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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 14.10.2012

Predigt zu Jakobus 5:13-16, verfasst von Sven Keppler

 

I.   Kennen Sie Schwester Agnes? Schwester Agnes war Kult, eine Gemeindeschwester mit Herz und Seele. Mit Tracht und Haube. Unverheiratet. Mit ihrer herrlichen Berliner Schnauze nahm sie kein Blatt vor den Mund. Auf ihrem Moped knatterte sie durch die Gemeinde und nahm sich Zeit für die Menschen. Ein guter Rat. Ein gemeinsames Gebet. Und ganz viel zupackende Hilfe.

Wenn Menschen in Not waren, setzte sie sich für sie ein. Wenn nötig, auch mit unkonventionellen Mitteln. Es war ihr egal, ob Sie ihre Zuständigkeiten überschritt. Hauptsache, sie konnte helfen. Zum Beispiel als eine junge Frau ungewollt schwanger war. Der Arzt schlug die Abtreibung vor. Aber Schwester Agnes entschied: „Det kommt nich in Frage!"

Sie fand heraus, dass die werdende Mutter vor allem eine Wohnung brauchte. Ein schwieriges Problem, denn Agnes lebte in der hintersten DDR, in der Oberlausitz. Aber für Schwester Agnes war es natürlich kein Problem. Sie kämpfte für ihr Ziel, auch mit dem kommunistischen Bürgermeister. Wie Don Camillo gegen Peppone. Ihr Motto war: „Dafür sorgt die Gemeinde, det heißt: Ick!"

Wie Don Camillo war Schwester Agnes eine Filmfigur. Aus einem humorvollen Defa-Film Mitte der Siebziger Jahre, in dem der real existierende Sozialismus auf die Schippe genommen wurde. Vielleicht war Agnes auch deshalb Kult: Weil Sie sich in ihrer frommen und lebenspraktischen Art nicht vom System vereinnahmen ließ.

Heute gibt es auch noch andere Schwestern mit Namen Agnes. Genau genommen Krankenpflegerinnen, die im Modellprojekt AGnES arbeiten. Der Name ist eine Abkürzung und steht für Arztentlastende, Gemeinde-nahe, E-Healthgestützte, Systemische Intervention.

Ländliche Gebiete sind medizinisch oft unterversorgt. Hier werden nun Krankenpflegerinnen eingesetzt, die eine medizinische Zusatzausbildung erhalten haben. Sie sollen den Arzt entlasten, der durch die Fülle der Aufgaben sonst überfordert wäre. Dafür steht das A von AGnES.

Gn wie Gemeinde-nah hat allerdings nichts mehr mit der kirchlichen Gemeinde zu tun. Gemeint ist die politische Gemeinde: Die Hilfskraft soll vor Ort sein und nicht weit weg im nächsten Oberzentrum.

E steht für „E-Healthgestützt". E-Health meint den Einsatz von elektronischen Geräten zur medizinischen Versorgung. Computer und Internet helfen zum Beispiel, einen Patienten aus der Ferne medizinisch zu überwachen. Und das S von AGnES steht für Systemische Intervention, also den Versuch, den Patienten in seinen Lebenszusammenhängen zu sehen.

Zwischen dem Film „Schwester Agnes" und dem „Modellprojekt AGnES" liegen gut 30 Jahre. Die beiden Agnes bringen auf den Punkt, was sich bei uns verändert hat. Zugespitzt gesagt: Elektronik statt Berliner Schnauze und Gebet. Professionalisierung statt couragierter Grenzüberschreitung. Und bei „gemeindenah" wird nicht mehr an Kirche gedacht.

II.   Für Kranke zu sorgen, das war von Anfang an ein wichtiges Anliegen des Christentums. Leidenden zur Seite zu stehen. Sie zu pflegen und zu unterstützen. Und ihnen dabei seelisch nahe zu sein. Und das heißt auch: mit Kranken zu beten. Und für sie zu beten. Ein frühes Zeugnis dafür finden wir im Brief des Jakobus im Neuen Testament. Ich lese aus dem 5. Kapitel am Ende des Briefes [lesen: Jak 5,13-16].

Das Gebet vermag viel! Diese Gewissheit ist das Zentrum unseres Textes. Wir aufgeklärten Modernen können das ganz schnell missverstehen. Sofort vermuten wir, dass hier auf Wunderheilungen gesetzt wird. Dass der Glaube die praktische Hilfe ersetzen soll. Die Kranken sollen doch lieber einen Arzt rufen!

Aber davon ist nirgends die Rede. Natürlich sollen die Kranken auch gepflegt werden. Selbstverständlich soll das medizinisch Mögliche getan werden. Warum auch nicht? Aber das soll nicht alles sein.

Wer krank ist, erlebt eine schwierige Zeit, die oft den ganzen Menschen betrifft. Der Körper ist angegriffen und geschwächt. Auf die Kräfte ist kein Verlass. Die vertrauten Abläufe sind unterbrochen. Der Glaube in die eigene Unzerstörbarkeit ist angegriffen. Man ist angewiesen auf die Hilfe der anderen. Ängstliche Blicke gehen in die Zukunft: Werde ich wieder gesund? Wird alles wieder wie früher? Was wird hängenbleiben?

