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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Septuagesimae/Holocaust-Gedenktag, 27.01.2013

Predigt zu Matthäus 9:9-13, verfasst von Jochen Cornelius-Bundschuh

 

Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus

Wozu sind wir gerufen?



9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.

13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.



Wozu werden wir gerufen?

Im April 1943 wurden der Mannheimer Physiker Dr. Carl Hermann und seine Frau Eva festgenommen. Sie hatten das jüdische Ehepaar Hilde und Fritz Rosenthal aus Berlin bei sich aufgenommen, das sich der Deportation entzogen hatte. Vier Wochen lebten sie in einer Wohnung, aßen miteinander und hörten gemeinsam die Nachrichtensendungen der BBC. Dann vermittelten die Hermanns den Rosenthals weitere Fluchtstationen in Frankfurt und Saarbrücken.

Im Gestapoverhör gab das Ehepaar Hermann an, „die nationalsozialistische Weltanschauung sei ihnen wesensfremd und mit ihrer religiösen Einstellung unvereinbar." Die Hermanns gehörten zur Religionsgemeinschaft der Quäker, die ihr Leben an der Bergpredigt orientiert. Sie waren nicht aktiv im politischen Widerstand, aber sie lebten ihre Berufung; so wie die Bauersfrau, die den Zwangsarbeiterinnen täglich Essen zusteckte, so wie die Schüler, die Swing und Jazz hörten und sich der Gleichschaltung widersetzten, so wie der Pfarrer, der die Eltern seiner Konfirmandin mit Down-Syndrom davor warnte, ihr Kind in das von den Nazis vorgeschlagene Heim zu geben.

Wozu sind wir gerufen? Heute hat diese Frage einen besonderen Klang, denn heute am 27. Januar gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Heute vor 68 Jahren befreite die Rote Armee die überlebenden Gefangenen im Konzentrationslager Auschwitz. Wir wissen, dass die allermeisten Deutschen ihrer Berufung damals nicht gerecht geworden sind. Dafür tragen wir bis heute Verantwortung.

Wozu sind wir gerufen? Zu einem Leben in der Barmherzigkeit Gottes. Zur Nachfolge in der Menschlichkeit Jesu. In eine riskante Tischgemeinschaft mit Jesus, mit Zöllnern und Sündern.

I

Matthäus sitzt am Zoll. Er macht seine Arbeit. Geld eintreiben für den Staat. Geld verdienen für sich. Dann kommt Jesus. Er sieht Matthäus am Zoll sitzen und fordert ihn auf: Folge mir! „Und er stand auf und folgte ihm nach!"

Warum verändert einer von Heute auf Morgen sein Leben? Nur weil ein anderer zu ihm sagt: „Folge mir!"?

Hat Matthäus unter seiner Situation gelitten? Er ist Zöllner. Er kooperiert mit der Besatzungsmacht. Er zieht seinen Mitbürgern das Geld aus der Tasche, um es an die Römer abzuführen. Und macht dabei selbst gute Geschäfte. Dafür hassen ihn die anderen: „Du bist ein Kollaborateur, ein Beutelschneider, der seine Volksgenossen ausbeutet." Die Frommen nennen ihn einen Sünder; mit so einem wollen sie nichts zu tun haben. Er hat Geld, aber er ist isoliert. Kann so einer mit seinem Leben zufrieden sein? Oder wartet er nur darauf, dass ihn einer herausruft und von all dem befreit!?

Oder liegt dieser Aufbruch an Jesus? Wenn der Sohn Gottes ruft, ist nicht mehr entscheidend, in welcher sozialen oder religiösen Lage sich der eine oder die andere befindet, ob eine Studentin ist oder einer bei der Deutschen Bank oder bei Opel arbeitet. Wenn Jesus mit Vollmacht ruft: „Folge mir!"; wer kann da widerstehen? Wer bricht da nicht auf aus dem, was ihn oder sie bisher bindet? Für die eine mag das die Familie sein, für den anderen die Einsamkeit, der Beruf oder die Langeweile, das Geld oder die Armut. Wer bricht da nicht auf, zu einem neuen Leben im Geist Gottes. Weil der Sohn Gottes ruft, geschieht es: „Und Matthäus stand auf und folgte ihm."

II

In manchen Gemeinden der frühen Kirche wurden im Gottesdienst am Sonntag Septuagesimae diejenigen vorgestellt, die an Ostern getauft werden sollten. Sie kamen zum Gottesdienst und wollten etwas hören zu der Frage: Wozu sind wir berufen?

