Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 04.11.2012

Predigt zu Matthäus 5:13-16 (dän.Perikopenordn.), verfasst von Niels Henrik Arendt

 

Allerheiligen

In einer protestantischen Kirche haben wir keine Heiligen. Schaut man sich die Heiligenverzeichnisse anderer kirchlicher Gemeinschaften an, fällt es einem schwer, etwas darin zu finden, was den Heiligen gemeinsam ist. Aber man kann sehen, dass man unter einem Heiligen lange eine Person verstanden hat, die gelebt hat, ohne von der Welt „befleckt" zu werden.

Während gewöhnliche Menschen nicht vermeiden konnten, sich die Hände schmutzig zu machen, ohne Kompromiss nicht leben konnten, ohne sich kompromittieren zu lassen, waren die Heiligen Menschen, die einen reineren Glauben bewahrten, die weniger egoistisch handelten, die auf einem höheren Niveau moralischer oder religiöser Reinheit lebten. Wie war das möglich? Manchmal waren Heilige Personen, die sich aus der Welt zurückzogen, abgesondert lebten oder ein Eremitendasein führten.

Von einem dieser Heiligen wird berichtet, er habe 30 Jahre lang auf einer 15 Meter hohen Säule gelebt, die weit draußen in der Wüste stand. Speisen musste man in Körben zu ihm hochwinden. Es war kein besonders angenehmes Leben, aber dass er keine Fehler beging (in irgendeinem Sinn), darüber braucht man sich kaum zu wundern. Von einem etwas moderneren Menschen, dem großen Dichter Leo Tolstoi, wird erzählt, er habe sich vorgenommen, das Leben eines Heiligen zu führen, und sich deshalb aus der Welt zurückgezogen, um in nahezu vollkommener Zurückgezogenheit auf seinem Gut zu leben.

Es gibt auch heutzutage Menschen, die des Lebens in einer Welt müde sind, die andren Idealen huldigt als sie selbst. Sie fangen vielleicht an, zu meditieren, sich in sich zurückzuziehen und die materialistische Welt ganz von sich fernzuhalten. Es gibt Berichte von einem neuen Interesse am klösterlichen Leben - oder man sucht andre Orte auf, um die Reinigung seines Inneren zu bewerkstelligen, die man als Voraussetzung für ein mehr authentisches Leben ansieht. „Simple living" - oder wie man es nennen mag. Diese Dinge beruhen alle auf einer Absonderung oder Trennung: auf einer Trennung von Licht und Finsternis, von Glauben und Welt, von mir und allen Andren.

Nun sind die von mir hier genannten Beispiele von Menschsen, die sich aus der Welt zurückgezogen haben, um ein Heiligenleben zu führen, Ausnahmen. Was uns hier ineressiert ist die Tatsache, dass wir alle uns der Absonderung an sich oder der Trennung der Dinge bedienen. Mein eigenes Leben und das Leben von Andren müssen auseinander gehalten werden, sagen wir: ich muss mich um mein Leben kümmern, die Andren um ihr Leben. Ich bin selbst der Urheber meines Lebens, während ich beim Leben der Andren nur Zuschauer bin. Oder wir sagen: Eine Sorte Normen gilt für mich und meine Angehörigen in unsrem gemeinsamen Leben; aber diese Normen sind keineswegs brauchbar, wenn es sich um das Leben der Gesellschaft handelt.

Wir finden es in Ordnung, wenn man von seinen Gefühlen mitgerissen wird, wenn es um das Verhältnis zu den eigenen Angehörigen geht, aber wir finden es bestimmt nicht in Ordnung, wenn es in größerem Maßstab der Fall sein sollte: an diesem Punkt gilt es, nüchtern zu sein und sich eben nicht mitreißen zu lassen.

Manchmal kann man fast der Meinung sein, das Verhältnis zwischen uns und der Gesellschaft sei von einer Art Persönlichkeitsspaltung geprägt. Die meisten Menschen sind der Meinung, sie lebten ordenlich, anständig und veranwortungsbewusst (und das tun sie wohl auch, jeweils für sich betrachtet) - und dennoch wachsen die gesellschaftlichen Probleme stetig, was Missbrauch, Umweltverschmutzung, Einsamkeit und einen ganz allgemeinen Mangel an Freude angeht.

In der Kirche ist die Entwicklung in gewissem Umfang dieselbe gewesen: wir haben eine große Anzahl von Trennungen vorgenommen, zwischen drinnen und draußen, zwischen dem Gottesdienst einerseits und dem Alltag andrerseits, zwischen dem Religiösen einerseits und andererseits dem Weltlichen.

