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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 18.02.2007

Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Arend de Vries

Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.
Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Die aber vornan gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:
Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann.
Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.
Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Liebe Gemeinde,

hätten sie das nicht wissen müssen? Hätten sie es nicht voraus-sehen können, dass die Geschichte so und nicht anders ausgehen wird? Schließlich hatten die Jünger erlebt, dass Jesus mit seinem Verständnis der Gebote und Weisungen immer wieder in Konflikt geraten war mit den Gesetzeslehrern. Schließlich waren sie dabei gewesen, wenn er am Sabbath geheilt hatte, wenn er sich den als unrein geltenden Randsiedlern zuwandte, wenn er das Gebot der Liebe allen anderen religiösen Vorschriften vorordnete. Das musste doch in einer großen Konfrontation enden. Das hätten sie doch voraus-sehen müssen.
Und nun auch noch dieses: es wird ihnen voraus-gesagt, was sie hätten voraus-sehen können. Mit dem alten Prophetenwort, das ihnen bekannt war, wird aufgezeigt, wie die Geschichte mit Jesus weitergeht: ?Er wird überantwortet werden, verspottet, misshandelt, getötet.?
Sie sehen es nicht, blind scheinen sie zu sein, dreifach blind - so beschreibt es der Evangelist Lukas:
?Sie begriffen nichts davon.
Der Sinn der Rede war ihnen verborgen.
Sie verstanden nicht, was damit gesagt war.?

?Hätte ich das nicht wissen können? Hätte ich das nicht voraus-sehen können, dass die Geschichte so und nicht anders ausgehen wird??
So fragen wir uns manchmal, wenn eine Geschichte böse ausgegangen ist, wenn ein Mensch in unserer Nähe mit seinem Leben nicht mehr fertig geworden, eine Beziehung zu Ende gegangen ist, ein Konflikt zu einem Drama geworden ist.

Wie die Geschichte Jesu ausgegangen ist, wir wissen es, liebe Gemeinde. Der Weg nach Jerusalem, er bedeutete Leiden und Sterben ? und dann doch ein Ende, das gut ausgeht. Gott kommt am Ende zu seinem Ziel, das Leben siegt über allen Tod. Wir sind im Vorteil. Wir sehen die Geschichte von ihrem Ende her, retrospektiv.

Aber vorausschauend, prospektiv: Konnten die Jünger es wirklich wissen, dass das alles so geschehen musste? - Sie hätten ahnen müssen, dass der Konflikt mit den etablierten Vertretern der Gesetzesauslegung eskalieren würde. Sie hätten ahnen können, dass der Weg nach Jerusalem diese Eskalation beschleunigen würde.
Aber konnten sie sehen, wissen, dass von diesem Moment an vor ihren Augen das ablaufen würde, was die Propheten vom Menschensohn, von seinem Leiden und Sterben geschrieben hatten? Und das in einer zwangsläufigen Abfolge, wie ein vorgegebenes Handlungsmuster, das einmal in Gang gesetzt nicht mehr aufhaltbar ist?

Häufig begegnen uns in den Geschichten des Neuen Testaments Formulierungen wie auch in diesem Bericht des Evangelisten Lukas: ? Es wird alles vollendet, was geschrieben ist durch die Propheten?. Und wir gewinnen den Eindruck, als ob hinter der Geschichte, die wir vor Augen haben, ein genauer Ablaufplan steht. So und nur so kann die Geschichte sich entwickeln. Schließlich war es durch die Propheten vorausgesagt. Unter solchen Vorzeichen wird Gott letztlich zum Verfasser dieser Geschichte, zum grausamen Regisseur des Dramas. Die menschlichen Akteure in dieser Geschichte haben gar keine Wahl, selbst ein Judas hat keine Wahl. Er muss zum Verräter werden.

Liebe Gemeinde, die Passionsgeschichte Jesu, die der Evangelist Lukas mit dieser Erzählung einleitet, stellt uns vor die Frage: Musste es so kommen, gab es nur diesen einen Weg der Erlösung? Wollte, brauchte Gott das grausame Leiden seines Sohnes, damit am Ende das Leben über den Tod siegt und wir Menschen Zukunft haben? Aus der rückwärtigen Sicht, aus der Retrospektive kann man zu einem solchen Eindruck kommen und der Hinweis auf die Ankündigungen der Propheten verstärkt diesen Eindruck noch.

