Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Judika: 5. Sonntag der Passionszeit, 17.03.2013

Predigt zu Lukas 1:26-38 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Poul Joachim Stender



Jungfrau, Jungfrau, Jungfrau. Immer dieses „Jungfrau" vor Maria, als ihre Jungfräulichkeit, ihr unperforierte Unschuld nach der Empfängnis Jesu das wichtigste an ihr. Es erinnert mich an den Geschmack meiner Eltern für Titel. Meine Mutter wurde Frau Schulleiter Stender tituliert, weil mein Vater Schulleiter war. Sie selbst war Krankenschwester. Ich musste meine Familienmitglieder immer mit dem familiären Titel vor dem Namen anreden. Onkel Martin, Tante Ebba, Onkel Aage. Nicht einmal im Tode lassen so manche Menschen von ihren Titeln. Man mache bloß einmal einen Spaziergang auf dem Friedhof. Kleinsiedler Hansen. Gemeindevorsteher Ebbesen. Gemeindepfarrer Lund. Auch im Tod sind wir bestrebt, einen Titel mit ins Grab zu schmuggeln. Aber nackt sind wir auf die Welt gekommen. Nackt gehen wir wieder von hier davon. Jungfrau Maria hat viele andere Namen als Jungfrau. Z.B. Mutter Gottes. Warum sind wir an der Unschuld Marias so interessiert? Paulus, der einige seiner wichtigsten Briefe nur 25 Jahre nach der Auferstehung Christi schrieb und damit die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Bibel über Jesus lieferte, spricht mit keinem einzigen Wort davon, dass Gottes Sohn von einer Jungfrau geboren worden wäre. Und das Markus- und Johannesevangelium ebensowenig. Überhaupt wird Maria im Neuen Testament nur ganz selten erwähnt. Im Lauf der Geschichte haben die Christen Marias Jungfräulichkeit geradezu krankhaft Aufmerksamkeit geschenkt, als wäre ihre Unschuld nach der Empfängnis Jesu das Wichtigste bei ihr.