Zeiten der Krankheit sind immer auch Zeiten der Angst. Früher, ohne die Möglichkeiten der modernen Medizin, galt das besonders. Aber heute eigentlich nicht weniger, denn in der neuen Zeit haben bestimmte Krankheiten ein ganz neues Gewicht erlangt. Krebs. Demenz. Depression. Immunschwächen. Beängstigende Krankheiten prägen auch unser Leben.

Wer für einen kranken Menschen sorgt, sollte deshalb den ganzen Menschen im Blick haben. Ein guter Arzt klammert das nicht aus. Eine gute Pflegerin auch nicht. Die Seele muss in die Heilung einbezogen werden. Und bei einem christlichen Patienten heißt das: Der Glaube gehört zum Gesundwerden dazu. Die eigenen Ängste vor Gott bringen zu können. Die Sorgen und Hoffnungen.

Wunderbar, wenn ein erkrankter Mensch dabei nicht auf sich gestellt bleibt. Denn das ist ja der Normalfall heute: Für die Medizin sorgt der Arzt. Seelisch steht vielleicht ein Therapeut zur Seite. Pflegekräfte sorgen für die praktische Unterstützung. Aber im Gebet, im Gespräch mit Gott ist der Patient auf sich allein gestellt.

Dagegen schärft der Jakobus-Brief ein: Es ist unsere Aufgabe als Gemeinde, hier etwas zu tun. Geistliche Unterstützung zu geben. Vermitteln, dass der oder die Kranke in ihrer Not vor Gott nicht allein ist. Sondern dass wir mit ihr beten und sie in unsere Fürbitten einschließen.

III.    Hier liegt die große Chance der Diakonie. Pflege und Glaubensbegleitung miteinander zu verbinden. Im Patienten nicht nur ein Fürsorgeobjekt zu sehen, sondern ihn als Menschen wahrzunehmen. Zeit für die seelische Begleitung zu haben. Und auch im Gebet miteinander verbunden zu sein.

Als die moderne Diakonie im 19. Jahrhundert entstand, antwortete sie auf eine doppelte Lücke: praktisch und geistlich. Viele Menschen waren aus den stabilen Großfamilien herausgerissen worden. Besonders in den Städten gab es die traditionellen Netze nicht mehr, die einen Menschen in Not auffingen. Pflege, Beratung, praktische Unterstützung - daran mangelte es in großem Maß.

Christinnen und Christen fühlten sich hier zur Hilfe verpflichtet. Ihre Motivation wurzelte in ihrem Glauben. Und der Glaube prägte auch ihre Arbeit. Die seelische Seite war im Blick. Diakonin und Patientin beteten genauso selbstverständlich miteinander wie sie an der leiblichen Gesundung arbeiteten.

Dieser ganzheitliche Ansatz hat die Diakonie lange geprägt. Über ein Jahrhundert hinweg. Die Gemeindeschwester Agnes in der Oberlausitz ist eine späte Vertreterin ihrer Art. Couragiert, umfassend. Bodenständig im Christentum verwurzelt. Die Aufforderung des Jakobusbriefes, für die Kranken zu beten, wurde in der Diakonie wunderbar verwirklicht. Aber welche Möglichkeiten hat dieser Ansatz heute noch?

Die Rahmenbedingungen für die Diakonie haben sich heute grundsätzlich gewandelt. Die Pflege der Alten und Kranken ist heute keine Aufgabe mehr, um die sich sonst niemand kümmert. Viele private Anbieter sind aktiv. Die Pflege ist zum Markt geworden. Und auch dieser Markt wird über den Preis reguliert.

Die Pflegesätze bestimmen dabei die Rahmenbedingungen. Auch die Pflegeangebote der Diakonie geraten dadurch unter Zeitdruck. Was dabei oft auf der Strecke bleibt, ist die geistliche Dimension. Schön, wenn noch Zeit für ein gutes Wort bleibt, aber mehr ist oft schwierig.

Die Angestellten der Diakoniestationen müssen bezahlt werden. Nach kirchlichen Tarifen, die kaum mit den privatwirtschaftlichen konkurrieren können. Und geistliche Begleitung der Kranken ist nun mal keine Leistung, die in den Sätzen der Pflegeversicherung vorgesehen ist.

Liebe Gemeinde, ich bin sehr gespannt, wie die Entwicklungen auf diesem Gebiet weitergehen werden. Denn die Aufforderung des Jakobusbriefes bleibt ja gültig. Wir sollen unsere Kranken besuchen. Mit ihnen beten und auch für sie. Zur Pflege gehört diese Dimension unaufgebbar dazu.

Vielleicht müssen die Gemeinden diese Aufgabe wieder stärker für sich entdecken. Lange haben sie die Begleitung der Kranken und Hilfsbedürftigen an die Profis von der Diakonie abgegeben. Mir scheint es an der Zeit, dass auch die Gemeinden von neuem ihre eigene Verantwortung sehen.

Jakobus sieht hier die Ältesten in der Pflicht, also die Presbyter und Pfarrer. Aber herausgefordert ist die ganze Gemeinde, zum Beispiel in Besuchsdiensten. Wir können dann ganz lebendige Erfahrungen machen. Erleben, was das heißt: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. Ich glaube, diese Erfahrungen würden uns als Gemeinde sehr gut tun. Amen.

 



Pfarrer Dr. Sven Keppler
33775 Versmold
E-Mail: sven.keppler@kk-ekvw.de

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