Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 12.08.2007

Predigt zu Lukas 19:41-48, verfasst von Arne Simonsen

Ein früher Morgen in Jerusalem. Die Sonne ging über dem Ölberg auf. Die ersten Strahlen erreichten die Kuppel des Felsendoms und ließen sein goldenes Dach strahlen und glitzern. Es herrschte Ruhe - noch kein Verkehr. Die Wanderung hinab duch das Kedrontal und über den Bach hinauf in den Garten Gethsemane: Diese Wanderung macht man nie allein - sondern immer gemeinsam mit Jesus und den Jüngern.
Der Garten war verlassen - kein Mensch war zu sehen. Die Zeit stand still. Man folgt seinem Blick hinüber zur Stadt, zum Tempel hin, und man tritt etwas zur Seite, weg. Er war ja allein, an diesem Tage - an diesem Tage, an dem er in Tränen ausbrach: wie eine Mutter über ihr Kind weint, für das sie nichts mehr tun kann.
Er weinte, weil die Zeit bald gekommen war. Er musste bald sterben. Und die Mörder befanden sich dort drinnen. Hier sollte sein Leben enden.
Er weinte.

Es ist die Zeit des Wartens und Wachens, die Zeit der Tränen und der Ohnmacht.
Einer der jungen Freiheitskämpfer: Kim Malthe Bruun, der am 6. April 1945 von den Deutschen hingerichtet wurde, schreibt in einem seiner Briefe aus dem Gefängnis:
Es hat mich beeindruckt, dass ich jetzt etwas Neues an der Jesusgestalt verstehe. Es ist die Wartezeit, die die Prüfung ausmacht. Ich kann versichern: ein paar Nägel durch die Hände geschlagen bekommenen, an einem Kreuz sterben ist nichts als etwas rein Mechanisches, das den Geist in einen Rausch der Sinne versetzt, der mit nichts sonst vergleichbar ist. Aber die Wartezeit in dem Garten, sie tropft von rotem Blut... Ich kann gut die grenzenlose Liebe verstehen, die er für alle Menschen empfunden hat und besonders für alle diejenigen, die die Nägel durch seine Hände geschlagen haben. Er war von dem Augenblick an über jegliche Leidenschaft erhaben, als er Gethsemane verließ. Nur als er wachte, fühlte er die Angst.

Tränen zeugen von Schmerz - von dem Schmerz, weil man den Geliebten nicht erreichen kann. Von dem Schmerz, weil man abgelehnt wird - und weil man auf Verachtung und Zorn stößt.
Vielleicht ist es ein früher Morgen gewesen, und vielleicht haben die Strahlen der Sonne die Zinnen des Tempels - und die Stadt dort erreicht.
Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus, der zu jener Zeit lebte, schreibt: Was das Äußere des Tempels angeht, so fehlte nichts von dem, was Eindruck auf die Seele oder das Auge machen konnte. Er war nämlich überall mit schwerem Gold bekleidet, und bei den ersten Sonnenstrahlen warf er ein so scharfes Licht, dass man den Blick abwenden musste, als wären es die Strahlen der Sonne selbst. Wenn sich ihm Fremde näherten, dann schien es ihnen aus der Ferne, wie wenn es ein schneebedeckter Berg wäre; denn wo er nicht mit Gold bekleidet war, war er leuchtend weiß.
Es war Herodes, der den Tempel hatte bauen lassen - ein Denkmal für sich selbst. Dieser grausame Mensch, der ununterbrochen in einer wahnsinnigen Angst davor lebte, jemand könnte ihn von der Macht vertreiben und ermorden, hat eine Reihe von großen Bauten hinterlassen. Der größte unter ihnen war der Tempel - weithin berühmt.
Hier strömte die Bevölkerung an den großen religiösen Festtagen aus den entferntesten Gegenden zusammen. Das größte Fest war das Osterfest - zur Erinnerung an die Befreiung der Juden aus Ägypten. Alle Macht war in dem Tempel konzentriert - hier herrschte die Priesterschaft.
Jesus war hier so oft gewesen, zuerst mit seiner Familie - später allein.
Die enorm großen Treppenstufen, die zum Vorhof der Heiden hinaufführen, bin ich hinaufgestiegen - wie Jesus vor mir vor 2000 Jahren.
Ein überwältigendes Erlebnis, bei dem die Zeit für einen Augenblick zurückgeschraubt ist - oder wo die Zeit stillsteht. Ein heiliger Augenblick. Die Ewigkeit hier und jetzt.
Jesus weinte.
Er sah vor sich, wie das alles einstürzen würde - bald.
Er sah fremde Heerscharen eindringen und morden und alles in Brand stecken und zerstören.
Er sah nur Ruinen und ein Volk, das in alle Winde zerstreut werden würde. Er sah, wie viel Leid dieses Volk - seine eigenes Volk - durchmachen sollte. Er hatte sie vereinen wollen - aber sie wollten nicht.
Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!
Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.
Die Worte hallen weiter in den Ohren.
Zu wem spricht Jesus?
Sind es allein die Menschen dort drinnen, die ihn bald kreuzigen werden - oder gelten die Worte auch uns heute?
Wissen wir, was zu unserem Frieden dient?
Und was ist das für ein Friede, von dem wir sprechen?
Wir lesen tagtäglich von Kriegshandlungen in Jerusalem. Die Situation ist gespannt, - und sie kann Krieg auslösen. Panzer und bewaffnete Soldaten überall. Der Friede ist in Gefahr - der Friede wird durch Waffen und Rüstung gesichert.
Friede verstanden als die Abwesenheit von Krieg.

