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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag im Advent, 02.12.2012

Predigt zu Lukas 1:67-79, verfasst von Wolfgang Vögele

 

 

Fußspuren und weitere Kleinigkeiten der Heilsgeschichte

Friedensgruß

Der Predigttext für den 1.Advent steht bei Lk 1,67-79:

„Und sein Vater Zacharias wurde vom Heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen. Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens."

Liebe Gemeinde,

vor dem bärtigen Pfarrer im unauffälligen braunen Pullover saß eine ältere und in sich zusammengesunkene Frau, das ergrauende Haar mit Kamm und Nadeln zu einem Dutt gesteckt. Gern würde ich einen kleinen Strauß roter Nelken an ihr Grab legen, sagte sie und wollte sich nicht beruhigen. Sie hat Nelken immer so sehr geliebt.

Aber auf dem Friedhof ist das Grab nicht zu sehen und nicht zu finden. Darum wandte sich die verzweifelte Nachbarin mit dem Dutt an den Pfarrer. In seinem mit Büchern vollgestopften Büro versuchte der Pfarrer, sie zu beruhigen. Er zündete seine Pfeife und eine Kerze an. Die Frau mit dem Dutt fing an zu reden: Meine freundliche Nachbarin aus der Wohnung gegenüber war plötzlich verschwunden, als ich von einer Kur zurückkam. Es stellte sich heraus, sie war an einem Herzinfarkt gestorben. Es gab keine Angehörigen und keinen amtliche Betreuerin, auch keinen Besitz, der an Erben zu verteilen gewesen wäre. Das Sozialamt löste die Wohnung auf und verfügte eine anonyme Bestattung. Schlichter Sarg, Verbrennung im Krematorium, keine Trauerfeier, Bestattung der Urne in einem anonymen Gräberfeld.

Manche Menschen hinterlassen in der Welt keine Spuren, nicht einmal einen Grabstein oder ein Kreuz mit Namen, Geburts- und Todesjahr. So war es mit dieser Nachbarin: Mit ihrem Tod war sie vergessen. Sie hatte nicht einmal ein Grab hinterlassen. Erinnerung aber braucht einen Anhaltspunkt, einen Brief, ein Foto oder einen Grabstein mit einem Namen.

So schien es. Aber in diesem Fall war es anders. Die Nachbarin mit dem Dutt erinnerte sich. Und sie suchte auf dem Friedhof nach dem Grabstein. Die Verstorbene war evangelisch, also wandte sie sich an den Pfarrer der Gemeinde. Der telefonierte mit dem Friedhofsamt. Aber das Friedhofsamt gibt bei anonymen Bestattungen die genaue Lage des Grabes nicht heraus. Es nennt nicht einmal die Nummer des Gräberfeldes. Das Leben der toten Frau war verschwunden, es hatte sich in Asche aufgelöst. Nichts war von ihr übrig geblieben, kein Urlaubspostkarte, kein Tagebuch, kein Familienalbum, kein Stammbuch. Mülltonne, Entrümpelungsfirma und fünfzig Zentimeter unter dem Rasen eine Urne mit einem Kilo Asche.

Vielen Menschen wollen das auch so, sie wollen nach siebzig oder achtzig Jahren Lebensgeschichte ohne Spur aus dieser Welt verschwinden. Oder sie können nicht anders. Sie stehlen sich aus der Geschichte davon als ob sie nie dagewesen seien. Andere Menschen wollen bleiben. Sie haben den tiefen Wunsch, in der Erinnerung zu bleiben. Wer in der Erinnerung anderer Menschen bleibt, lebt weiter.

Mir ist das aufgefallen an dem Film „Cloud Atlas" mit Tom Hanks und Halle Berry, der im Moment in den Kinos läuft. „Cloud Atlas" zeigt kunstvoll wie das Leben von sechs Menschen in ganz unterschiedlichen Zeiten miteinander verwoben und verknüpft ist, zur Zeit des Sklavenhandels im 19.Jahrhundert in Neuseeland, im 20.Jahrhundert zur Zeit der Ölkrise und in der Zukunft, im 22.Jahrhundert, nach einer schrecklichen atomaren Katastrophe. Der faszinierende Film lebt von überwältigenden Bildern, von schnellen, manchmal verwirrenden Schnitten zwischen den Zeitebenen und von den Schauspielern, die unter verschiedenen Masken und Rollen stets dieselben bleiben. Gegen Ende dieses Films kommentiert eine Stimme aus Hintergrund: „Unsere Leben gehören nicht uns. Wir sind verbunden mit anderen. In Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft." Alles ist mit allem anderen verbunden. Nichts geht verloren. Auch in einem anonymen Grab verschwindet das Gedächtnis an einen Menschen nicht. Das ist noch kein richtig christlicher Gedanke, aber mir geht es vor allem um das Moment der Dauer über die Grenzen von Geburt und Tod hinweg.

