Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Ewigkeitssonntag, 25.11.2012

Predigt zu Matthäus 11:25-30 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Marianne Frank Larsen

 

Der Film "Sophie Scholl - die letzten Tage" ist die authentische Geschichte von Sophie, die mit ihrem Bruder als Protest gegen die nazistische Regierung in der Münchener Universität Flugblätter verteilt. Die Geschwister werden am 18. Februar 1943 verhaftet, am 22. Februar 1943 zur Mittagszeit wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. Der Film beruht auf den Vernehmungsprotokollen und den Erinnerungen der Menschen, die in den letzten Tagen im Gefängnis mit Sophie zusammen gewesen waren. Sophie wurde nur 21 Jahre alt. Es ist ein sehr trauriger Film. Aber zugleich ist es ein sehr schöner Film, weil er ihren Mut schildert, mit dem sie den Autoritäten Trotz bot und ohne jede Rücksicht auf die möglichen Folgen die Wahrheit sagte. Aufrecht sitzt sie im Vernehmungsraum, während sich die sie vernehmende Person aufregt, aufrecht steht sie im Gerichtsaal, während sie der Richter anschnauzt, aufrecht geht sie zur Guillotine. Zugleich sehen wir, wie sie große Angst hat und wie unglücklich sie ist, da die Tür ihrer Zelle ins Schloss fällt. Aber das sollen sie nicht sehen! Den Mut zu ihrer so freien Rede und ihrer so aufrechten Haltung hat Sophie nicht von sich selbst. Sie hat ihn von ihrem Vater daheim in Ulm. Diese Haltung hat er seine Kinder gelehrt. Aber sie hat den Mut auch von ihrem Vater im Himmel. Mit ganz wenigen Worten und ohne jede Sentimentalität spricht sie ein Gebet. „Unser Herz ist ruhelos, bis es in dir Ruhe findet," sagt sie, und wir erleben es, wie wenn Sophies Herz Ruhe in ihm findet. Wie wenn sie in etwas Ruhe findet, das größer ist als das System und größer als sie selbst, als sie zur Vernehmung und zur Hinrichtung geführt wird.

Unser Herz ist ruhelos, bis es Ruhe in dir findet, sagt Sophie, und diese Worte hat sie dem ehrwürdigen Kirchenvater Augustin von Mailand entlehnt, der im 4. Jahrhundert Bischof in Nordafrika war. Augustin hat nämlich am Anfang seiner Bekenntnisse (Erinnerungen) geschrieben: „Geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis es seine Ruhe hat in Dir." Sophies Herz ist ruhelos, weil sie an die denkt, die sie lieb haben. Was wird aus ihrem Vater werden, der schon wegen seiner Haltungen seine Stellung verloren hat, was wird aus ihrer Mutter werden, die kränklich ist und die Trauer über den Verlust ihrer Kinder nicht wird tragen können, was wird aus ihrem Freund werden, der an der Ostfront ist, was wird aus ihrem Bruder und seinen Freunden werden, und was wird aus ihrem eigenen jungen Leben werden? Aber auch wir, die wir nur unser ganz gewöhnliches Leben leben, kennen die Ruhelosigkeit des Herzens. Die Besorgnis unserer Kinder wegen, unserer Kranken wegen, unserer Eltern wegen, der Verdruss über das, was anders hätte sein sollen, der Kummer über das, was vorbei ist, schlaflose Nächte mit zahllosen Gedanken über das, was wir vorhaben, und über künftige Entscheidungen, die wir zu treffen haben, und das, was uns Angst macht, und was wir nicht schaffen. Augustin hat recht. Unsere Herzen sind ruhelos. Und so manche von uns können keine Ruhe finden in ihren Gedanken oder Gefühlen oder Ergebnissen. Wir ruhen nicht in uns selbst.

Und ich denke, das liegt in dem Wort „Ruhe" selbst. Wir finden sie nicht in uns selbst und in dem, was wir können, denn Ruhe bedeutet ja gerade, von uns selbst und dem, was wir können, zu lassen, - und von dem, was wir sollen und wollen und von den tausend Dingen, die wir selbst denken und fühlen und merken. Erst dann fallen die Augen zu, und Leib und Sinn bekommen die Ruhe, die wir so nötig brauchen. Das gilt buchstäblich, aber es gilt auch in übertragenem Sinn: Wollen wir Ruhe finden, wie Sophie im Vernehmungsraum, dann müssen wir etwas anderes als uns selbst haben, worin wir Ruhe finden können. Etwas oder jemanden, das oder der uns so, wie wir sind, umgreift und wärmt. Sophie ruht in der Liebe ihres irdischen Vaters, in seiner aufrechten Haltung und seinem bedingungslosen Vertrauaen zu ihr. Und sie ruht in der Fürsorge ihres himmlischen Vaters und seiner guten Verheißung eines neuen Anfangs trotz der Tatsache, dass alles vorbei ist. Ich könnte auch sagen, dass sie in seinen guten Händen ruht. Und das ist kein Ruhekissen. In seinen guten Händen kann Sophie sich aufrichten und das Notwendige sagen, mit einer Ruhe, die die wütenden Bediensteten, mit denen sie sich auseinanderzusetzen hat, als jämmerliche Winzlinge bloßstellt.

