zu Ermessen und Deutung befreit. Und hier stehen wir an demselben Punkt wie Simon. Wir werden durch die Verkündigung Jesu entlarvt. Wir können einer gesellschaftlichen Moral Genüge tun, die garantiert, dass dem einzelnen Menschen jetzt seine Fehler vergeben werden, ungeachtet, ob sie juristischer oder moralischer Art sind. Simon ist daher in höherem Maße nackt und durchschaubar als die Sünderin. Und den Aufruhr gegen Jesu grenzenlose Vergebung können wir nicht beseitigen.

„Aber wir wollen das Leben nicht in der Entgegennahme des Lebens von Gott leben; wir wollen nicht die geschaffenen Menschen sein, die wir sind. Wir leben in Aufruhr... Wir befinden uns in Simons Lage. Das Leben in der Entgegennahme des Lebens von Gott leben können wir nicht; sondern es muss ein neues Leben sein, das Gott in seiner Vergebung von neuem schenkt. Aber es geschah im Glauben an ihr neues Leben, ein vergebenes Leben, dass die Frau sich so verhielt, wie sie es tatsächlich tat" .

Die grenzenlose Vergebung

Vergebung macht nur einen Sinn, wenn sie nicht von Gesellschaftsmoral abhängig ist. Sie lässt sich nicht zu einer Konvention machen, weil sie die Konvention sowohl über- als auch unterspielt. „Unterspielt, weil sie auf Situation und Person bezogen ist und jenseits von Jura steht, und überspielt, weil die Situation den Charakter der Einmaligkeit hat und es dabei um Leben und Tod gehen kann.

„Vergebung nimmt in ihrem eigenen lebendigen Augenblick die beiden Menschen aus ihrer gesellschaftlichen Gegenwart heraus und stellt sie von Angesicht zu Angesicht zueinander einzig und allein als Geschöpfe Gottes. Sie sind nichts Anderes im lebendigen Augenblick der Vergebung: Mensch gegenüber Mensch" .

Eines ist, der Sünderin zu vergeben. Was aber ist, wenn es um den Henker, den Tyrannen, den Mörder, den Bestialischen geht? Kann man das „Unvergebbare" vergeben, das Unverzeihliche verzeihen? Welchem Angesicht kann man aushalten gegenübergestellt zu werden?

In seinem Werk „Schöpfung und Vernichtung" (zuerst auf Dänisch 1978) stellt Løgstrup einige Überlegungen über die grenzenlose Vergebung an. Es geht um die Frage, inwieweit man einem Verbrecher vergeben kann, der die „unvergebbare" Handlung begangen hat. Die Frage bewegt sich in der Spannung zwischen Empörung und Gnade. Die Empörung über die Taten des Verbrechers will ihn bestrafen, und die Gnade will ihm vergeben. Aber der Mensch ist weder zur Empörung noch zur Gnade fähig. Wenn man in der Empörung verbleibt, nimmt man Rücksicht auf die Opfer, ist aber zynisch gegenüber dem Verbrecher. Wenn aber der Mensch nicht fähig ist, das Unvergebbare zu vergeben, so kann Gott es vielleicht. Und vergibt der Mensch dem Verbrecher, führt das zu Übergriffen auf die Opfer. Darum lässt sich die grenzenlose Vergebung nicht im Rahmen eines kulturellen und gesellschaftlichen Horizonts artikulieren, sondern muss dem Ritual überlassen bleiben: „Den Glauben [der das Unvergebbare vergibt] kennen wir in unserem Dasein nur als Ritual". Und „bewahrt werden kann der Glaube deshalb nicht ohne Gemeinde und Kirche"

„Und wenn wir daher einander vergeben, dann beginnen wir nicht mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft oder einer neuen Moral, sondern dann bekennen wir unseren Glauben daran, dass wir von Gott geschaffen sind - dann verkündigen wir das Reich Gottes". Vergebung, Glaube und Kirchgang gehören zusammen. Wir können vieles innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes und ohne Ritual vergeben, aber können wir das Unvergebbare vergeben? Nicht ohne Ritual. Løgstrup ist zwar humaner Christ, aber auch spezifischer Christ. Eine Spezifikation, die in Praxis, in Liturgie und Kirchgang verankert ist.

Amen.



Pastor Anders Kjærsig
DK-5792 Årslev
E-Mail: ankj@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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