Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christvesper, 24.12.2012

Predigt zu Lukas 1:1-20, verfasst von Reinhold Mokrosch

 

Lasst uns roh und garstig sein"

 

I.

Lasst uns roh und garstig sein" - so höre ich diejenigen singen, die nichts, aber auch gar nichts mit Weihnachten anfangen können. Sie halten das, was uns zu Weihnachten stimmungsmäßig ergreift und innerlich bewegt, für Gefühlsduselei. Und manche von ihnen versuchen, zynisch gegenzusteuern. Wie die Gruppe hart gesottener, unsentimentaler Männer, die sich in Berthold Brechts Essay „Das Paket Gottes" am Heiligen Abend in einem Pub in Chicago wärmten.

Der eisige Dezember-Sturm raste vom Michigan-See her und fegte durch Chicagos eis- und schneebedeckte Straßen. Die Arbeitslosigkeit ließ uns alle verzweifeln. Die Stadt roch nach modrigem Whisky. Der Schlachthof hatte dicht gemacht und unzählige Arbeitslose auf die Straße gespült. Wir waren froh, wenn wir am Abend im überfüllten Pub noch in einer Ecke Platz fanden und an unserem wässrigen Whisky-Glas nippen konnten. Es musste ja für die ganze Nacht reichen, in der Wärme mit dem Lärm der Kameraden.

So saßen wir auch am Weihnachtsabend zusammen. Trostlos, wächsern und hoffnungslos. Plötzlich traten drei Burschen herein. Sie hatten, weiß der Teufel woher, ein paar Dollar in der Tasche und gaben uns Whisky aus. Die Stimmung kippte um. Es wurde heiter. Aber irgendwie nicht fröhlich. Ja, es breitete sich eine geradezu bösartige, sarkastische Stimmung aus. Wir beschlossen nämlich, Geschenke zu verteilen: Der geizige Wirt erhielt einen rostigen Kübel mit Schneewasser, damit er auch im Neuen Jahr den Whisky verdünnen könnte. Dem Lokalmädchen schenkten wir ein rostiges Messer, damit sie ihre verkrustete Schminke abkratzen konnte. Und einem völlig in sich versunkenen schlaksigen Typ in der Ecke, der immer „Polizei" und „Bullen" murmelte, schenkten wir zwei Seiten mit Adressen von Polizeistationen, die wir aus dem Adressbuch des Wirtes rausgerissen hatten. Diese Seiten hatten wir mit einer Zeitung verpackt und mit Band verschnürt.

Und dann geschah etwas, was ich meinen Lebtag nicht vergessen werde: Der schlaksige Typ wickelte die zerknitterte Zeitung auf und beugte sich in sie hinein, wie ich noch nie einen Menschen habe lesen sehen. Plötzlich hellte sich sein wächsernes Gesicht auf. Er grinste, lachte und kicherte: „Da lese ich in der Zeitung", stotterte er, „dass die Sache längst aufgeklärt ist; und jeder in Ohio weiß, dass ich mit dieser Sache nichts zu tun habe!" Ha, ha, - er verschluckte sich vor Lachen. Er brüllte vor Erleichterung. Wir standen verblüfft um ihn. Nur einige begriffen, dass er aus diesem Zeitungsblatt erfahren hatte, dass er gerechtfertigt sei. Einige lachten mit. Aber nur wenige begriffen, dass nicht wir die Zeitung zum Einwickeln eingelegt hatten, sondern Gott."

II.

„Lasst uns roh und garstig sein" mögen diese hoffnungslosen Männer in diesem Essay von Bert Brecht gedacht und gesungen haben, als sie ihre bitter bösen, zynischen Geschenke verteilten. Von Solidarität oder gar Weihnachtsliebe keine Spur! Sie waren verbittert und wollten andere verbittern. Sie waren verachtet und wollten andere verachten. Sie waren vom Schicksal betrogen und wollten andere auch betrügen. „Lasst uns roh und garstig sein" war ihr Weihnachtsmotto.

Der schlaksige Typ war schon lange verbittert. Er fühlte sich beschuldigt. Und er fühlte sich schuldig. Ob zu Recht oder Unrecht, bleibt offen. Er fühlte sich von Polizei-Bullen verfolgt und gejagt. Und die zynischen Kameraden wollten ihn noch tiefer in den Abgrund reißen. Verzweiflungsspott und diabolisches Schadengelächter hatte sie motiviert.

Und dann geschah das Weihnachtswunder: In der alten, zerknitterten Einwickelzeitung las der schlaksige, wächserne Mann, dass man ihn frei gesprochen, rehabilitiert und gerechtfertigt habe. Er wusste von nichts, hatte keine Ahnung. Und plötzlich: die Befreiung! Und dann endet der religions- und kirchenkritische Berthold Brecht sein Essay mit dem Satz: „Nicht wir hatten die Zeitung eingelegt, sondern Gott."