Kommt zu mir, ihr, die ihr euch abplagt und an schweren Lasten tragt, und ich will euch Ruhe geben. Das sagt Jesus im Evangelium von heute zu uns, und das ist es genau, was wir gerade jetzt brauchen. Nicht im Mai oder im Juni, wenn das Licht täglich zunimmt und der lange Sommer voller Grün vor uns liegt. Sondern eben jetzt, im November, wenn die Dunkelheit stündlich zunimmt und die Herzen ruhelos werden aus Verlust und Sorgen und wir uns müde plagen, ohne Ruhe finden zu können. Eben jetzt kommen die Worte zu uns wie ein Ruf, der uns anrührt und uns trifft. Ja, da ist jemand, der uns Ruhe schenken will. Die Ruhe, in die er uns hineinruft, ist die Ruhe, in der er selbst spricht und handelt. Mit geradem Rücken und freiem Wort, ohne Furcht vor dem, was es kosten mag, die Wahrheit zu sagen, ruht er darin, dass Gott sein Vater und er selbst Kind Gottes ist. Und er ruft uns in dasselbe Verhältnis, in dieselbe Ruhe, in dasselbe Vertrauen. In das Vertrauen, dass wir geliebte Kinder seines himmlischen Vaters sind. Ungeachtet, wie alt wir sein mögen, und ungeachtet, wo wir in unserem Leben stehen, ungeachtet, was uns gelingen und was uns nicht gelingen mag, ungeachtet, was wir verloren haben und was wir verspielt haben mögen.

Ruhe, sagt er, aber im selben Atemzug spricht er von Joch und Lasten, die wir auf uns nehmen sollen, und für unser Verständnis ist das genau das Gegenteil von Ruhe. Joch und Lasten - das pflegt all das zu sein, was uns beschwert, alles, was uns ermüdet und verschleißt. Aber Jesus behauptet, dass sein Joch gut und seine Bürde leicht ist, und so müssen wir denn selbst nachdenken, was für ein Joch und was für eine Bürde das ist. Eine gute Antwort auf die Frage ist, dass es das Joch und die Bürde ist, die darin besteht, sich klar zu machen, dass wir nicht alles allein zu bewältigen haben. Dass wir in unseren eigenen Gefühlen und unseren eigenen Ergebnissen keine Ruhe finden können, wie viele Visionen und Strategien auch immer wir uns ausdenken mögen und wie viele Techniken auch immer wir erlernen, wie viele Selbsthilfekurse wir belegen und in welchem Maße auch immer wir uns konzentrieren mögen. Denn das ist ja ein Joch und eine Bürde für unsere Eitelkeit und unsere Selbstbehauptung. Dass wir nie in uns selbst Ruhe finden können, wenn wir nicht in einem Anderen Ruhe finden. Es ist das Gegenteil von dem, was wir gewöhnlich denken. Es ist ein so schweres Joch, sich damit zu konfrontieren - oder ich könnte auch sagen: es ist so provokant, dass es ihn das Leben kosten sollte. Er, der gekommen ist, um Menschen Ruhe zu schenken, bekam hier bei uns keinerlei Ruhe. Im Gegenteil: er wurde verraten, verfolgt, gefangen genommen und getötet wegen der Art und Weise, wie er von Gott und Menschen sprach, und wegen des Geschenks der Ruhe, die er gab. Ja, selbst am Kreuz hängt er und ruft uns zu sich.

Wir glauben, dass er von den Toten auferstanden ist, und deshalb können wir hören, was er sagt, wenn er uns heute ruft. Und wenn wir genau hinhören, entdecken wir, dass die Bürde und das Joch, das er uns auferlegt, das ist, was er selbst trägt, von Herzen sanftmütig und demütig, wie er ist, ohne alle Selbstbehauptung, ohne einen einzigen Halt an Eigentum oder Karriere oder Visionen oder Strategien. Er erliegt nie der Versuchung, sich selbst zu behaupten. „Nest hat der Vogel, der Fuchs seinen Bau" (vgl. DDS 163), er aber hat absolut nichts, wo er sein Haupt zur Ruhe betten könnte. Er ruht ausschließlich im Verhältnis zu seinem Vater. Er ist fortgesetzt der Sohn seines Vaters und unser Bruder - und nichts sonst. Und wenn wir es fühlen, dass er uns das Joch auferlegt, dann entdecken wir: zwar lastet es auf uns, zu erkennen, dass wir einen Anderen brauchen. Aber es ist zugleich ein richtiges und gutes Joch und eine verblüffend leichte Bürde, weil es uns darauf festhält, dass wir nicht nur wir selbst sind. Wir sind die geliebten Kinder seines Vaters. Und das ist gewissermaßen eine Erleichterung. Es ist ein Verhältnis und eine Identität, in der wir Ruhe finden können.

Heute ist der letzte Sonntag des Kirchenjahres. Wir beeilen uns, um alles Nötige zu erledigen, und die Herzen schwanken, während es um uns immer dunkler wird. Aber auf der Schwelle zum Winter steht einer, der uns ruft, und wenn wir genau hinhören, können wir einen feinen und hellen Klang in seinen Worten vernehmen, ein Verheißung von etwas, das kommt. Die Dichter der Kirchenlieder haben das auch schon jetzt im November vernommen. Es ist der Klang der Stimmen der Engel in der Weihnacht. Friede den Menschen, singen sie. Ich will euch Ruhe geben, sagt er, und die Worte verflechten sich miteinander, denn hier steht ER, ER, der selbst Gottes Friede für die Menschen ist, und er schenkt uns die Ruhe, die wir so sehr brauchen. Ein Vater, der uns in seinen guten Händen hält und uns als seine eigenen teuren Kinder ansieht. Unsere Herzen sind ruhelos, bis sie in ihm Ruhe finden.

Amen

 



Pastorin Marianne Frank Larsen
Taulov, DK-7000 Fredericia
E-Mail: mfl@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


(zurück zum Seitenanfang)