Diese Anbetung der Reinheit ist kein altes Phänomen. Sie wird selbst in unserer Zeit viel geübt. Allerdings ist sie von der Sexualität weg und zu den Därmen umgesiedelt. Darmspülungen und andere Formen der Darmreinigung sind noch nie so populär gewesen wie heutzutage. Die Leute machen die eine Entgiftungskur nach der andern. Reine Körper scheinen populärer zu sein als reine Gedanken. Aber man fragt nicht nur nach der physischen Reinheit. Man fordert immer nachdrücklicher, dass das Strafregister eines Politikers völlig rein zu sein hat. Aber welcher Mensch ist ganz rein? Niemand von uns ist ganz rein. Das Große an Maria ist ja nicht ihre Reinheit oder die unbefleckte Empfängnis Jesu. Sondern dass sie sich von dem Göttlichen anstecken ließ. Die Jungfrauengeburt wird so zu einer Erzählung von dem, was am Christentum ganz wesentlich ist. Nämlich Gottes Wille, sich mit dem Irdischen und Unreinen zu vereinen. Es ist ein wunderbarer Gedanke, dass Christus sich mit uns vereinen will, obgleich unsere Gedanken schmutzig und unsere Taten unrein sein können. Himmel und Erde können in uns vereint werden. Der Glaube an die Auferstehung Christi von den Toten ist das Wesentliche im Christentum. Wie Gottes Sohn durch eine unperforierte Unschuld brach, so durchbrach er die unperforierte Schale des Todes. Es ist nicht besonders wichtig, ob Maria Jungfrau war oder nicht. Das Faszinierende an der Mutter Gottes ist nämlich nicht ihre Unberührtheit, als sie mit Jesus schwanger wurde. Sondern das gerade Gegenteil. Sie ließ sich berühren. Als ihr der Erzengel Gabriel erschien und verkündete, sie würde schwanger werden von der Kraft des Heiligen Geistes, war sie vermutlich 12 - 13 Jahre alt und mit einem Handwerker namens Josef verlobt. Schwanger zu werden, war eine Katastrophe für sie. Sie verlor alles. Ihr Sexualleben war nicht ihr Sexualleben. Sie war, nach den Sexualgesetzen der Bücher Moses, Josefs Eigentum. Aber die Jungfrau, die bei uns wegen ihrer Unberührtheit bekannt ist, ließ sich von den Worten des Erzengels Gabriel tief berühren. Gott wollte sie brauchen, um in Christus Mensch zu werden. Voller Angst wie noch nie in ihrem Leben flüsterte sie dem Engel mit dem Duft seiner Federn zu: „Mir geschehe, wie du gesagt hast." Wenn es in der Bibel eine Frau gibt, die sich hat berühren lassen, dann ist es die Mutter Gottes. Es besteht kein Zweifel, dass dies eines von den Dingen ist, die wir von Maria lernen können. Wir sollen uns berühren lassen von dem, was um uns herum geschieht. Wir sind keine Standbilder. Ungerechtigkeit soll uns erschüttern und auf die Barrikaden steigen lassen. Schönheit soll uns dazu bringen, dass wir Gott jubelnd Dank sagen. Aber wir sollen uns auch von Gottes Wort berühren lassen. Verlassen wir heute die Kirche und lassen uns nicht von Christus lieben, um ihn und uns untereinander lieben zu können, dann steht unsere Reaktion in diametralem Gegensatz zu Maria. Wir haben den Erzengel abgelehnt. Wir haben nein dazu gesagt, uns von Gott brauchen zu lassen. Das Fantastische an Maria war auch, dass sie nicht, wie es so viele Menschen gewohnt sind, ihr Leben in eine feste Bahn gelenkt hat. Wir sind völlig darauf konzentriert, alles bis ins letzte Detail geplant zu haben. Kontrolle ist in unsrer Gesellschaft zu etwas vom Allerwichtigsten geworden. Es fällt uns darum schwer, etwas Unerwartetes zu tun oder Christus unser Leben in eine neue Richtung drehen zu lassen. Aber Maria war, als Gott sie brauchen wollte, bereit, die Richtung, die sie für ihr Leben eingeschlagen und geplant hatte, abzubrechen. Das bedeutete ein ungeheuer schweres Leben für sie. Sie ist z.B. bei der Kreuzigung ihres Sohnes zugegen. Aber es brachte auch fantastische Augenblicke in ihrem Dasein mit sich. Mitten in ihrer Schwangerschaft brach sie eines Tages in Jubel aus. Sie wurde enthusiastisch. Das Wort bedeutet direkt übersetzt: „einen Gott in sich habend". Gott strampelte in ihr, und die Jungfrau schrie in ekstatischer Freude: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes! Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder, denn der Mächtige hat große Dinge an mir getan." Ich möchte wissen, ob es nicht genau so ist: Erst wenn wir Gott in uns haben und die Kontrolle aufgeben, blüht unser Dasein auf in Leidenschaft. Das größte Problem in unserer Gesellschaft von heute ist unsre Fähigkeit, uns nicht berühren zu lassen. Wir sitzen vor dem Fernseher. Ein Nation von Jungfrauen. Wir sehen Liebesfilme und Thriller und Tagesthemen oder „heute", während unsere Verhältnisse und unser Leben in Stücke gehen. Zwischen uns und der Leidenschaft, von der wir träumen, steht die schützende Glasplatte des Fernsehschirms gleich einer undurchdringlichen Unschuld. Aber Gott will keine Jungfrauen. Er will uns brauchen zur Freude unserer Mitmenschen. Plötzlich erhalten wir eine Chance, die wir nicht ergreifen, weil alles in unserem Leben bis ins letzte Detail geplant ist. Aber angesichts einer Chance kann man nur zweierlei tun: Entweder verspielt man sie, oder aber man ergreift sie. Maria entschied sich für Letzteres. Darum also. Wir wollen heute den Gottesdienst verlassen und die neuen Chancen, die uns Gott gibt, ergreifen und keine Angst davor haben, dass unser Leben eine neue und unerwartete Richtung nimmt.

Amen



Pastor Poul Joachim Stender
4060 Kirke Saaby og Kisserup Sogn på Midtsjælland
E-Mail: pjs@km.dk

Bemerkung:

1. Judika (in DK Mariae Verkündigung)
2. Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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