Wenn dann die Perikope mit den zwei Geschichten von der Berufung des Matthäus und der Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern gelesen und ausgelegt wurde, wurde den Kandidatinnen und Kandidaten, aber auch der getauften Gemeinde noch einmal bewusst, dass die Taufe das Leben verändert. Manche haben wegen ihres Glaubens so wie Matthäus den Beruf gewechselt. Andere fragten, so wie die Quäker das bis heute tun, ob es vereinbar mit dem Glauben an Christus ist, Soldat zu sein. Andere hatten seit ihrer Taufe Schwierigkeiten mit ihrer Familie, weil diese nicht mit dem neuen Glauben einverstanden war. Und von Anfang an ging es um die Frage: Wie offen ist unsere Gemeinschaft? Wer ist an den Tisch geladen?

Noch 70 Tage bis Ostern: Genug Zeit für die Täuflinge, sich zu konzentrieren und zu überlegen, ob das der richtige Weg ist; genug Zeit für die Gemeinde der Getauften, für uns, zu fragen: Wozu sind wir gerufen?

III

Matthäus folgt Jesus und den Jüngerinnen und Jüngern. Wohin werden wir gehen? Wie wird das neue Leben aussehen?

Gleich die erste Begegnung wird zur Herausforderung. Sie kehren in einem Haus ein, um miteinander zu essen. Aber Jesus lädt auch Zöllner und Sünder an den Tisch. Gerade hat Matthäus seinen Beruf aufgegeben, weil er schlecht angesehen war, weil er auf Kosten anderer gelebt hat. Und nun sitzt er wieder mit seinen alten Kollegen an einem Tisch. Wie kann das denn sein?

Da trifft die Frage der Pharisäer auf fruchtbaren Boden: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Wie kommt dieser Rabbi Jesus, der so viel Richtiges und Wichtiges sagt, dazu, eine solche Tischgemeinschaft zu begründen? Warum esst ihr mit Menschen, die nicht zu uns gehören, die böse sind, die unsere Feinde sind, vor denen wir uns fürchten? Wie kommt es zu dieser Tischgemeinschaft?

Die Pharisäer suchen das Gespräch, weil das konstitutiv ist für ihre Frömmigkeit. Sie sind nicht fundamentalistisch; sie suchen den Austausch, die bessere Begründung, den guten biblischen Beleg. Sie hören und fragen. Sie haben Freude am kritischen Diskurs, so wie wir Protestantinnen und Protestanten.

Warum fragen sie die Jünger und nicht Jesus? Weil man im Lehrhaus nicht gleich zum Meister geht; man fragt erst einmal vorsichtig bei den Schülern nach. Warum macht er das? Könnt ihr uns das erklären? Wie hat er euch das erklärt?

Matthäus und die anderen, die Jesus nachfolgen, wissen keine Antwort. Wer gemeinsam isst, gehört zusammen! Gehören wir zusammen mit Sündern? Vielleicht hat sich Matthäus sogar gefragt: Wenn ich doch auch so Platz am Tisch mit Jesus gefunden hätte, warum bin ich dann nicht Zöllner geblieben?

Wissen wir eine Antwort? Wer darf an unseren Tisch?

IV

Wie in vielen rabbinischen Geschichten, in denen die Schüler keine Antwort wissen, antwortet Jesus dann selbst. Höre, Matthäus, und lerne, wozu du berufen bist; hört, ihr Täuflinge und ihr Getauften, wozu ihr gerufen seid. Jesus eröffnet ein Lehrgespräch und übt die, die ihm folgen, ins Lehren und Hören ein.

Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Am Anfang jedes Lehrgesprächs steht Gottes Wort. Hosea, der Prophet, der so radikal und zornig über die Bosheit, die Eigensucht, das unsoziale Verhalten reden kann, gerade er wird für Jesus zum Zeugen, dass wir in die Barmherzigkeit Gottes hinein berufen sind. Diese Barmherzigkeit ist der Herzschlag des Reiches Gottes (Gollwitzer). Sie gibt den Rhythmus vor, sie ist unsere Lebensgrundlage, sie setzt den Rahmen. In diesem Rahmen ist Gericht immer nur das Vorletzte; da ist keine Schuld zu groß, kein Abgrund zu tief, als dass Gott nicht frei machen und hinausführen könnte.

