Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Okuli: 3. Sonntag der Passionszeit:, 03.03.2013

Predigt zu Lukas 11:14-28 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Christian Grund Sørensen



Jesus sagt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut."

Vor einem Jahr war ich ein paar Mal in Wittenberg. Eine fantastische kleine Stadt in der ehemaligen DDR. Eine Stadt, in der der Hauch der Geschichte mit prominenten Bürgern wie Martin Luther, Philipp Melanchthon, Karlstadt (nein, nicht der mit dem Warenhaus!) und Lukas Cranach dem Ort Fülle, Farbe und Gewicht verlieh.

In jener Zeit reisten Menschen von weither nach Wittenberg. Christian II. aus Dänemark besuchte Luther in Wittenberg. Cranach malte Albrecht von Brandenburg und viele andere machtvolle Persönlichkeiten seiner Zeit. Die Universität Wittenberg gehörte zu Euopas führenden, und das akademische Leben wie auch die Mensuren (Fechtkämpfe) von Studenten, die Melanchthon schließlich verbot, zeugten von Leben und Wachstum.

In geistiger Hinsicht war die Stadt ein Kraftzentrum. Hier schlug Luther seine 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche an - d.h. am schwarzen Brett der Universität. Hier lehrte und lernte man vom Evangelium, vom Willen Gottes, von Jesu Tod am Kreuz und von der Erlösung für Sünder wie uns. Von hier zogen Männer aus und verkündeten die gute Botschaft... Von hier kam der Lebensfunke für die lutherischen Kirchen in Dänemark, Norwegen und Schweden und für zahlreiche andere protestantische Kirchen.

Auch heute ist Wittenberg eine herrliche Stadt. Schöne Häuser, die von den Bomben des Krieges verschont geblieben sind - und in der Zeit nach dem Krieg Abriss und pietätsloser Modernisierung haben entgehen können, weil dafür das Geld fehlte. Ein glückliches Geschick für eine geschichtlich bedeutende Stadt. Eine schöne Hauptstraße, auf der man den Hauch der Geschichte vernimmt, mit hübschen Gebäuden, Straßencafés - und sogar einer Strandbar!

Aber sehen wir genauer hin, sieht es nicht ganz so glückselig aus. Heute füllen ausländische oder jedenfalls auswärtige Kirchenleute die Kirchen, also Besucher, die die historischen Stätten aufsuchen - oder irgendeine kirchliche Unterrichtseinrichtung frequentieren. Das Christliche blüht in Souvenirgeschäften und im christlichen Buchladen der Stadt. Der alte Kulturpalast aus DDR-Zeiten empfiehlt den Reisenden „gute lutherische Küche".

Wo aber ist das geistige Leben? Wo ist die Glut des Evangeliums abgeblieben? Ausgerechnet diese Gegend Deutschlands ist als eine der am meisten „entchristlichten" Gegenden Europas bekannt. Oder vielleicht sogar der Welt? Auf meiner Wanderung durch die Straßen der Stadt stieß ich auf ein trauriges, geschlechtsloses Gebäude. Da konnte man die Beerdigung seiner Angehörigen abhalten. Man hatte die Wahl zwischen religiös, christlich und atheistisch. Freie Auswahl auf ganzer Breite. Aber nicht eine Kirche, die an die Auferstehung und das ewige Leben erinnert. Keine Kapelle, die Gottes Liebe und unendliche Wertschätzung des Verstorbenen und der Hinterbliebenen verkündet...

Was ist da mit dem christlichen Paradies der Vergangenheit geschehen?

War es der Kommunismus, der Materialismus oder Gleichgültigkeit?

Jesus sagt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut."

Im heutigen Evangelientext hören wir Jesus von Dämonenaustreibungen sprechen. Vielleicht sind die heutzutage nicht gerade das allerpopulärste Thema für Predigten in der Volkskirche. Es klingt eher, wie wenn wir im Mittelalter wären, es klingt unaufgeklärt und verschroben religiös.

Wir wissen doch alle, dass derlei mit chemischem Ungleichgewicht im Gehirn zu tun hat und folglich mit Psychopharmaka zu behandeln ist, mit Einsperren und ärztlichem Sachverstand. Oder wissen wir das eigentlich?