Andererseits: die Annahme, dass Gott einen perfekten Plan hatte, den er in Gang gesetzt hat und von dem er und auch die in der Geschichte Jesu handelnden Menschen nicht hätten abweichen können, eine solche Annahme ist mit dem biblischen Gottes- und Menschenbild schlechterdings nicht vereinbar. Eine solche Annahme widerspricht zutiefst dem Grundgedanken der Freiheit, der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen. Und sie widerspricht zutiefst dem biblischen Grundgedanken, dass Gottes Handeln mit uns Menschen durch und durch von Liebe bestimmt ist.

Vielleicht kommen wir denkend an dieser Stelle nur weiter, wenn wir trennen, trennen zwischen dem Ziel, das Gott mit der Geschichte und mit uns Menschen hat, und dem Weg, den die Geschichte dahin genommen hat. Nein, es musste nicht zwangsläufig so kommen, wie es gekommen ist. Judas, Pilatus, Kaiphas, sie alle wären frei gewesen, anders zu handeln, anders zu entscheiden. Sie waren nicht Marionetten eines unsichtbaren Dramaturgen.

Das Erstaunliche, ja das Wunderbare an der so grausamen Passionsgeschichte ist, dass Gott selbst auf diesem Weg, den Menschen gegangen sind, das Gott auch bei dem, was Menschen begangen haben, zu seinem Ziel gekommen ist. Am Ende steht der Sieg des Lebens über dem Tod, trotz aller menschlichen Grausamkeit. Aber das wird erst in der Rückschau sichtbar. Sicher wären auch andere Wege denkbar gewesen. Aber jetzt, wo wir jetzt diese Rückschau haben, ist es müßig zu fragen, auf welchen anderen Wegen Gottes Ziel erreichbar gewesen wäre.

Es ist an der Zeit, die Jünger zu rechtfertigen. Nein, sie konnten noch nicht verstehen, was das zu bedeuten hatte, als Jesus ihnen ankündigte, dass sie nun nach Jerusalem hinaufgehen würden. Sie konnten noch nicht verstehen, dass Menschen eigene, manchmal grausame Wege gehen ? und Gott trotzdem zu seinem Ziel kommt. Ihre dreifache Blindheit dürfen wir ihnen nicht zum Vorwurf machen.

Wenn bei uns eine Geschichte böse ausgegangen ist, wenn ein Mensch in unserer Nähe mit seinem Leben nicht mehr fertig geworden, eine Beziehung zu Ende gegangen ist, ein Konflikt zu einem Drama geworden ist, dann stelle ich manchmal fest, dass ich blind gewesen bin. Viele Hinweise, die den Ausgang einer Geschichte ankündigten, habe ich nicht gesehen, nicht wahrgenommen.
Aber auch das darf ich wissen: keine Geschichte ist nur zwangsläufig, kein Weg, der unabdingbar ins Verderben führt. Immer noch können Menschen Weichen anders stellen, auch ich. Und wenn eine Geschichte nicht gut ausgegangen ist, dann kann Gott selbst daraus noch etwas Gutes machen.

Dass eine Geschichte nicht zwangsläufig ist, dass einer sich nicht fügen muss in scheinbar Festgeschriebenes, das sehen wir an dem Blinden, der uns von den anderen Evangelisten als Bartimäus vorgestellt wird. Der ringt um einen anderen Aushang seiner Geschichte, so sehr, dass er es wagt, sich Jesus und seinen Jüngern in den Weg zu stellen. Seine Geschichte schien vorgezeichnet. Als Blinder konnte er durch keine Arbeit zum Einkommen der Familie beitragen. Er war seinen Angehörigen eine Last. Und er musste damit leben, dass viele Menschen glaubten, er wäre ein von Gott Gestrafter, mit Blindheit geschlagen. Oder dass er die Folgen tragen müsste für die Sünde seiner Eltern, seiner Vorfahren. Tag für Tag bringen ihn seine Angehörigen dort an den Weg nach Jericho, damit er als Bettler wenigstens etwas einnimmt, um sein Leben zu fristen. Er muss sich sein Leben erbetteln, erbitten.