Man hat in der Kirche viele Wahrheiten über das verkrüppelte Leben des Einzelnen hören können, aber es sind nicht gerade zahlreiche Wahrheiten, die nach außen gelangt sind. Was man das Licht des Evangeliums nennt, hat sich in der Kirche ausgebreitet, aber wir brauchen uns nicht viele Schritte von ihr entfernt zu haben, bis die Finsternis wieder herrschte und wir uns vortasten mussten. Es hat nicht wie ein Blitz eingeschlagen, der die Finsternis in der Welt aufgebrochen und über den ganzen Weg von West bis Ost gereicht hätte. Es fehlt oft an einem „Riemenantrieb" zwischen dem, was in der Kirche gesagt wird, und der Wirklichkeit, in der wir leben. Mit Gott sind wir in der Kirche in Berührung gekommen - aber wir haben Schwierigkeiten gehabt, ihn in unsrer alltäglichen Wirklichkeit zu entdecken oder Raum für ihn zu finden.

Aber die Kirche ist in diese Welt gestellt. Und das ist sie, um Licht in die Finsternis zu bringen. Es ist der Sinn des Christentums, die Wahrheit an den Tag zu bringen, auch dort, wo die Wahrheit ungern gehört wird. Ihr seid das Salz der Erde, sagt Jesus. Und das Salz brennt, und zugleich reinigt es. Ihr seid das Licht der Welt, und ein Licht zündet man nicht an, um es dann gleich unter einen Scheffel zu stellen.

Aber genau dies ist weitgehend tatsächlich geschehen. Martin Luther schreibt in einer Predigt für den heutigen Sonntag über alle die Heiligen, die sich aus der Welt zurückgezogen haben und in der Ofenecke sitzen und gute Werke tun - weil sie sich fürchten, der Welt zu sagen, was zu sagen ist. Man kann sehr wohl sagen, dass sich die Kirche und das Christentum weitgehend damit abgefunden haben, in die Ofenecke verwiesen zu sein.

Was macht das schon? Was macht es, wenn man es unterlässt, das Licht in der Welt draußen zu verbreiten und sich die Welt stattdessen nach ihren eigenen besonderen Gesetzen entwickeln lässt. Es geschieht dies, dass man sie der Hoffnungslosigkeit überlässt. Es geschieht dies, dass - obwohl man sagt, dass die Vernunft in der Welt herrschen soll - dann das Leben, welches dort zu leben ist, Opfer von höchst irrationalen Kräften und Gesetzen wird, z.B. ein Monstrum wie dasjenige, das man den „Markt" nennt.

Was geschieht mit unsrem eigenen Leben, wenn Gott aus der täglichen Wirklichkeit verwiesen wird? Es geschiet dies, dass unser Leben mehr oder weniger in die Brüche geht in Stress und in dem Gefühl von Machtlosigkeit angesichts der Probleme. Und dann wird der eventuelle sonntägliche Kirchenbesuch nicht zu dem Ereignis, das allem andren im Lauf der Woche eine Perspektive verleiht, sondern er wird zu einem isolierten Ereignis. Nicht zu einer Kraftquelle und einem Wendepunkt der Hoffnung.

Die Zeit ist gekommen, dass wir es wieder nötig haben zu hören, dass Gott überall gegenwärtig ist und dass alles, was wir tun, und alles, was geschieht, zu beurteilen und zu richten ist aus der Tatsache heraus, dass diese Welt Gottes Welt ist. Die Zeit ist gekommen, in der das Salz des Evangeliums nötiger denn je ist, in der die Wahrheit an den Tag kommen kann, in der es direkt gesagt werden kann, dass dort, wo die Menschen selbst Herren sein wollen und wo ihre Vernunft allein regieren soll, alles zum Teufel geht. Die Zeit ist gekommen, in der das Licht des Evangeliums nötiger denn je ist, das Licht, das die Falschheit und die Doppelbödigkeit und die Lüge entlarvt in vielem von dem, was man über den Segen des Fortschritts hören kann, das Licht, das aber auch zeigt, dass das Leben der Liebe und der Gemeinschaft dasjenige ist, für das wir geschaffen sind.

Man kann diese Welt wohl so verlassen, wie es einige Heilige getan haben, und sie der Hoffnungslosigkeit und dem Elend überlassen. Aber Gott wusste, dass das zu tun das Allerletzte war, wovon er träumen konnte - als Jesus auf Erden wandelte und das Salz und das Licht der Erde war, in dieser Welt.

Wir brauchen keine Heiligen, für die die Reinigung des eigenen Herzens und die Reinheit des eigenen Lebens die Hauptsache ist. Das kann man Gott anvertrauen. Aber es sind Menschen nötig, die in die Welt gehen und ja und nein sagen wollen - und die bereit sind, sich dafür schelten zu lssen, aber dabei ausharren, weil alles andre bedeuten würde, die Welt der Hoffnungslosigkeit auszuliefern. Das Licht in der Welt, das Licht in unserem eigenen täglichen Leben, das Licht über den Tod kommt von Gott. Denn wir, die Lebendigen und die Toten sind beständig sein, ja diese ganze Welt ist beständig sein.

Amen

 



Bischof Niels Henrik Arendt
DK-6100 Haderslev
E-Mail: nha@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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