Hat das Leben in einem inneren Gefängnis nicht vielleicht psychische, soziale und geistige Ursachen? Denn jetzt müssen wir feststellen: Jesus operiert mit Besessenheit ganz konkret.

Auf der anderen Seite scheint es so zu sein, dass Jesus weiter denkt, als die vulgäre Auffassung von Besessenheit reicht, die wir von allerlei Horrorfilmen kennen. Denn Besessenheit ist nicht nur eine Frage des bösen Geistes, sondern auch eine Frage danach, was sonst noch das Haus des Lebens füllt.

Jesus erzählt von einem Mann, dem ein böser Geist ausgetrieben wird. In unseren Ohren klingt das vielleicht merkwürdig - aber Jesus trieb oft böse Geister aus. Verwerfen wir das, müssen wir konsequenterweise auch andere gewichtige Teile des Neuen Testaments verwerfen.

Und dann können wir denken: Der Böse ist weg. Jetzt kann das Leben weitergehen und sich entfalten, und der Betreffende kann dem Sonnenuntergang entgegenreiten wie der Held in einem amerikanischen Wildwestfilm.

Aber nein, sagt Jesus. „Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht; dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er's gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andre Geister mit sich, die böser sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie darin, und es wird mit diesem Menschen hernach ärger als zuvor."

Wie sollen wir das verstehen?

Wir können es vielleicht auf einer individuellen Ebene verstehen: Ohne Gott in unserem Leben sind wir der Leere preisgegeben. Ja, Jesus ist für uns gestorben und auferstanden. Wir sind freigekauft. Aber was hilft es eigentlich, wenn das Haus unseres Lebens nur „gekehrt und geschmückt" ist? Wenn Jesus keinen Platz für dein und mein Leben hat? Wenn Gott nur zu Toasts oder Tischreden hervorgeholt oder für Heiligabend abgestaubt wird?

Gott liebt uns! Das ist schwer zu begreifen und zu akzeptieren. Es ist schwer, sein Herz für die große Liebe zu öffnen. Schwer, den Glauben daran zu wagen, dass Gott uns so sehr lieben kann, dass er seinen Sohn sterben lässt. Schwer... Aber für Gott ist alles möglich. Er kann das Eis des Herzens schmelzen und uns ahnen lassen, dass es ihn tatsächlich gibt. Dass du und ich nicht zufällige Staubkörner im Kosmos sind, sondern dass wir gewollt, geliebt und wertvoll sind.

Dies zu begreifen und zu erfahren ist der im Acker verborgene Schatz, für den ein Mensch alles verkaufen will, um ihn zu erwerben, oder die kostbarste Perle, die alle anderen Perlen erbleichen lassen.

Wir können das Gleichnis Jesu auch auf einer Ebene zu uns sprechen lassen, die über das Individuelle und Persönliche hinausgeht. Die in die Welt hineinreicht, in der du und ich leben.

Ich habe meine Predigt mit Wittenberg begonnen, und das habe ich nicht nur getan, um über den Text des Tages nicht sprechen zu brauchen; die Geschichte von Wittenberg ist für mich ein Sinnbild dafür, wie sich der eine Dämon austreiben lässt - und die sieben neuen ihren Einzug halten.

In der westlichen Welt haben wir gegen alle Formen der Unfreiheit und Ungleichheit gekämpft. Alle können leben, wie sie wollen. Niemand soll den Forderungen oder Vorurteilen Anderer unterworfen sein. Freiheit und Gleichheit - und nicht ganz so viel Brüderlichkeit.

Und was haben wir bekommen? Als der Geist der alten Zeit ausgetrieben und das Haus gekehrt und geschmückt wurde, was haben wir da bekommen?

Wir HABEN viel Freiheit erhalten. Wir haben Reichtum bekommen - jedenfalls viele von uns. Wir können bis ans Ende der Welt reisen, und wir können Silikonbrüste bekommen! Ich kann die Geister mit Tarockkarten und Gurus einlassen. Niemand kann mich daran hindern! Die Welt ist groß und offen geworden!