So wie die Jünger geradezu Prototypen sind für das Verstehen-wollen und doch nicht-Sehen-können, so ist der blinde Bettler in seiner Hilflosigkeit und Angewiesenheit auch eine symbolische Gestalt. An ihm wird deutlich, was für uns alle gilt: ?dass wir Hilfe brauchen und Heilung, dass eine tiefe Kluft besteht zwischen dem, was wir sein sollen, und dem, was wir sind.? (D. Rössler, Vergewisserung, 1979, 136)
Der blinde Bettler will sich nicht abfinden mit dem absehbaren Ausgang seiner Geschichte. Und darum schert es ihn nicht, ob er auffällig wird, kümmert er sich nicht darum, dass andere ihn, den Rufenden, Schreienden zum Schweigen bringen wollen. Mit unbändigem Willen ruft er den herbei, von dem er sich Hilfe verspricht. ?Eleison? schreit er ?Sohn Davids, erbarme dich meiner? ? Huldigung und inständige Bitte an einen, dem er zutraut, dass er die Verheißung der Propheten Jesaja wird erfüllen können: ?Zu der Zeit werden ? die Augen der Blinden aus Dunkel und Finsternis sehen? (Jes. 29,8). Und er bringt Jesus dazu, stehen zu bleiben und sich ihm zuzuwenden.

Und nun entwickelt sich in großer Dichte ein Zwiegespräch. ?Was willst Du, dass ich für dich tun soll?, fragt Jesus den Blinden. Was ihm fehlt, dass soll er benennen, was er will, soll er aussprechen. Und der Blinde bringt es auf einen einzigen, für ihn existentiellen Punkt: ?Dass ich sehen kann?. Mehr braucht es nicht ? aber das braucht es: dass er sagt, was ihm fehlt und benennt, was er möchte.
Und Jesus sagt zu ihm: ?Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.?

Welche Kraft, welche Dynamik wird dem Glauben hier zugemessen. ?Dein Glaube hat dir geholfen?. Beim Evangelisten Markus heißt es ?Alles ist möglich dem, der da glaubt?, (9,23). Aber zugleich auch ?Alles ist möglich bei Gott? (10,27). Beides gehört untrennbar zusammen, sind die beiden Seiten einer Medaille. Der Glaube wirkt nicht automatisch, der Glaube führt nicht geradewegs zur Heilung. Aber der Glaube traut zu, traut Gott zu, dass er sich der Not, des Leidens und der Leidenden annimmt. Der Glaube ist die Offenheit dafür, dass Gott wirken kann. Das Ziel Gottes ist nicht immer Heilung. Das Ziel Gottes ist aber immer, dass einem Menschen die Augen aufgehen und er sehend wird für die Zusammenhänge des Lebens und für den Christus, der unsere Wege vorausgegangen ist.

?Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott?, das ist das Letzte, was wir von dem Blinden erfahren. Dem Blinden sind die Augen aufgegangen für das, was den Jüngern am Anfang verschlossen geblieben war. Und dieses Sehen, dieses Erkennen, bringt ihn auf den Weg der Nachfolge ? und zum Lob Gottes.

Und wir ?auf welchem Weg werden wir sehend für das, was Gott uns zugedacht hat?
Doch wohl nur, indem wir als Glaubende um Glauben bitten, ja, auch betteln.
Martin Luther hat in einer Predigt über diesen Bibeltext für den heutigen Sonntag gesagt: ?Da lehrt uns der Evangelist die rechte Bettlerkunst, dass man vor Gott gut betteln lerne, unverschämt sei und damit fortfahre. Das ist ein rechter Bettler, wie unser Herrgott (ihn) gern hat.?
Amen.

Arend de Vries
Nienburg
Geistlicher Vizepräsident im
Landeskirchenamt Hannover
E-Mail: Arend.deVries@evlka.de

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