Am 29. August 1943 erklärte die deutsche Besatzungsmacht in Dänemark den Ausnahmezustand. Die dänischen Gesetze galten von da an nicht mehr. U.a. wurde die Todesstrafe eingeführt. Die rechtlichen Zustände waren nun völlig von Willkür geprägt. Friede herrschte zwar, aber kann Friede zu teuer erkauft sein? - das fragten sich viele Menschen in jenen schicksalsschweren Tagen.
Auf wieviel Freiheit und Würde kann und soll man verzichten, um fortgesetzt Frieden zu haben?
Wüsstest auch nur du an diesem Tag, was zu deinem Frieden dient! Jetzt aber ist es verborgen vor deinen Augen - sagt Jesus hier, wo er seinen Blick auf die Stadt gerichtet hat, die bald nur noch Ruinen sein wird.
Was war das für ein Friede, von dem er sprach?
Dieselbe Frage stellten viele Menschen in Dänemark in jenen Augusttagen des Jahres 1943.
Man fragte: Gibt es keine Grenze für Frieden?
Hier ging es plötzlich um menschliche Würde und Rechtszustand.
Hier ging es darum, wie viel Demütigung, Überfall, Gewalt, Mord man ertragen konnte.
Hier gab es eine Grenze für den Frieden - und viele Menschen begannen, Widerstand zu leisten.

Oft wissen wir nicht, was zu unserem Frieden dient.
Oft suchen wir einen Frieden, der nur Verschwiegenes und Feigheit zudeckt.
Friedliche Koexistenz: das bedeutet etwa so viel, wie dass man gegeneinander nicht Krieg führt.
Solange kein Krieg ist, kann man von Frieden sprechen.
Abwesenheit von Streit - es gibt Ehen, die auf dieser Grundlage überleben.
Lasst uns doch Frieden halten! - das ist die Aufforderung an den andern zur friedlichen Koexistenz.
Lass mich doch in Frieden! - jeder kann hören, dass der Krieg droht. Hier ist kein Friede.
Friede und keine Gefahr! - sagen die, die oft der Wirklichkeit nicht in die Augen sehen wollen - Menschen, die sich abschotten und nur so tun, als herrsche Friede, während die Katastrophe droht.
Es gibt einen Frieden, nach dem man nicht streben soll: den Frieden, der Gleichgültigkeit und Feigheit und Verlogenheit zudeckt.
Es gibt einen Frieden, den man fürchten muss: einen Frieden, der die Abwesenheit von Leben bedeutet.
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert! - sagte Jesus bei einer andern Gelegenheit. Es ist der Totenfriede, von dem er spricht - der Friede, der bedeutet, dass man nicht lebt - dass man sich versteckt, sich duckt, einander in Schach hält.
Es gibt einen Frieden, denn man fürchten muss: das Friedliche, das Harmlose, das Glatte - das Oberflächliche, das Nichtssagende.
Es gibt einen Frieden, der nur das Boot am Schwimmen halten und es daran hindern will, zu sinken, und der vor sich und andern verbergen will, dass das Boot undicht ist.
Es gibt einen Frieden, der Auseinandersetzung, Aufbruch verlangt.
Es gibt einen Frieden, der wie eine Zuckerschicht alles Mögliche deckt - und niemand weiß, was sich darunter befindet, und man fürchtet sich auch davor, es zu erfahren.
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert!
Jesus führte seinen Schlag gegen den Frieden, der nichts will - außer zu verbergen, dass da kein Leben ist.
Er wollte niemanden in Frieden lassen. Er wollte Auseinandersetzung, Klarheit, Entscheidung. Er wollte etwas mit uns - sein Friede war nicht friedlich, sondern kriegerisch.
Unaufhörlich forderte er dazu auf zu leben.
Nicht den geschlossenen Raum wollte er, sondern den offenen Raum, wo sich der Himmel über uns wölbt und wo Platz ist und wo man frei atmen kann.
Der geschlossene Raum ist ein gefährlicher Raum.

