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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christnacht, 24.12.2012

Predigt zu Hesekiel 37:24-28, verfasst von Jennifer Wasmuth

 

Liebe Gemeinde,

was ist es, was uns antreibt, uns umtreibt? Worauf richtet sich all unser Sehnen, unser innigstes Verlangen?

Sind es die großen politischen Fragen unserer Zeit?

Wie wir in unserem Land mit einer Gesellschaftsentwicklung umgehen, die das Verhältnis von Jung und Alt radikal verschieben wird?

Welche Zukunft Europa hat, diese einzigartige Idee eines dauerhaft befriedeten Kontinents, die gegenwärtig bis zur Unkenntlichkeit von Finanzfragen überschattet wird?

Wie sich Konflikte weltweit lösen lassen, Konflikte angesichts knapper Ressourcen, massiver sozialer Ungleichheit, vielfältiger kultureller und religiöser Verschiedenheit?

Oder sind es die Fragen im Kleinen, die uns ganz persönlich betreffen?

Wie wir berufliche Wünsche verwirklichen, den nächsten richtigen Schritt tun, uns gegenüber der Konkurrenz profilieren, uns im Bewerbungsgespräch glänzend präsentieren? Vielleicht aber auch gerade: Wie wir all das hinter uns lassen, den Karrierezwang abstreifen, uns eine Auszeit gönnen, Gelassenheit in einem gnadenlos hektischen Alltag gewinnen?

Wie wir gesund bleiben - was wir tun können, um nicht krank zu werden? Wie wir uns ernähren, unseren Leib und unsere Seele so stärken, dass wir nicht Gefahr laufen, Schmerzen ausgesetzt und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein? Oder aber wenn wir mit Krankheit konfrontiert werden, wie wir damit umgehen, wie wir dem Leben trotz aller Schwere etwas abgewinnen können, wie und wo wir die Kräfte finden, um nicht bitter zu werden?

Was wir unseren Kindern und Kindeskindern mit auf ihren unbestimmten Weg geben? Womit wir das Fundament, auf dem sie stehen, stützen, ihnen äußere Sicherheit und innere Stärke verleihen? Wie wir ihn erklären, worauf es im Leben wirklich ankommt, ohne sie in ihrem eigenen Sehnen und Verlangen einzuengen?

Von einer zutiefst empfundenen Sehnsucht lesen wir im Buch des Propheten Ezechiel, einem der großen Visionäre in vorchristlicher Zeit. Hinter Ezechiel lag die Erfahrung einer alle Bereiche des Lebens erschütternden Krise, die Deportation ins babylonische Exil. Der endgültige Niedergang des Reiches Juda und damit der Verlust der politischen Selbständigkeit zeichneten sich ab, nachdem bereits zuvor das Reich des jüdischen Volkes im Norden untergegangen war. Bei Ezechiel wird die dadurch verursachte existentielle Not unmittelbar spürbar - zugleich aber auch sein Bemühen darum, Gründe für die radikalen Umbrüche aufzuzeigen und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln.

Getragen ist Ezechiel dabei von einem unerschütterlichen Glauben an den Gott Israels: dass Gott in dieser Notsituation sein Volk nicht allein lässt, ja, mehr noch, dass es allein an Gott liegt, sein Volk aus der Krise herauszuführen und ihm eine neue Existenz zu schenken. Im Buch des Propheten Ezechiel begegnen wir deshalb vielfach direkter Gottesrede, so in dem folgenden Abschnitt, in dem Gott seinem Volk ein neues Königreich unter einem neuen Herrscher verheißt (Ez 37,24-28):

24: Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun.

25: Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und ihre Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein.

26: Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer.

27: Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein,

28: damit auch die Heiden erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.