Denn genau darum erinnern wir Christenmenschen uns heute an den schweigenden Psalmsänger Zacharias. Heute ist der erste Advent, Anfang der Vorbereitung auf Weihnachten, auf die Geburt des himmlischen Kindes. Advent lehrt den Blick auf Kleinigkeiten, auf das Abseitige und das Unscheinbare, das Unaufdringliche. Bethlehem ist nicht New York oder Shanghai. Joseph und Maria waren nicht die Kennedys oder die Rothschilds. Und der Stall war kein Hilton oder Marriott Hotel. Und der Erlöser war keine umjubelte Lichtgestalt und kein machtbewußter Generalsekretär. In der Weihnachtsgeschichte und in ihrem Vorfeld handeln unscheinbare, unauffällige Menschen, die man nach ihrem Tod in vergessenen anonymen Gräbern erwartet hätte.

Zacharias und seine alte Frau Elisabeth sind eine Fußnote dieser Weihnachtsgeschichte, ein unbedeutendes Detail. Als einziger scheut sich der kluge Evangelist Lukas nicht, in liebevoll ausgemalten Details die Geschichte des stummen Zacharias zu erzählen. Der wollte ja gar nicht glauben an die leuchtende Zukunft der Heilsgeschichte, zu der er zusammen mit seiner altgewordenen Frau Elisabeth beitragen sollte. Im Tempel erlegte ihm der verkündigende Engel darum ein Schweigen auf, das bis zur Geburt seines Sohnes dauern sollte.

Elisabeth wird schwanger trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Sie erhält Besuch von ihrer Verwandten Maria. Bei beiden schwangeren Frauen hüpfen die ungeborenen Babys im Bauch. Nach neun Monaten schenkt Elisabeth einem Jungen das Leben. Am zehnten Tag nach der Geburt wird er beschnitten. Und er erhält den Namen Johannes. Er wird der Täufer, der Wüstenprediger, der Freund Jesu und der hingerichtete Feind des Herodes sein.

Johannes bedeutet: Gott ist gnädig. Der Name erinnert an Gott. Aber Zacharias muß diesen Namen gegen die an der familiären Konvention orientierten Verwandten durchsetzen. Das Kind erhält nicht den Namen des Vaters. Johannes soll er heißen, schreibt Zacharias stur auf eine Tafel. Das ist der Moment, in dem er seine Stimme wieder gewinnt. Und dann singt er den Lobpsalm, den wir vorhin als Predigttext gehört haben. Wichtig ist: Zacharias wird vom Heiligen Geist erfüllt. Er freut sich über die Geburt seines Sohnes. Lobend und jubelnd hat er erkannt, daß sein schreiender und schlafender Sohn von wenigen tausend Gramm hineingehört in die Heilsgeschichte, die Gott mit Israel begonnen hat. Dazu gehören Abraham und Sara, die im selben hohen Alter wie Zacharias und Sara einen Sohn bekommen haben. Dazu gehören Mose und das versklavte Volk in Ägypten, das sich seinen Auszug aus der Sklaverei erkämpfte . Dazu gehören die Könige Israels wie David und Salomo, aber auch Propheten wie Amos und Jesaja. Dazu gehört das bittere Exil in Babylon und die Rückkehr nach Jerusalem mehrere Generationen später. Dazu gehört eben auch das kleine Baby, das schlafend vor dem Psalmsänger liegt. „Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen." Für Zacharias ist es schon Advent und Weihnachten geworden, obwohl er von diesem Fest noch gar nichts weiß. Für ihn ist Advent, weil er spürt, daß sein Kind in diese Geschichte Gottes mit den Menschen hineingehört. Über die Einzelheiten weiß er noch nicht Bescheid. Aber er ist sich sicher: Dieses Kind gehört auf die Lichtseite der Weltgeschichte, hinein in das strahlende Leuchten, mit dem Gott dieser dunklen Welt und ihren Schattenseiten entgegenkommt.

