Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Septuagesimae, 27.01.2013

Predigt zu Matthäus 9:9-13, verfasst von Sven Keppler

 


I. Seit gestern habe ich einen neuen Freund. ,Freund‘ ist vielleicht noch ein bisschen zuviel gesagt. Ich kenne ihn ja kaum. Und ich gebe zu, er ist mir noch nicht ganz geheuer. Er ist nämlich ziemlich anders als meine anderen Freunde. Er sieht anders aus. Er gibt sich anders. Und er scheint auch anders gestrickt zu sein.

Ich glaube, er lebt auf der Straße. So genau weiß ich das aber noch nicht. Er ist nicht ungepflegt, das nicht. Und er bettelt auch nicht. Aber von hier kommt er auch nicht. Vielleicht ist er in letzter Zeit hierher gezogen. Von meinen anderen Freunden kannte ihn jedenfalls keiner.

Ich glaube, er ist ein Idealist. Einer, der von einem anderen Leben träumt. Was er sich darunter vorstellt, weiß ich noch nicht so genau. Arbeiten jedenfalls nicht. Denn wenn normale Menschen bei der Arbeit sind, hat er anscheinend nichts zu tun. So habe ich ihn kennen gelernt.

Als ich bei der Arbeit saß, kam er vorbei. Sprach mich an. Komisch eigentlich, aber wir hatten ziemlich schnell einen guten Draht. Und gleichzeitig war es mir auch ein bisschen unangenehm, mit ihm zu reden. Ich war schließlich am Schreibtisch. Hatte zu tun. Ich habe immer viel zu tun. Aber das kümmerte ihn nicht. Wir kamen ins Gespräch. Und dann sagte er plötzlich: „Komm mit mir. Ich muss Dir etwas zeigen."

Und ob Sie es glauben oder nicht - ich bin mitgegangen. Ich kann mir meine Arbeit ja frei einteilen. Schließlich bin ich hier mein eigener Chef. Und ich gehöre zu den besser Verdienenden. Vom Handelsumsatz hier am Ort bekomme ich einen hübschen Anteil. Wir leben hier vor allem von der Lebensmittelindustrie. Und die läuft ganz gut.

Ob mein Geschäft immer ganz legal ist? Ach Gott! Natürlich! Klar, jeder guckt auf seinen Vorteil. Man will ja schließlich überleben. Aber das ist ja ganz normal. Krumme Dinger mache ich nicht. Und meine Freunde auch nicht. Aber man muss es mit der Genauigkeit ja auch nicht übertreiben. Die eine oder andere Regel kann man nun mal so oder so auslegen.

Hier am Ort bin ich jedenfalls gut vernetzt. Ein paar Beamte sind meine Freunde. Ein paar Unternehmer. Alles ehrenwerte Leute. Wir halten auf uns. Unseren Stammtisch haben wir im ersten Haus am Platz. Haben alle ein Eigenheim in besserer Lage. Mein Kumpel Markus hat gerade sogar neu gebaut, mit Säulen vor der Tür!

II. Sie können sich vorstellen, wie mein neuer Freund zu denen passt. Wie die Faust auf‘s Auge. Als ich mich gestern von ihm verabschiedete, habe ich ihn zu mir zum Essen eingeladen. Ich dachte, einen warmen Bissen kann er ganz gut vertragen. So dünn, wie er ist.

Aber wer hätte gedacht, dass er gleich am ersten Abend kommt?! Ausgerechnet gestern Abend, als ich meine Freunde zu einer gemütlichen Runde eingeladen hatte. Nach der Arbeit, zu einem kleinen Umtrunk. Die ersten wurden schon etwas lustiger. Ein, zwei Aperitifs auf nüchternen Magen, Sie wissen schon.

Peter hatte gerade angefangen, von seinem letzten Coup zu erzählen, da kam er. Als es klingelte, guckten die Freunde sich an. „Wer fehlt denn noch, Matze?" Ich wusste es auch nicht.

Dann ging ich zur Tür und machte auf. Da stand er. „Du hast mich zum Essen eingeladen. Da wollte ich Dich nicht warten lassen." Was sollte ich sagen? „Gut, komm rein." Sie können sich vorstellen, wie die anderen geguckt haben. Mit ihren roten Gesichtern und runden Bäuchen. Mit ihren feinen Stoffen und ihrer selbstzufriedenen Gesetztheit.

„Was ist denn das für ein Hippie?", fragten ihre Blicke. „Wo hast Du den denn her?" „Hast Du hier jetzt eine Armenspeisung?" Gesagt haben sie das natürlich nicht. Aber er muss es gespürt haben. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Vor meinen Freunden war er mir ganz schön peinlich. Hier am Ort achtet natürlich jeder darauf, mit wem er sich umgibt. ,Zeige mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist.‘

Keine Ahnung, was sie vermutet haben. Ob das mein verlorener Sohn ist, von dem ich nie geredet habe? Oder ein neuer Angestellter, bei dem ich mich wohl vergriffen haben muss.

Aber ein bisschen peinlich war mir das Ganze auch vor ihm. Denn wir hatten uns wirklich gut unterhalten am Nachmittag. Ich hatte plötzlich eine Ahnung davon bekommen, dass das Leben auch ganz anders sein könnte. Dass andere Dinge wichtig wären. Nicht immer nur Geschäfte und Kontakte und Frauen und abends ordentlich Wein, um sich zu entspannen.

Und dann kam er in mein Haus und sah sofort, wie es wirklich um mich stand. ,Zeige mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist.‘ Wenn ich ehrlich bin: Vor ihm habe ich mich in diesem Moment am meisten geschämt. Und war froh, wenigstens selbst noch nüchtern zu sein.

