31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.
32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden,
33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte.
36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.
37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.
38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:
41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann.
42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.
43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.
Manchmal, liebe Gemeinde, geschehen um uns herum Dinge, und wir sehen sie nicht. Manchmal wollen wir sie nicht sehen. Zu anderen Zeiten können wir nicht sehen, was vor sich geht. Manchmal halten wir uns die Augen zu. Manchmal ist uns der Blick verstellt.
Der amerikanische Dichter Edgar Allen Poe - er war mit einer schweren Lebensgeschichte, mit Alkohol- und Beziehungsproblemen und darüber hinaus mit dem Richtgeist von Zeitgenossen geschlagen - gilt als einer der Erfinder der phantastischen Literatur; oft spielt er mit Elementen des Grauens. Er hatte, vielleicht aufgrund seiner unglücklichen Lebensgeschichte, einen hellen Blick für die dunklen und düsteren Seiten des Lebens. Geradezu prophetisch liest sich in unseren Tagen seine Geschichte „Die Maske des Roten Todes" von 1842.
Darin erzählt er von einem Land, in dem der Rote Tod wütet, eine besonders heimtückische Form der Pest. Während die Bewohner des Landes dahingerafft werden, beschließt der Fürst, Prinz Prospero („der Wohlhabende"), sich zusammen mit 1000 Freunden in die Sicherheit einer Abtei zu bringen. „Prinz Prospero aber war fröhlich und unerschrocken und weise", schreibt Edgar Allan Poe. Die Abtei ist ein prächtiges Gebäude, beste Verpflegung gibt es in Hülle und Fülle, auch für Unterhaltung und Zerstreuung hat der Prinz gesorgt. Alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen werden getroffen, die eisernen Tore der Abtei werden zugeschmiedet - man glaubt sich in Sicherheit und genießt das Leben. Der rote Tod bleibt draußen.
Etwa ein halbes Jahr später gibt der Prinz einen besonders festlichen Maskenball. Alle müssen sich bis zur Unkenntlichkeit verkleiden. Doch diesmal ist die fröhliche Unbeschwertheit dahin. Mit jedem Stundenschlag der Uhr wird die Stimmung unbehaglicher. Um Mitternacht plötzlich bemerken alle eine maskierte Gestalt, die aussieht wie der „Rote Tod", den man doch ausgesperrt hatte und von dem keiner etwas wissen wollte. Der Prinz ist empört über diese Geschmacklosigkeit und will den Beleidiger persönlich umbringen - doch er kommt nicht dazu, sondern bricht vor der Gestalt zusammen und stirbt. Andere wollen sich nun der Gestalt bemächtigen - aber sie ist nur eine leere Hülle. „Und nun", so beschließt der Dichter seine Geschichte, „erkannte man die Gegenwart des roten Todes. Er war gekommen wie ein Dieb in der Nacht. Und die Festgenossen sanken einer nach dem andern in den blutbetauten Hallen ihrer Lust zu Boden und starben - ein jeder in der verzerrten Lage, in der er verzweifelnd niedergefallen war. ... Und unbeschränkt herrschte über alles mit Finsternis und Verwesung der rote Tod."
Eine düstere, eine makabere Geschichte ist das. Gleichzeitig aber eine kritische Geschichte: sie erzählt über die Verantwortungslosigkeit der Macht, über die Unmenschlichkeit derer, die es sich leisten können, Not und Elend anderer auszuschließen. Und es ist eine ironische Geschichte über die, die feige und zu Lasten der anderen die eigene Haut retten wollen - und die am Ende erkennen müssen: Auch du entkommst nicht. Es wird uns nicht allzu schwer fallen, den Roten Tod und seine Masken unter uns auszumachen.
Unser heutiger Predigttext macht ganz ähnliche Beobachtungen; aber er entwirft ein Gegenmodell. Er hat zwei Teile, die zunächst nicht zusammen zu gehören scheinen.
Da ist einmal die Ankündigung Jesu an seine Jünger: ich werde leiden und sterben müssen. Im Verlauf des Evangeliums ist es die dritte Ankündigung Jesu. Der Sinn seiner Rede, die innere Notwendigkeit dessen, was geschehen soll - und muss, all das bleibt den Augen und Ohren und dem Verstand der Jünger verschlossen. „Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war" (V 34). Konnten sie nicht verstehen? Wollten sie nicht verstehen? Was es schlicht Unfähigkeit oder eine Flucht vor der absehbaren Entwicklung, Abwehr dessen, was unausweichlich ist? Wir können darüber trefflich spekulieren.
Aber auch der zweite Teil, die Geschichte von dem namenlosen Blinden, erzählt zunächst von der Abwehr der unerwünschten Realität. Da ist der Blinde am Weg, ein Bettler, einer, von dem man meinte, er sei von Gott für irgendetwas gestraft worden. Der sieht zwar nicht, aber er erfährt, dass Jesus kommen wird und er ruft ihn mit Namen um sein Erbarmen an. Er spürt eine kleine Hoffnung. Die Leute aber wollen ihn zum Schweigen bringen. Sein Geschrei stört und ist peinlich. Der Blinde passt nicht in ihre Realität, sie blenden ihn aus. Sie tun so, als fände das Leben ohne ihn statt.