Deswegen wurde und wird dieser Lobgesang des Zacharias immer am Morgen gesungen, im Bewußtsein der Sonne, die im Osten aufgeht, dort wo Jerusalem, der Zionsberg und Bethlehem liegen. Das Tagzeitengebet der Laudes begrüßt den rettenden und heilenden Gott gleichzeitig mit der aufgehenden, über den Horizont steigenden und leuchtenden Morgensonne. Gottes Gnade wärmt und füllt die Menschen in der Dunkelheit mit Licht.

Zacharias singt. Er spricht ein Gedicht. Er spricht von der heilenden Sogwirkung des Kindes in der Krippe von Bethlehem. Der christliche Glaube lebt nicht nur von diesem Kind in der Krippe, auch wenn es im Zentrum unseres frommen Vertrauens steht. Dieses Kind hat Vorgänger, Wegbereiter und Zeichengeber. Andere Menschen folgen ihm nach. Die Spur Gottes in der Welt ist nicht nur ein ausgedehnter Punkt, der sich über die dreißig Jahre des Lebens Jesu hinzieht, von der Krippe zum Kreuz, sondern ein ausgedehnter Weg, der sich durch die Katastrophen, Verschlingungen und Umwege der Weltgeschichte zieht. Auf diesem Weg, sehr am Anfang, geht der alternde Abraham mit seiner Frau Sara, der, längst im Ruhestand, noch einmal aufbrach in ein neues Land. Auf diesem Weg geht der genauso alternde Priester Zacharias, der für einen Moment lang an Gottes Gnade gezweifelt hat, um sich dann stumm ein Jahr lang vorzubereiten auf den Jubelgesang, der der Geburt seines Sohnes Johannes folgen sollte. Auf diesem Weg geht schließlich Johannes selbst, der Wüstenprediger und Freund Jesu, der Prophet und Bußprediger, den Maler wie Matthias Grünewald als Fingerzeiger dargestellt haben. Johannes deutet mit dem Finger auf den Gekreuzigten.

Aber auf diesem Weg gehen auch nach Jesu Leben und Kreuzigung Menschen, die sich nicht beirren lassen von klerikalen Verirrungen. Johannes der Täufer, der da als Säugling in einem Bettchen liegt, weiß noch nichts von seiner Aufgabe als Prophet und Friedensstifter. In seine Aufgabe als Freund Jesu muß er erst noch hineinwachsen. Aber er wird hineinwachsen. Gerade deshalb ist er im Gedächtnis des Christlichen haften geblieben, als ein Vorgänger und Vorbereiter - und deswegen als ein Nachfolger Jesu. Nachfolgen und Vorbereiten ergänzen sich zu einer Einstellung, die vom Friedensstiften ebenso geprägt ist wie von kompromißloser Bußpredigt. Die Menschen damals müssen das zu schätzen gewußt haben, denn sonst wären sie nicht in Scharen in die Wüste gepilgert, um den Predigten des Sohnes von Zacharias zu lauschen.

Zacharias, der Psalmensänger und Priester mit der wiedergewonnenen Stimme, er weiß genau um die Wegstrecke, die Gott mit den Menschen zurücklegt. Er ist nicht verdammt, in einem späteren Leben für die Fehler im zuvor gelebten Leben zu büßen. Er hat sich eingespurt auf den Weg Gottes mit den Menschen. Zacharias, der Psalmsänger, ist ein guter Lehrer. Er bringt uns bei, im Leben die Spuren Gottes zu sehen und ihnen ein kleines Stück zu folgen. Sein Sohn bringt uns bei, in Buße auf diesen Weg Gottes umzukehren, wenn wir die Spur wieder einmal aus dem Blick verloren haben.

Aber Gott leuchtet uns - am ersten Advent mit einer einzigen Kerze, die uns zurückbringt an die Krippe, zum Leben Jesu, zum Kreuz und am Ende auch zum Wunder der Auferstehung. Das ist der Weg des Friedens, auf den Gott die Menschen ausrichtet. Es ist anders: Mit jedem Schritt auf dem Weg zu Gott bereiten wir unsere Zukunft vor. Amen.

 



Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele
76133 Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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