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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres / Volkstrauertag, 18.11.2012

Predigt zu Daniel 7:9-10. 13-14 (dän.Perikopenordn.), verfasst von Peter Fischer-Møller

 

Was ist die größte Schwierigkeit in diesen beiden biblischen Lesungen, wenn man mit ihnen zurecht kommen will?

Vielleicht ist es die Rede vom Gericht. Das Gericht, das der Vater nach Johannes dem Sohn übertragen hat.

Auf jeden Fall möchte ich an diesem Punkt ansetzen.

Je älter wir werden, desto mehr offene Fragen bleiben in Bezug auf unser Selbstverständnis und unser Leben miteinander. Wir haben sie im Kopf - immer dann, wenn wir nur uns selbst betrachteten und das Unsrige suchten und wenn sich herausstellte, dass es auf Kosten anderer geschah. Die Besorgnis, es hätte anders sein können, wenn wir einen anderen Weg eingeschlagen hätten, ist nutzlos und macht sozusagen alles nur noch schlimmer.

Wir sind sehr einsam mit unserer Schuld, wenn wir es nicht über uns bringen, sie zur Sprache zu bringen. In katholischen Ländern hat man in den Kirchen immerhin noch Beichtstühle, in denen die Menschen vor einem Priester in Worte fassen können, was in ihrem Leben schief gegangen ist, d.h. die Schuld und die Scham zur Sprache bringen können. Bei uns verschwanden die Beichtstühle mit der Reformation aus den Kirchen, aber die Möglichkeit des Gesprächs mit einem Pastoren über die Probleme, mit denen man in seinem Leben zu kämpfen hatte, blieb doch bestehen. Bis noch vor hundert Jahren war es gang und gäbe, dass man, wenn man merkte, dass der Tod näher kam, darum bat, sich einem Pastoren anvertrauen zu können, bevor man seinem Gott und Schöpfer begegnen sollte.

Es kommt auch heute noch vor, dass Menschen zum Pastoren kommen, um mit ihm über die Schuld zu sprechen, an der sie tragen, allerdings geschieht es sehr viel seltener. Wir gehen mit unserer Schuld nicht mehr zu Gott. Wir nehmen stattdessen Pillen oder suchen einen Therapeuten auf, um uns von unserem Schuldgefühl zu befreien.

Und es ist gut, wenn wir Medizin einnehmen oder eine Behandlung bekommen können, die Menschen helfen, wenn ihnen die Probleme über den Kopf wachsen oder wenn einen die Belastung gemütskrank macht. Aber es ist nicht gut, wenn wir uns einbilden, wir könnten uns durch Behandlung von Schuld befreien.

Wir müssen lernen, die Schuld zur Sprache zu bringen und uns ihr zu stellen.

Wir müssen es wagen, vor Gott zu unserem Leben zu stehen, wie es nun einmal geworden ist.

Es zieht sich wie ein roter Faden durch die biblischen Erzählungen - von der Geschichte von Adam und Eva an -, dass wir verantwortlich sind für das Leben, das Gott uns gegeben hat, dass Gott unser Richter ist, dass unser Leben Folgen hat und dass wir eines Tages vor IHM Rechenschaft dafür abzulegen haben.

Es sind starke Bilder - wie im Text von heute bei dem Propheten Daniel - in denen wir der Auffassung des Propheten von Gott begegnen, der auf seinem Thron im Himmel Platz nimmt wie ein alter englischer Richter, angetan mit Robe und Perücke aus reinster weißer Wolle. Die Bücher, in denen unsere Taten aufgezeichnet sind, werden aufgetan. Es ist die Stunde der Rechenschaft.

Etwas dieser Art in Film oder Fernsehen zu sehen, kann ergreifend sein; aber selbst auf der Anklagebank sitzen: nein danke!

Man hat die Gegenwart das Zeitalter des Opfers genannt. Und daran ist etwas Richtiges. Wir sind unglaublich schnell dabei, uns als Opfer zu betrachten, als jemanden, der einem leid tun muss, als jemanden, für den andere nicht genug getan haben. Wir können die Reihe mit der ersten Enttäuschung im Kindesalter und Mobbing in der Schule beginnen lassen und dann mit Wartelisten und mangelhafter Krankenhausbehandlung fortfahren bis hin zu vergesslichen Pastoren und schlampigen Beerdingsinstituten.

