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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Sonntag vor der Passionszeit Estomihi, 10.02.2013

Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Erika Reischle-Schedler

 

Liebe Gemeinde! "Was sollen wir Gesunden mit einer Krankenheilungsgeschichte anfangen?!" Der Einwand kam mir nicht nur einmal entgegen, wenn Geschichten wie die eben Gehörte Predigtgrundlage war. Und es ist auf einen solchen Einwand stets zu antworten, daß ja all die Geschichten von Menschen, die Jesus in

ihrer Krankheit heilt, Geschichten und Bilder unserer Seele, oder, weiter gefaßt, unseres Lebens sind. Dazu möchte ich Ihnen am Anfang einen kleinen Text lesen, den ich bei dem Seelsorger und Benediktinerpater Wunibald Müller gefunden habe. Er ist von einigen Versen aus Psalm 107 ausgegangen. Ich lese:

 

     "Er machte Bäche trocken
und ließ Wasserquellen versiegen,
daß ein fruchtbar Land zur Salzwüste wurde ...
Er machte das Trockene wiederum wasserreich
und im dürren Lande Wasserquellen
und ließ die Hungrigen dort bleiben,
daß sie eine Stadt bauten,
in der sie wohnen konnten,
und Äcker besäten und Weinberge pflanzten,
die jährlichen Früchte gewönnen.

 

Wie gut ich das nur kenne
ausgetrocknet zu sein
das Gefühl zu haben, brach danieder zu liegen
während tief in mir Strebungen, Kräfte, Gefühle
sich dumpf melden, bemerkbar machen
und leben wollen
die die Salzwüste, die mein Leben überzieht
bewässern, fruchtbar machen, beleben wollen

 

Manchmal bin ich es selbst, der das verhindert
da ich an etwas festhalte, etwas nicht lassen will
was ich nicht festhalten sollte, das ich lassen müßte
damit das, was in mir leben will, fließen darf
um meine Salzwüste aufzubrechen
mich wieder mit dem Fluß des Lebens
in Berührung zu bringen
mich wieder wasserreich zu machen
mich wieder zu durchtränken
mich zu durchsprudeln

 

damit ich bewohnbar werde
zunächst einmal selbst bei mir Wohnung nehmen kann
wo ich Unterkunft finde
ein Zuhause, mich wohlfühle
damit ich zum Acker und Weinberg werde
auf dem etwas wachsen, ich gedeihen kann."

 

Soweit dieser kleine Text. Wir suchen nach dem Blinden in uns, nach dem, was unser Leben blind macht, und wo wir das Erbarmen Jesu nötig haben. Wir sagen umgangssprachlich: "Der lebt mit einem Brett vor dem Kopf" - was sieht einer mit einem solchen Brett? ER sieht das Brett, aber nicht viel sonst. Wenn das nicht heißt, blind zu sein für die Wirklichkeit des Lebens! Oder da lebt ein anderer, der sieht sich eingemauert in dunkle Wände eingekerkert im Gefängnis einer ausweglos erscheinenden Situation

- und in Wahrheit scheint um ihn her die Sonne, das Leben böte 1000 Möglichkeiten, aber er sieht sie nicht, kann sie nicht wahrnehmen in seiner Trauer, seiner Schwermut, seiner Ohnmacht.

Wenn das nicht blind sein bedeutet! Eines der bekanntesten Psalmworte im 36. Psalm weiß um die tiefe Verwandtschaft zwischen

Licht und Leben: "Bei Dir, Gott, ist die Quelle des Lebens, und in Deinem Licht sehen wir das Licht". Selbstheilung kann nicht gelingen. Und oft genug bleibt nur der Schrei: "Jesu, Du Sohn Davids, d. h.: Du König, Du, der Du über Kräfte verfügst, über die ich, ein gewöhnlicher Mensch, nicht verfüge: Habe doch Erbarmen. Schau mich doch an, mich in meiner dunklen Befangenheit, in meinem zur Salzwüste gewordenen Leben!"

 

Blind geboren zu sein zur Zeit Jesu bedeutete, den Lebensunterhalt der Familie, die einen aus Barmherzigkeit am Tisch mitessen ließ, durch Betteln mitzuverdienen. Kein Eigenwert. "Ich bin nichts wert", heißt die Bitte jeden Bettlers, "ich bin nichts wert, nur Eure Mildtätigkeit kann mir helfen. Ich führe kein eigenes Leben, sondern ein Leben von Euern Gnaden. Und ich habe Angst, Angst davor, heimkommen zu müssen ohne einen Cent im Hut, ausgeliefert dem Geschimpfe und Gespött der nächsten Angehörigen: Nur eine Last hat man mit Dir, noch nicht einmal zum Betteln taugst Du. Noch nicht einmal dazu taugst Du, daß wir wenigstens ein Stück weit auf Deine Kosten leben könnten."

