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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 29.03.2013

Predigt zu Matthäus 27:33-50 (51-54), verfasst von Günter Goldbach

 

 

Die vielen Kreuze und das eine Kreuz

I.

„Herr, unser Gott, du hast uns verlassen. Jetzt sind wir die Vertriebenen, die Flüchtlinge ohne Ausweis, die ins Konzentrationslager Verbannten, die zu Zwangsarbeit Verurteilten, die Verbrannten in den Krematorien... Wir sind dein Volk von Ausschwitz, von Buchenwald, von Belsen und von Dachau. Aus unserer Haut haben sie Lampenschirme, aus unserem Fett Seife gemacht. Wie Schafe zum Schlachthof ließest du uns in die Gaskammern treiben. Du hast es zugelassen, dass man uns verschleppte. Du botest dein Volk an auf dem Trödelmarkt, und es fand sich kein Käufer. Wie Vieh wurden wir in Waggons gepfercht und zu den Lagern gebracht, von Scheinwerfern angestrahlt, umgeben von Stacheldraht. Auf Lastwagen fuhr man uns zu den Gaskammern, in die wir nackt hineingehen mussten. Man schloss die Türen und löschte das Licht, und du bedecktest uns mit dem Schatten des Todes. Von uns blieben nur Berge von Kleidern, Schuhen und Spielzeug übrig...". So heißt es in einer Neufassung des 44. Psalms von Ernesto Cardenal.

Ein Beispiel habe ich geben wollen für das Erste, das Naheliegende, was wir am Karfreitag zu erinnern haben: das Leid, das wir uns angetan haben und antun. Das dürfen wir nicht vergessen: die Tatsache, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes den Menschen gekreuzigt haben. Das haben wir uns als Erstes ins Gedächtnis zu rufen am Karfreitag: die vielen Kreuze neben dem einen Kreuz, die vielen Qualen neben der einen Passion, die ungezählten namenlosen Untergänge neben dem einen Ende, die getöteten Kinder seit den Zeiten des Herodes bis Ausschwitz und Serajewo neben dem hingerichteten Jesus von Nazareth. - Nur wo wir Christen Augen und Ohren haben für das anonyme, unerkannte, verachtete und vergessene Leiden aller Menschen, nur da hören wir die Botschaft von Seinem Leiden zu Recht.

Dennoch: Täusche ich mich oder gehört es nicht auch ein bisschen zum guten Ton heutzutage, von der Qual des Menschen zu reden, von seiner Angst, von seinem Leiden? In der Literatur und Kunst unserer Tage ist das en vogue: Die Erde ist zur Hölle, die Welt zu einer einzigen Schädelstätte und des Menschen Herz zur Wüste geworden. Gewiss ist das nicht falsch. Gewiss muss davon geredet werden, immer wieder. Wir dürfen das nicht übersehen und verdrängen und vergessen. Aber: Ist das die Botschaft des Karfreitag?! Die vielen Kreuze neben dem einen Kreuz, das Kreuz Jesu Christi als Symbol für das Leiden aller Menschen - ist dies das „Proprium", wie wir Theologen sagen, das „Eigentliche" des Karfreitag? Muss nicht am Karfreitag vor allem die Rede sein von Gottes Treue und unserer ganz persönlichen Untreue, von Gottes nicht endender Liebe und unserer versagenden Liebe? - Lassen Sie uns das bedenken auf dem Hintergrund dessen, was nach dem Bericht des Matthäus an einem Freitag vor dem jüdischen Passah des Jahres 30 oder 32 in Jerusalem geschah.

II.

Von unserer Untreue und Gottes Treue also müssen wir reden. Damit ist nicht gemeint unsere Untreue gegeneinander. Darüber ließe sich gewiss auch vieles sagen. Aber dazu ist jetzt nicht die Zeit und der Ort. Heute geht es um unsere Untreue gegenüber Gott. Heute geht es darum, dass wir vielleicht auch eines Tages meinen könnten: Wir haben uns geirrt. Wir haben auf die falsche Karte gesetzt. Wir haben uns lächerlich gemacht. Das alles bedeutet uns nichts mehr.

Ich denke an jemanden, der noch vor einem Jahr zu uns gehörte. Mit dem gute Gespräche zu führen möglich war. Der gleichgesinnt zu sein schien, gefestigt in seiner Überzeugung, verlässlich. - Und dann kam eines Tages der Durchschlag einer Mitteilung einer Behörde an eine andere: Der Sowieso erklärte seinen Austritt aus der evangelisch-lutherischen Kirche. Untreu geworden dem Herrn und der Sache, für die er einmal leidenschaftlich eingetreten war. Untreu geworden aufgrund irgendeiner Lappalie. Was immer der Grund gewesen sein mag: Eine Lappalie war's!