Aber während wir recht tüchtig geworden sind, uns selbst als Opfer zu sehen und alle Verantwortung von uns zu weisen, haben wir uns manche Härte im Urteil über andre Menschen angewöhnt. „Das ist allzu ungerecht, jemand muss verantwortlich gemacht werden!" sagen wir - und beschweren uns und verlangen Schadenersatz und freuen uns, wenn „Ekstrabladet" [dänisches Boulevardblatt, etwa „die Bild"] die Verantwortlichen auf der ersten Seite bloßstellt. Wir möchten gern, dass es uns gut geht in unserem Leben, und wenn der Ehepartner, den wir zufällig gewählt haben, nicht so ganz der Deklaration entspricht in Bezug auf Stimmung und auf die Bereitschaft, seinen Teil des Aufwaschs zu erledigen, dann braucht man sich mit so einem Partner doch nicht abzuplagen. Und Drogenabhängige und andre Süchtige - bei denen besteht doch kein Grund, dass man so viel Steuergelder für sie verschwendet, sie sind doch selbst schuld - oder was ist eure Meinung dazu?

Während wir uns selbst in Windeseile mit Entschuldigungen aus der Affäre ziehen können, sind wir doch andren gegenüber mit der Zeit reichlich hart und gefühllos geworden. Wir fällen unablässig unsre Urteile und werden auch selbst unablässig beurteilt. Und das macht uns zu schaffen. Stress nennen wir es, und es macht uns krank.

Möglicherweise ist das der Grund, weshalb die Rede von Schuld und Verurteilung in der Kirche im Lauf der letzten Generation nahezu verstummt ist. Weil wir außerhalb der Kirche so sehr damit beschäftigt sind, uns gegenseitig zu be- und verurteilen.

Dann kommen wir hier in die Kirche, um etwas ganz andrem zu begegnen. Um Anerkennung und Liebe zu finden. Wir sehnen uns danach zu erfahren, dass wir mehr sind als unser Titel, der im Telefonbuch steht, und als unsere mit Hypotheken belastete Villa, in der wir wohnen, und das allzu teure Auto, mit dem wir herumkutschieren. Wir sehnen uns danach zu hören, dass das Leben mehr ist als all dies, dass Gott mehr in uns sieht als bloß dies. Dass Gott uns liebt, wie Eltern ihre Kinder lieben. Dass Gott unser himmlischer Vater ist. Dass jeder Mensch in sein Augen einmalig und unersetzlich ist - trozt unserer unbeglichenen Rechnungen und kaputten Ehen, unserer vernachlässigten Kinder und vergessenen alten Menschen.

Trost und nicht Züchtigung vermissen wir. Ich glaube, deshalb ist das Bild von Gott als dem Richter über unser Leben in der letzten Generation fast völlig in Vergessenheit geraten. Eine Entwicklung, die ein pensionierter Bischof bei seinem Übergang in den Ruhestand mit einem paradoxen Lächeln so charakterisierte: nach den Predigten zu urteilen, die er seinerzeit zu hören bekommen habe, sei Gott mit den Jahren immer milder geworden.

Aber vielleicht machen wir uns und allen andren etwas vor und betrügen uns um etwas sehr Wichtiges, wenn wir versuchen, das Gericht zu überhören. Vielleicht liegt das Gericht ja bei Gott in sichereren Händen als bei uns Menschen.

Würden wir es wagen, von Gott als dem Richter zu sprechen, dann würde das vielleicht die zahllosen Urteile, die wir über einander fällen, in eine wohltuende kritische Perspektive rücken. Wir be- und verurteilen einander doch oft auf recht oberflächlicher und unvollständiger Grundlage. Was wissen wir denn eigentlich davon, was sich im Herzen oder der Seele eines anderen Menschen regt? Wir urteilen von dem aus, was wir einfach so sehen können, und ein ums andere Mal urteilen wir falsch und ungerecht.

Wird Gott - der Gott, der uns geschaffen hat und der fortgesetzt unser Leben aufrecht erhält - wird der Gott, der uns besser kennt, als wir selbst uns kennen, nicht im Gegensatz dazu eine besserer Richter sein?

Ja, es mag sein, dass wir uns um unserer selbst willen, ein wenig krümmen; denn vor IHM wird es uns vielleicht nicht gelingen, die Rolle des Opfers so überzeugend zu spielen, wie wir es uns selbst gegenüber tun. Dafür aber würden wir genötigt sein, ein wenig mehr Zurückhaltung an den Tag zu legen, wenn wir unsere Urteile über andre fällen, weil wir doch wissen, dass wir nur die eine Seite der Sache kennen.