Liebe Gemeinde, wenn wir uns das klarmachen, dann nicht aus purem historischem Interesse - was nützte uns das in einem Gottesdienst! - sondern nur, weil das bis heute das Schicksal tausender von behinderten Menschen ist, mit der Muttermilch einzusaugen: Du bist nichts wert, als behinderter Mensch der Du bist, nichts, und wenn Du einen Lebenswert hast, dann den, daß wir ein Stück weit auf Deine Kosten leben: Das Märtyrerkrönchen ist dem, der sich aufopferungsvoll um einen behinderten Menschen bemüht, gewiß. Wenigstens die Genugtuung, Behinderten das immer einmal wieder sagen zu dürfen: "Was wir doch für bewundernswerte Leute sind, daß wir uns mit so etwas wie Euch abgeben" und die Anerkennung von außen, die ist gewiß. Hitlers Rede vom lebensunwerten Leben und der daraus resultierenden sog. "Aktion Gnadentod" war hier nur eine letzte Konsequenz von einer menschlichen Haltung, die durch alle Zeiten bis heute mannigfach anzutreffen ist.

 

Jesus schüttet nicht einfach einen Schwall mildtätigen Erbarmens über den aus, der da schreit. Sondern er redet ihn als Mensch an:

"Was möchtest Du?" Erst einmal muß man in Worte fassen können, was die Not ist, dann gibt es Möglichkeiten, sie zu lindern oder gar, sie zu wenden. Alles Ungesagte, alle unter Menschen Platz greifende Sprachlosigkeit, ist des Todes. Das Leben beginnt da, wo der Sprachlose Sprache findet, wo er sagen darf, was ihn quält. Und nun ist Luthers uns gut vertraute Übersetzung in der Antwort des Blinden nur eine Seite dessen, was in dieser Antwort steckt: "Es ist doch klar", heißt die Antwort, mit Luthers Übersetzung gelesen, beinahe: "Wie kannst Du überhaupt so fragen. Du siehst doch, daß ich blind bin und bettle. Sehen können will ich wieder!" Aber das griechische Wort "anablepo" heißt nicht nur: Wieder sehen können, sondern: Aufblicken. "Daß ich aufschauen kann aus der dunklen Trübnis dieses schwer auf mir lastenden Lebens. Daß ich die Sonne wieder schaue, daß ich Gott erkenne in dem, was mit mir und um mich geschieht. Das will ich, daß Du für mich tust!"

Im 42. Kapitel des Jesajabuches redet Gott die Menschen durch den Propheten an: "Schaut her zu mir, schaut auf zu mir, damit Ihr sehen könnt". Es ist dasselbe Wort"anablepo", was die griechische Übersetzung des Alten Testamentes, die Septuaginta, an dieser Stelle stehen hat. Und das Neue Testament knüpft an vielen Stellen an Formulierungen der Septuaginta an, so auch hier. Wenn wir Gott erkennen, das Licht seiner Liebe zu schauen vermögen mit unseren geistigen Augen, wenn wir Anteil gewinnen am Fluß des Lebens, an der Fülle, die der Schöpfer für einen jeden Menschen bereitlegt, wenn unsere Augen sich weiten für Not und Bedürfnis des anderen und wir Kraft genug gewinnen, bei allem notwendigen Blick für andere doch ganz bei uns selber zu bleiben - dann sind wir heil. Dann hat Gott Raum in uns gewonnen. In diesem Sinn ist die Heilung bei Bartimäus geschehen, und in diesem Sinn soll und darf sie für uns geschehen. Wir sollen leben, sagt uns das Neue Testament, darin ist alles gesagt.

 

Im Zusammenhang des Lukasevangeliums ist diese Heilungsgeschichte erzählt unmittelbar, nachdem Jesus zu seinen Jüngern über sein bevorstehendes Leiden gesprochen hatte. Und so gelesen, ergibt sich nochmals ein neuer Sinn: Er, Jesus, wird leiden und sterben, der blind Geborene wird Gott preisen und gesund sein. Alles, was Menschen leiden, ist eingeschlossen in Jesu Passion. Es betrübt mich, wenn ich erlebe, wie heute immer mehr Menschen Anstoß nehmen an diesem Christus, der den Leidensweg geht. So als ob dieser Glaubensinhalt an der heutigen Realität vorbeiginge. Aber ist es nicht gerade das, was in einer zeit zunehmender menschlicher Isolation das Wort der Befreiung bedeuten kann, daß es kein isoliertes menschliches Leiden gibt. Daß alles Leiden, das wir leiden müssen, von ihm getragen wird. "Er trug unsere Krankheit", damit wir gesund werden, "und lud auf sich unsere Schmerzen", damit unsere Schreie der Verzweiflung sich wandeln in den Jubel derer, die Gott gefunden haben. Vor uns soll sich der Horizont weiten - Höllenqualen zu erleiden, ist Christus bestimmt, nicht uns. Er wird leiden, damit wir geheilt würden und Gott preisen können. Amen.

 



Erika Reischle-Schedler
Göttingen
E-Mail: e.reischle-schedler@t-online.de

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