In dieser Verheißung wird an die glänzendste Periode in der Geschichte des jüdischen Volkes angeknüpft - als es noch ein Königreich unter der Herrschaft der davidischen Königsdynastie gab. Gott selbst kündigt hier an, dass er den alten Zustand wiederherstellen wird: ›Sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben‹. In Aussicht gestellt wird aber nicht nur die Wiederherstellung dieses alten Zustandes, sondern zugleich die Überbietung. Denn verheißen wird: ›Sie und ihre Kinder und ihre Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein.‹ Gott will einen ›Bund des Friedens‹ mit ihnen schließen, der soll ›ein ewiger Bund mit ihnen sein‹. Gott ›will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein‹, und sein Heiligtum wird ›für immer unter ihnen sein‹. Die Verheißung sprengt die Grenzen der Zeit, sie ist auf unbegrenzte Dauer gerichtet, auf die Ewigkeit. Vor allem aber ist sie ausgezeichnet durch etwas, was Ezechiel für seine eigene Zeit gerade beklagt: durch die Gegenwart Gottes, durch ein inniges Bezogensein von Gott und seinem Volk: ›Ich ... will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein.‹

Bereits die ersten christlichen Zeugen haben in Jesus den verheißenen ›Knecht David‹ erkannt. Was bei Ezechiel als ferne Zukunftsvision begegnet, fanden sie in Jesus erfüllt. Und auch wir bekennen mit unserem christlichen Glauben bis heute Jesus als den Christus, den Gesalbten, geboren in Betlehem aus davidischem Geschlecht, gestorben als König der Juden in Jerusalem.

Dieser Jesus wurde als machtvoll erfahren - und wird es bis heute. Es ist die Macht des »König der Ehren«, des »Herrscher der Heerscharen«, eine Macht, die uns die gewisse Zuversicht gibt, dass das Leben über den Tod triumphiert, die Hoffnung, dass am Ende nicht die Kräfte der Zerstörung siegen, sondern Gott selbst sein Reich errichten wird.

Es ist zugleich eine Macht, die uns ganz nahe kommt: mitten in unser zerbrechliches Leben hinein. Auf den ersten Blick scheint das vielleicht eher ein Ausdruck göttlicher Ohnmacht zu sein: Gott wird wie wir, macht sich klein, verletzlich. Aber gerade darin lässt sich seine uns im Innersten berührende und uns verwandelnde Größe erfahren.

Was widersprüchlich erscheint, ist tatsächlich gar nicht weit entfernt von dem, was wir auch in unserem menschlichen Miteinander erleben können. Denn als starke Stütze erfahren wir doch jene, die in der Lage sind, für andere da zu sein - ohne das aus Gründen gesellschaftlicher Anerkennung oder gar finanziellem Gewinn zu tun, ohne sich andererseits jedoch selbst aufzugeben: Mütter und Väter, Großeltern, die sich mit großer Geduld auf ihre Kinder einstellen, nicht ihre eigenen Interessen verfolgen, sondern für die Kinder da sind, wann immer sie gebraucht werden; Pflegekräfte, die täglich mit der Not von Kranken und ihren Familien zu tun haben, die dabei nicht nur körperlich gefordert sind, sondern auch viel Einfühlungsvermögen zeigen, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden; Mitarbeiter in klinischen Einrichtungen, die sich um depressive Menschen kümmern und damit der ungeheuren Wucht negativer Gefühle von denjenigen ausgesetzt sind, die für sich keinen Sinn im Leben erkennen können. Die nötige Ruhe und Gelassenheit kann hier nur aufbringen, wer viel Kraft in sich selbst hat.

Und so ist Christi Geburt, die wir heute feiern, kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil, was der Prophet Ezechiel sich sehnlichst gewünscht hatte, das gelangt für uns in Christus zur Erfüllung: dass Gott Wohnung unter uns nimmt, er unser Gott und wir sein Volk sind, dass er der Herr ist, der heilig - und das heißt ja, heil ‒ macht, dass sein Heiligtum mitten unter uns ist.

Amen.



Dr. theol. Jennifer Wasmuth
Berlin
E-Mail: Jennifer.Wasmuth@rz.hu-berlin.de

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