Aber auch für das Bild von Gott als dem Richter gilt, dass wir es nur mit Vorsicht zu benutzen haben. Wir müssen begreifen, dass der Gott, der das Universum geschaffen hat und noch immer die Macht ist, in allem, was ist, gegenwärtig zu sein - wir müssen begreifen, dass wir über ihn einzig in Bildern reden können. Niemand kann Gott von Angesicht zu Angesicht sehen und leben, heißt es im AT. Ja, die Alten besaßen so großen Respekt vor der Majestät Gottes, dass sie nicht einmal seinen Namen zu nennen wagten. Genauso aber, wie das Bild von Gott als dem großen Vater, der seine Kinder einfach nur grenzenlos liebt, unverbindlich und einseitig sein kann, so kann auch das Bild des Richters erstarren und verkrampft sein.

Genau dies war für so manche Menscshen unter den Zeitgenossen Jesu geschehen. Sie konnten sich Gott einfach nicht anders denken denn als denjenigen, der den Menschen die Zehn Gebote und die anderen Gesetze im Gesetz Moses gegeben hatte und der sorgfältig auf ihre Einhaltung achtete. Etwa das 3. Gebot vom Heiligen des Feiertages. Wenn Gott nun den Menschen dieses Gebot gegeben hatte, wie konnte Jesus dann einen Menschen an einem Feiertag heilen? Diese Situation führt zu dem Gespräch im heutigen Evangelium. Und Jesus zeichnet ein anderes Bild für seine Gesprächspartner als das des Richters, dessen einzige Richtschnur die Gesetzesbücher sind. Jesus sagt: mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch!

Also: Gott ist nicht nur der Richter, er ist auch der Schöpfer, der will, dass seine Geschöpfe leben und gedeihen können, das ist wichtiger für ihn als rigoristischer Gesetzesgehorsam.

Wenn Menschen sich in ein Bild von Gott als Richter gleichsam einsperren, so dass sie meinen, sie könnten Gott in die Karten kucken und sich an Gottes Stelle ein Urteil über andre erlauben - dann ist es nötig, andre Bilder ins Spiel zu bringen wie etwa das Bild, das Jesus heute für uns zeichnet. Nicht vom fernen Richter, der auf den Buchstaben des Gesestzes fixiert ist, sondern von dem Gott, der uns näher ist, als wir es uns selbst sind, von dem Gott, vor dem wir nichts verbergen können, von dem Gott, der in jedem Augenblick in unsrem Leben wirkt, von dem Gott, der die Sonne hat aufgehen lassen und uns einen neuen Tag anvertraut hat.

Sicherlich ist Gott der Richter, sagt Jesus, aber er ist der Richter, der - wie der Prophet Daniel es vor sich sah - das Gericht dem Menschensohn übertragen hat, einem Menschen, der von innen her weiß, was es heißt Mensch zu sein.

Als Christen glauben wir, dass Jesus der Menschensohn ist, dem Gott das Gericht überlassen hat. Wir glauben, dass Jesus Gottes Sohn ist, Gottes Ebenbild, dass wir in Jesus ein Bild von Gott bekommen haben, das es möglich macht, das Gericht auf neue Weise zu begreifen.

Denn mit Jesus geschieht dies, dass er uns Menschen zugleich entlarvt - man denke nur an seine Jünger, die ihn am Ende verrieten und leugneten und im Stich ließen - und sich dennoch zu uns bekennt.

Wenn wir daran glauben, dann sind wir vom Tod ins Leben übergegangen, sagt Jesus, denn dann können wir unsre eigenen Fehler und unser Versagen erkennen, weil wir wissen, dass Gott in uns mehr sieht als dies und dass wir fortgesetzt Menschen Gottes sind - trotz allem, trotz allem.

Wir können es nicht lassen, einander hier im Leben zu be- und verurteilen. Das Christentum befreit uns nicht von der Verantwortung, die wir füreinander haben. Manchmal müssen wir erkennen, dass wir liegen, wie wir uns gebettet haben, dass eine Rechnung ausgestellt ist, für deren Begleichung wir verantwortlich sind, dass wir gelegentlich an der Kasse zu bezahlen haben.

Aber wir sind nicht im Stich gelassen mit unsrer Verurteilung und dem Urteil, das andere über uns fällen.

Denn das eigentliche und endgültige Urteil ist Gott überlassen, es liegt in seiner Hand, die alle unsre Beurteilungen relativiert. Und sein Urteil hat sich mit Jesus als ein Freispruch erwiesen. Bittesehr: hier bekommst du einen neuen Tag. Nimm ihn und nutze ihn zur Ehre Gottes und zum Nutzen deines Mitmenschen.

Amen

 



Bischof Peter Fischer-Møller
DK-4000 Roskilde
E-Mail: pfm@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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