Liebe Christvesper-Besucher! Wir wissen, wann Weihnachten kommt: immer am 24. Dezember. Pünktlich! Für manche zu pünktlich! Das ist keine Überraschung. Aber wir wissen nicht, wann wir urplötzlich befreit werden von einer drückenden Last. Zu Weihnachten? Wahrscheinlich nicht. Das Fest bietet in der Regel zu wenige Überraschungen, weil oft alles geregelt ist. Every year the same procedure!

Aber wir könnten jetzt in der Weihnachtszeit nachdenken, was uns bedrückt. Was lastet bewusst oder unbewusst auf deiner Seele? Was bedrückt Dich wirklich? - Der schlaksige, wächserne Mann saß allein für sich, im Lärm der Kameraden, zusammen gekrümmt. Auch wir kennen solche Situationen. Um uns herum ist Lärm und Getriebe. Wir sind allein und traurig; unendlich traurig. Andre verstehen uns nicht. Und noch schlimmer: Sie verspotten uns. Gibt es dann ein solches Wunder der Befreiung von meiner drückenden Last? Wie könnte das aussehen, ein solches Weihnachtswunder? Ein Kind freut sich an der glänzenden Weihnachtsstube und an dem Lachen und Singen der anderen. Ein Patient freut sich, wenn die Angst ein Ende hat, weil der Arzt eine beruhigende Prognose ausgesprochen hat. Ein Vater, dem die Hand ausgerutscht ist und der Gewissensbisse hat, ist erleichtert, wenn sein Sohn ihm vergibt. Und ein Partner, der fühlt, seiner Geliebten immer etwas schuldig geblieben zu sein, ist befreit, wenn seine Partnerin ihm versichert, dass er ihr nichts schulde. Sind das Weihnachtswunder? Sind das Befreiungswunder?

III.

Wieso hat solche Befreiung von Schuldenlast mit Weihachten zu tun? Der Predigt-Text für unsere Christvesper, liebe Weihnachtsgemeinde, ist der „Lobgesang des Zacharias" im 1. Kapitel des Lukas-Evangeliums. Er steht also noch vor der bekannten Geburtsgeschichte Jesu, die wir gerade gehört haben. Der weise Zacharias singt da ein Loblied auf den neu geborenen kleine n Johannes, der später „der Täufer" genannt werden wird. In diesem Loblied sing der weise Zacharias:

Und Du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen, / Denn Du wirst dem Herrn vorangehen, um seinen Weg zu bereiten / und Erkenntnis des Heils gibst seinem Volk / in der Vergebung ihrer Sünden / durch die Barmherzigkeit unseres Gottes, / durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, / damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, / und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens." / Und das Kind wuchs, wurde stark im Geist. Und er war in der Wüste bis zu dem Tag, an dem er vor das Volk Israel treten sollte. (Lk 1, 76 - 80)

Der Visionär Zacharias visioniert den Lebensweg von Johannes, der später der „Täufer" genannt wurde: Johannes bereitet den Weg für Jesus Christus. Zacharias visioniert mit drei anschaulichen Bildern: (1) Dieser Jesus Christus bringt Gottes Licht in die Welt. Die Welt wird künftig strahlen und leuchten. Warum? (2) Weil Menschen sich von drückender Schuldlast befreit fühlen; weil, wie Zacharias es ausdrückt, alle Sünden und Schulden getilgt sind. (3) Und weil es, wenn Menschen sich von Sorgen befreit fühlen und sich untereinander von Sorgen befreien, Frieden geben kann. „Er führt unsere Füße auf den Weg des Friedens" (V 79).

IV.

Diese drei Bilder von Zacharias passen m.E. genau zu dem Geschehen in der trostlosen Kneipe von Chicago: (1)Göttliches Licht strahlte plötzlich und unerwartet. Der schlaksige, wächserne Typ erhellte, lächelte, strahlte, als er die Befreiungs-Nachricht las. (2) Er fühlte sich total rehabilitiert, befreit und gerechtfertigt! Endlich! Alle Lasten und Beschuldigungen fielen von ihm ab. Ob er wirklich schuldig geworden war oder nicht, spielt jetzt keine Rolle mehr. Er ist befreit. Weihnachten kann beginnen! (3) Und möglicherweise beginnt für ihn ein Leben im Frieden. Freilich ist das nicht garantiert. Und es ist erst recht nicht garantiert, dass die zynischen, verzweifelten Kameraden um ihn herum Frieden erleben; und erst recht nicht, dass sie zu Friedensstiftern werden. Sie waren verwundert und lachten, ja strahlten mit.

Liebe Weihnachtsgemeinde, wir sollten aufmerksam werden, wo das Weihnachtswunder der Befreiung von Last und Sorge geschieht. Und - wir sollten uns bewusst werden, dass wir selbst das Licht weitergeben sollen, das zu Weihnachten in die Welt gekommen ist. Phil Bosman drückt es mit einer wunderbaren Aufforderung aus:

Verbreite Licht, sei ein kleiner Stern, vielleicht braucht Dich jemand....in seiner Nacht!"

Gottes Weihnachtslicht, das höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in dem heute geborenen Sohn Gottes: Jesus Christus. Amen.

 



Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
49076 Osnabrück
E-Mail: Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de

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