Wir haben auch die Einsamkeit bekommen. Mehr Menschen als jemals zuvor leben allein. Viele feiern Weihnachten nur mit sich selbst. Viele Menschen finden nie einen Freund oder eine Freundin oder Ehepartner. Viele Menschen bekommen nie die Kinder, die sie sich erträumen.

Und ist das Wunder geschehen, dass man seinen Einzigen gefunden hat und man seine Familie aufbaut und die Zukunft plant, dann bedarf es nicht eben vieler Windstöße, und das Haus fällt ihnen zum Opfer. Scheidungen kommen in irgendeiner Form fast in allen Familien vor. Auch in den christlichen.

Wenn ich mit meinen Konfirmanden spreche, denken sie darüber nach, dass die Familie, in der sie aufwachsen, so leicht auseinandergerissen werden kann. Viele Menschen haben es erlebt. Alle haben Freunde, die es erlebt haben. Und daraus entsteht existenzielle Unsicherheit.

Und was wird das für die künftigen Generationen bedeuten? Sie werden heranwachsen mit einer Mantra, dass du alles selbst bestimmen kannst: Lebensstil, Ausbildung, Sexualität, Familienform, Zukunft?

Alles kann immer anders sein, wie der Soziologe Niklas Luhman es ausgedrückt hat... Die Welt ist veränderbar - und du und ich müssen auf dem Trittbrett mitfahren...

Wo ist wohl Gott - und wo ist Jesus Christus? Gibt es wohl eine Alternative dazu, dass da immer sieben neue Geister Schlange stehen, wenn es gerade so ordentlich und rein geworden ist?

Jesus sagt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut."

In Wittenberg habe ich auch das lokale DDR-Museum besucht. Hier geht es um den Versuch, etwas vom Geist und der (N)Ostalgie der kommunistischen Ära zu bewahren. Ich wurde von einer äußerst wortkargen und etwas beleibten Dame durch das Haus geführt. Bis ich zufällig davon sprach, dass ich bei mir zu Hause in der Garage ein MZ-Krad stehen hätte... Da taute sie sichtlich auf und führte mich mit einer Flut von netten Anekdoten durch die restlichen Räume.

Ihre Worte über die Vergangenheit lauteten: „Damals hatten wir nicht viel! - Aber wir waren zusammen. Heute nicht...!"

So, glaube ich, kann sich in den meisten westlichen Gesellschaften die Geschichte anhören. „In alten Zeiten war es viel besser!"

So klingen auch in der Kirche oft die Klagelieder. Einst hatten wir einen Luther, einen Kaj Munk und überwältigende Teilnehmerzahlen beim Abendmahl!

Das Lied sollten wir nicht unkritisch mitsingen, denn Gott ist nicht tot. Und das heißt - ceteris paribus - es gibt eine Zukunft. Auch für die Kirche. Auch für dich und mich, für jeden von uns.

Vielleicht muss das Alte sterben, damit etwas Neues entstehen kann?

Vielleicht muss der alte Geist ausgetrieben werden, damit gekehrt und geschmückt werden kann?

Aber das Haus darf nicht leerstehen, die sieben neuen Geister, schlimmer als die alten, dürfen nicht eindringen mit ihrem Umzugsgut und das Leben einnehmen, das wir frei genannt haben.

Wenn Gott nicht in deinem und meinem Leben ist, ist da Leere, ist da ein Vakuum, eine Lücke, die ausgefüllt würde. Ganz automatisch.

Wenn Gott nicht in unserer Gesellschaft ist, ist da Leere, ist da ein Vakuum, eine Lücke, die ausgefüllt würde. Ganz automatisch.

Jesus gab sein Leben. Deshalb sollen wir mit dem Geist leben, nicht mit den Geistern. Gottes Geist in unserem Leben, der Heilige Geist. Gottes Gegenwart, die von solcher Fülle ist, dass andere Geister keinen Platz bekommen können.

Der Gegensatz von Leere ist Fülle. Ein gekehrtes und geschmücktes Haus ist eine feine Sache - aber noch besser ist es, wenn Leben darin ist!

Jesus sagt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut."

Amen



Pastor Christian Grund Sørensen
DK-9610 Nørager
E-Mail: cgs@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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