Jesus führt uns vor, wie es auch anders geht. Er nennt die Dinge beim Namen. „...sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen" (V. 33). Lukas lässt keinen Zweifel daran: Jesus hat mehr als nur eine Ahnung, worauf alles hinausläuft. Aber er weicht nicht aus, er zieht sich nicht in eine Wüste oder in ein Schloss zurück. Er überlasst die Welt und die Menschen nicht ihrem Schicksal, ihren Vorurteilen, ihrer Erbarmungslosigkeit. Er lässt sich anrufen und anrühren von der Bitte: „Sohn Davids, erbarme dich meiner" (V 38). Und dann wird die staunende Menge Zeuge dessen, dass einer sehend wird, weil er gesehen wurde.
Offen bleibt, ob sie danach Gott loben, weil sie ein Wunder, ein Mirakel gesehen haben, oder weil sie erfahren oder erahnen: „das Reich Gottes ist mitten unter euch"?
Offen bleibt auch, wie die Jünger reagiert haben - sie, die erst viel später erahnen, begreifen, erkennen, wie und wie sehr Gott in ihrer Mitte gegenwärtig ist. „Brannte nicht unser Herz?", fragen die Emmausjünger sich gegenseitig, nachdem sie den Auferstandenen erkannt hatten.
Martin Luther hat vom sündigen Menschen, also dem Menschen in der Gottesferne als „homo incurvatus in seipsum" gesprochen, als „in sich selbst verkrümmten/verdrehten Menschen". Das ist ein sehr starkes, sehr anschauliches Bild: wer in sich selbst verkrümmt ist, dem ist es schlechterdings unmöglich, den Blick zu heben. Wem die Augen gehalten sind, der kann die Welt in ihrer Vielfalt nicht sehen, weder im Schönen noch im Hässlichen, weder im Bedrohlichen noch im Mutmachenden - und auch nicht in der Zumutung ihrer hart gegeneinander stehenden Gegensätze.
Jesus ist gekommen, um das krumme Holz zum aufrechten Gang zu befähigen. Er ist gekommen, die Menschen aus der Selbstverkrümmung zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes zu befreien und ihnen den Blick zu eröffnen auf die Welt, wie sie ist und wie sie sein kann: eine Welt mit Kleinlauten und Euphorischen, Blinden und Sehenden, Etablierten und Unverschämten, Treuen und Überraschenden, wie es ein Ausleger bildhaft gesagt hat1. Wir können die Reihe fortführen: eine Welt mit Selbstverliebten und Selbstvergessenen, mit Egomanen und Altruisten, mit Tätern und Opfern, eine Welt der kleinen Gemeinheiten und großen Katastrophen, eine Welt voll von traurigen Schicksalen wie von unbeschwerten Fröhlichkeiten, schwachen Scherzen und starken Pointen. Eine Welt im Tanz auf dem Vulkan und zugleich voller Sehnsucht nach Leben und Zukunft und Rettung.
Keiner soll von uns den humorlosen Verzicht auf fröhliche Feste als Ausdruck christlicher Tugend fordern. Direkt im Anschluss an unseren Predigttext lesen wir, wie Jesus zu Zachäus zum Feiern geht. Ich glaube vielmehr, dass Jesus uns zeigen will: Es kommt auf den Blick an, auf das Sehen und Erkennen.
Mischen wir uns doch für einen Moment unters Volk: Welchen Jesus können wir sehen? Wir sehen einen Jesus, der sich zuwendet, der wirkungsvoll spricht und souverän heilt. Wir erleben einen vitalen, charismatischen Mann, der Nähe zu den Benachteiligten am Rande des Weges wagt und klare Worte findet gegenüber den Halbherzigen. Wir gehen mit einem, der gerade dort zu finden ist, wo die Not am größten ist und die Hilfe am weitesten scheint. Wir sind in der Nähe eines Mannes, der seine Anhänger begeistert und der sogar seinen Gegnern Respekt abverlangt2. Wir begegnen dem, der dem „Roten" (oder wie auch immer sonst eingefärbten) Tod die Maske vom Gesicht zieht, zuweilen sanft, zuweilen energisch.
Mit Jesus können wir das Reich Gottes anbrechen sehen. Das kann uns Hoffnung schenken, Vertrauen und Mut. Wir können Gelassenheit und Stärke gewinnen, das Richtige zu tun und zu sagen angesichts der vielen kleinen und großen Herausforderungen der Welt. Wir können riskieren, uns zu öffnen, wo andere die Grenzen dichtmachen wollen. Wir können den „Roten Toden" in der Welt lächelnd und furchtlos entgegentreten und auch den eigenen Zweifeln und Verzagtheiten, die in uns selbst hochkriechen wollen. Machen wir uns auf die Suche - mit offenen Augen und brennenden Herzen! Wir haben die Zeichen am Weg. Und wir haben Verheißung, dass er sich finden lässt.
Amen.
Als Predigtlied bietet sich Paul Gerhardts „Jesu, meine Freude" (EG 396) an.