Damit ist unsere Verantwortung nicht nivelliert, nach dem Motto: „wir sind ja alle kleine Sünderlein". Denn zum Leben in der Barmherzigkeit gehören schon bei Hosea die Erkenntnis der eigenen Schuld und die Verpflichtung zur Verantwortung. Jesus ist realistisch: er weiß, dass die Zöllner und Sünder krank sind; sie bedürfen des Arztes bedürfen. Aber Jesus ist barmherzig: er kuriert sie, ruft sie in die Nachfolge und lädt sie an seinen Tisch. Und er ruft uns an diesen Tisch, in eine verantwortliche Tischgemeinschaft.

V

Wozu sind wir gerufen?

Das Ehepaar Hermann ist mit seinem Rettungsversuch gescheitert. Ihre Schützlinge wurden von der Gestapo gefangen. Fritz Rosenthal entzog sich der Verhaftung durch Selbsttötung mit einer Zyankalikapsel; sein Frau Hilde wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Eva und Carl Hermann wurden verhaftet, von einem Sondergericht aber ‚nur' wegen absichtlichen Abhörens von Auslandssendern zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Möglicherweise hat die harte Strafe dem Ehepaar das Leben gerettet: Denn die Gestapo hatte keine Verurteilung, sondern ihre Deportation in ein Konzentrationslager gefordert. In der Urteilsbegründung wurde die Berufung, aus der heraus sie gehandelt hatten, als „abseitig und wirklichkeitsfremd" bezeichnet. 1976 wurde dem Ehepaar Hermann vom Staat Israel der Titel ‚Gerechte unter den Völkern' verliehen.

Wie Matthäus finden die Hermanns ihren Ruf weder durch Anpassung noch durch Abgrenzung. Sie hören ihn in der Gemeinschaft des Leibes Christi. Ihre Freunde, die Quäkergemeinschaft, eine katholische Freundin aus Freiburg: sie stützen sich gegenseitig. In einem Netzwerk von Menschen, die die Trägheit ihres Herzens überwinden und versuchen, ihrer Berufung zu folgen. Im Rückblick sind es wenige, viel zu wenige. Und gerade von ihnen haben die meisten wie die Hermanns den Eindruck, viel zu wenig getan zu haben.

VI

Wozu sind wir gerufen?

Am Sonntag Septuagesimae hören diejenigen, die getauft werden wollen, dass sie in eine Gemeinde gerufen sind, die aus und in der Barmherzigkeit Gottes lebt. In eine Kirche, in der Menschen versuchen, die Trägheit ihrer Herzen zu überwinden und ihrer Berufung zu folgen und selbst barmherzig zu sein.

In vielen Orten wandeln sich in diesen Tagen die Gotteshäuser zu Vesperkirchen. „An gedeckten Tischen wird den Gästen ein dreigängiges Mittagessen serviert, anschließend gibt es Kaffee und Kuchen sowie einen Vesperbeutel", heißt es aus der Vesperkirche in Mannheim, die täglich 450 Gäste erwartet. Viele Ehrenamtliche fühlen sich gerufen, hier konkret etwas zu tun gegen Armut und gegen Ausgrenzung.

Eingeladen sind deshalb nicht nur die Bedürftigen. Eingeladen sind diejenigen, die vor Artmut und Krieg nach Deutschland geflüchtet sind, diejenigen, die kaum genug haben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, aber auch diejenigen, die so viel haben, dass sie zwei mal im Jahr in Urlaub fahren, auch mal Delikatessen kaufen und ein paar Schuhe mehr als vielleicht nötig. Hier sollen sich begegnen. Hier sollen sie entdecken: Wir gehören miteinander an den einen Tisch, den Gott barmherzig für uns alle gedeckt hat.

Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten, sagt Jesus. Wir finden Platz an seinem Tisch - in der Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern. Wir sind gerufen, gemeinsam in Gottes Barmherzigkeit zu leben.

 

 



Prof. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh
76135 Karlsruhe
E-Mail: jochen.cornelius-bundschuh@ekiba.de

Bemerkung:
Anm.:
Die Ausführungen über die Ehepaare Hermann und Rosenthal sind verschiedenen Veröffentlichungen und Vorträgen von Frau PD DR. Angela Borgstedt entnommen.

http://www.geschichte.uni-mannheim.de/arbeitsbereiche/neuere_und_neueste_geschichte_ii/team/dr_angela_borgstedt/


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