Für Jesus war der Tempel zu einem geschlossenen Raum geworden.
Er war kein Gebetshaus mehr. Eine Räuberhöhle nannte er ihn - und dazu wird er immer dann, wenn Menschen anfangen, das Haus mit ihrem Eigenen zu füllen, und wenn wir das Evangelium immerzu als eine Ware "verkaufen" sollen.
Aber das Evangelium ist keineswegs etwas, was man verkaufen soll - das Evangelium ist ene Liebeserklärung.
Die Liebe ist in allem, was wir hier im Raum berühren - in allem, was uns berührt und heute zu uns spricht.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen deinen Kräften - hören wir hier.
Das waren keine neuen Worte. Diese Worte hatte man gekannt, solange man sich überhaupt erinnern konnte. Es ist Gott, der zum Volk Israel spricht:
Du sollst mich lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen deinen Kräften - befiehlt er.
Gott will den ganzen Menschen haben - er will sich nicht mit weniger begnügen.
Lehre deine Söhne diese Worte - fährt Gott, der Herr, fort.
Sage diese Worte, wenn du unterwegs bist und wenn du in deinem Hause bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst - immer, zu jeder Zeit. Es ist wie das Atmen.
Schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses!
Wo immer man in Israel hinkommt - auch heute ist am Eingang eines jeden Gebäudes eine kleine Kapsel - Mesusa heißt sie - am Türpfosten angebracht, in ihr befindet sich eine kleine Papierrolle. Und auf ihr steht: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben!
Jedesmal wenn man hinein- oder hinausgeht, streicht man mit der Hand über die Mesusa.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben! - sagt Jesus bei einer andern Gelegenheit zu einem jungen Mann, der zu ihm kommt und wissen will, was im Grunde der Sinn des Lebens ist.
Tust du dies: liebst du Gott von ganzem Herzen - dann lebst du! Kurz und gut. Es ist ungeheuer einfach.
Geh hinein in das Gebetshaus - nimm nichts mit. Fülle es nicht mit deinen eigenen Dingen - sagt Jesus hier.
Im Gebetshaus ist nur Platz für Gott - er füllt es ganz mit seinem Geist, und kein Raum kann mit ihm verglichen werden.
Hier herrscht ein Friede über alle Vernunft. Hier ist ein Ort außerhalb der Zeit und doch mitten in der Zeit.

Kirsten Thorup lässt in ihrem Roman "Bonsai" die Hauptperson Nina liebevoll von ihren Eltern erzählen, vom Vater der an den Festen in die Kirche geht. Wie es sich gehört. Die Mutter geht jeden Sonntag in die Kirche, um die Portion geistlicher Nahrung zu bekommen, deren sie so sehr bedarf. Sie sieht die Augen hinter den Fensterscheiben nicht, die ihrem leichten Gang in die Kirche folgen, und sie hört die mürrischen Bemerkungen über ihr ewiges Gerenne zu Gott nicht. Sie nimmt Gottes Wort gierig zu sich. Die Worte dringen in sie wie Regen in die trockne Erde. Sie wird ganz erfüllt von den Worten. Sie fließen durch ihre Adern, gemischt mit ihrem Blut. Sie fühlt den Rausch, der vom Mund des Pfarrers ausgeht. Sie trinkt seine Stimme wie den Tau, der am frühen Abend fällt. Sie ist ein kleiner Vogel, der sich in einem Vogelbad aus Marmor auf einem vornehmen Platz die Flügel wäscht. Sie ist in der großen Welt, die sich den Seelen von Menschen öffnet.
Sie geht in das alte Gebetshaus.
Hier begegnen wir einer Erzählung, wie alles von Anfang an war: dass es gut war, aber dass es unterwegs gründlich vermasselt wurde.
Unser Leben dort draußen und das, was wir hier drinnen hören, ist nicht dasselbe. Und das wird es nie sein. Aber es gibt da einen Zusammenhang - und um darüber etwas zu hören, kommen wir hierher.
Es heißt ein Gebetshaus. Hier können wir beten - und Gottes Antwort erlauschen. Deshalb steht sie hier, die Kirche - um uns mit dem Gewicht des Steins an dem festzuhalten, was wir im Grunde sind.
Amen.



Pastor Arne Simonsen
Silkeborg, Dänemark
E-Mail: asi@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier



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