III. Er ließ sich jedoch nichts anmerken. Er begrüßte die Freunde genau so entspannt wie am Nachmittag mich. „Ich hoffe, ich störe nicht." Abwehrendes Gemurmel. „Matze hat mich heute zum Essen eingeladen. Und anscheinend komme ich noch rechtzeitig." Einzelne Lacher.

Kurz später war das Eis gebrochen. Die Freunde waren neugierig geworden. Nur als Peter ihn gönnerhaft nach seinen Geschäften fragte, kippte die Stimmung wieder. „Ich gehe zu den Menschen, die ihr Leben vertun," sagte er. Eisiges Schweigen. Ich konnte förmlich ihre Gedanken lesen: „Ach, Freundchen, so schätzt du uns also ein. Hätten wir uns denken können."

Markus fragte leicht gereizt: „Und was machen Sie dann mit denen? Lesen Sie ihnen aus der Bibel vor?" Gelächter. Aber er blieb ruhig: „Ich komme mit ihnen ins Gespräch. Höre mir ihre Geschichten an. Versuche, sie von innen her zu verstehen. Und irgendwann sage ich zu ihnen: ,Komm mit mir. Ich muss Dir etwas zeigen!‘"

Sie können sich vorstellen, wie mir bei diesen Worten wurde. Die Röte schoss mir ins Gesicht. Das Gleiche hatte er ja am Nachmittag zu mir gesagt. Aber er hatte ja recht. Während ich mit ihm redete, habe ich so eine Sehnsucht gespürt. Eine Ahnung, dass das Leben auch ganz anders sein könnte. Wahrscheinlich war es mir ja deshalb so peinlich, als er mich mit meinen Freunden beim Trinken sah.

Plötzlich fragte ich mich, wer von meinen Freunden wohl mit ihm gegangen wäre. Und wer vielleicht auch eine heimliche Sehnsucht hat, sein Leben zu verändern. Stecken sie nicht alle in der Midlife-Crisis? Nagt nicht an allen der Selbstzweifel und die Frage von Constantin Wecker:

Und das soll dann alles gewesen sein - ein Leben ganz ohne den Wind? Versorgt und verplant und ohne Idee, was wir wollen und wer wir sind. Und das soll dann alles gewesen sein - Glück und Tränen verflogen? Einsilbig alles zu Ende gedacht und um Ewigkeiten betrogen.

IV. Liebe Gemeinde, wollen Sie wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist? Sie hat noch eine unerwartete Wendung genommen. Und dann ist sie aufgeschrieben worden. Heute kann man sie im Matthäus-Evangelium nachlesen, im 9. Kapitel [lesen: Mt 9,9-6].

Es gab also noch andere im Ort. Männer, bei denen Matthäus und seine Freunde ihrerseits nicht wohl gelitten waren. Die waren die moralische Elite des Ortes: die Geistlichkeit. Für sie waren die Freunde Betrüger. Unreine. Sünder. Männer, die ihre Geschäfte skrupellos mit den römischen Besatzern machten und ihre Landsleute ausbeuteten.

So wie die Freunde auf Jesus herabblickten, so schätzten die Pharisäer die Freunde ein. Und sie erwarteten von Jesus, dass er diese Sünder ebenfalls verurteilte. Und sich von ihnen fern hielt.

Doch Jesus wählte einen anderen Weg. Er sah sich wie ein Arzt. Man könnte auch sagen: wie ein Therapeut, ein Lebensberater. Und deshalb war für ihn klar: Er würde sie nicht verändern, indem er sie ausgrenzte. Indem er sie mit derselben Arroganz behandelte, die sie selbst sich zugelegt hatten. Er konnte sie nur erreichen, indem er auf sie zuging: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten." Mir kommt sofort die Frage, wer in dieser Geschichte überhaupt gerecht genannt werden könnte ...

V. Liebe Gemeinde, jetzt wissen Sie immer noch nicht, wie die Geschichte ausgegangen ist. Vielleicht wüsste der Zöllner Matthäus ja zu berichten, wie die Freunde reagiert haben, als Jesus wieder gegangen war.

Vielleicht würde er erzählen: Als Jesus fortging, war zumindest meine Scham verflogen. Ich spürte, dass einige der Freunde ins Nachdenken gekommen waren. Und ich bin gespannt, wer sich demnächst öfter mit meinem neuen Freund treffen will.

Anscheinend war es ganz typisch, dass sich an Jesus die Geister schieden. Die einen reagierten mit schroffer Ablehnung. Waren nicht bereit, ihren Lebensentwurf von ihm in Frage stellen zu lassen. So verhielten sich sowohl die so genannten Sündern als auch die scheinbar Gerechten.

Andere ließen sich von ihm ansprechen. Sie waren plötzlich bereit, ihre Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und einige von denen verließen sogar ihr bisheriges Leben und gingen mit Jesus auf Wanderschaft.

Einer von ihnen war Matthäus. Er wurde ein Jünger, einer der zwölf Apostel. Man meinte später sogar, in ihm den Autoren des Matthäus-Evangeliums erblicken zu können. Eines war er aber mit Sicherheit: Ein Sünder, der sich von Jesus rufen ließ. Einer, der an der Seele krank war, ohne es zu wissen. Und der in Jesus seinen Arzt und Freund gefunden hat. Amen.

 



Pfarrer Dr. theol. Sven Keppler
33775 Versmold
E-Mail: sven.keppler@kk-ekvw.de

(zurück zum Seitenanfang)