Ich denke an die Konfirmanden, die demnächst konfirmiert werden. Nicht an die, die es sowieso nicht ernst meinen; für die das alles ein äußerlicher Vorgang ist, von der Tradition erzwungen und aus Gewohnheit mitgemacht. Nein, ich denke an die, die es ernst meinen, an die Glaubenden, an die Engagierten, an die Nachdenklichen und Liebenswerten: Werden sie treu sein können?! Ist ihre Liebe zur Sache, ihre Treue zum Herrn der Kirche wie der Tau, der frühmorgens vergeht? Was wird aus der versprochenen und aufrichtig gemeinten Absicht, treu zu sein - in der Hitze des Tages, unter dem Zwang der auf anderes gerichteten Verhältnisse, angesichts des oft schlechten Beispiels derer, die ihnen nahe stehen? - „Da verließen ihn alle Jünger und flohen" (Mt. 26, 56) - so handelten schon damals die Vertrauten und Freunde. „Wahrlich, ich kenne den Menschen nicht!" (Mt. 26, 74) - so verschwor sich der Treueste der Treuen.

Von unserer Untreue war zu reden. Und Beispiele ließen sich wahrhaftig noch viele aneinanderreihen.

Aber nun ist auch zu reden von der Treue Gottes. Von der Treue des Sohnes Gottes zuerst. In absoluter menschlicher Verlassenheit und in kreatürlicher Todesangst blieb er sich selber und dem Auftrag seines Vaters treu. Er blieb uns treu! Als er von allen verlassen und verraten, gefoltert und gedemütigt worden war, als er zu Boden geworfen, an ein Kreuz genagelt und unter dem Gejohle des Pöbels wieder aufgerichtet worden war, als er verhöhnt worden war: „Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz!" - da blieb er, wo er war: am Kreuz! War das nicht das Zeichen der Treue dessen, der uns treu blieb gegen unsere Untreue?! Und bestätigte Gott nicht diese Treue seines Sohnes, indem er sich zu ihm bekannte?! Indem er ihn nicht in dem Tode ließ, den er aus Treue zu uns auf sich genommen hatte?!

III.

Doch nun sollten wir auch noch reden von unserer Unfähigkeit zur Liebe und von Gottes Liebe zu uns.

Von unserer Unfähigkeit zur Liebe also müssen wir reden: Wir lieben - das ist ja so menschlich - das Schöne, das Ansehnliche und Erfolgreiche. Wir lieben das Unbesiegbare und Unzerstörbare. Wird aber der Gegenstand unserer Liebe unansehnlich, unschön, elend und zerbrochen, dann bedeutet das zumeist das Ende unserer Liebe. So ist das mit der Liebe unter uns. Aber das gilt auch für unsere Liebe zu Gott. Gott - das ist doch in unserer Vorstellung der Superlativ schlechthin. Und natürlich sind wir bereit, das Höchste und Vollkommene zu lieben und zu verehren.

Aber einen Gott lieben, der leidet und getötet wird - wer kann das?! „Er war der Allerverachteste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg..." (Jes. 53, 3). Der verheißene Messias, der Heilbringer, unter den verachtet Leidenden?! Und den sollten wir lieben und verehren?! Wir, die wir von unserem Gott und unserem Heil gar nicht anders denken können als in Kategorien des Sieges? In unserer Vorstellung ist die Heilsgeschichte eine Geschichte des Erfolgs und der Sieger. Und nun sollen wir einen Gescheiterten und Besiegten lieben? Noch einmal: Wer kann das und wer will das?!

Aber nun muss die Rede sein von Gottes Liebe zu uns, die am Karfreitag offenbar wurde. Was lässt sich da sagen über das hinaus, wovon schon die Rede war? Vielleicht lässt es sich verdeutlichen an einer seltsamen Geschichte, die einer meiner verstorbenen Lehrer aufgeschrieben hat. Diese Geschichte berichtet von einer Episode des 2. Weltkriegs aus einem Land des Balkans, aus Serbien. Von einer Anhöhe berichtet die Geschichte, die zwischen den Frontlinien lag und auf der sich die Wege von allen Himmelsrichtungen kreuzten; und von einem Kruzifix, das weithin sichtbar auf jener Höhe stand.

Und das schrieb nun jener Mann auf: „Das Eigentümliche war: Weder fiel das Kruzifix im Feuer der Geschütze, noch gelang es uns oder den anderen, diese Höhe länger als eine Nacht zu besetzen. Und jedes Mal, wenn wir oder die anderen die Höhe wieder räumen mussten, ließen wir unsere Toten dort zurück. Sie lagen zu Füßen des Gekreuzigten. - Da kam jemand auf den Gedanken, dass die Höhe nur darum nicht einzunehmen wäre, weil das Kreuz am Wege den Geschützen zum Richtpunkt diente, der Tod auf dieser kleinen Höhe nur darum herrschte, weil er dort stand, er am Ende der Tod selber wäre. Und als wir noch einmal die Höhe in Besitz genommen hatten, versuchte der, der dieses dachte, das Kreuz umzuwerfen. Aber es gelang ihm nicht. So oft er sich gegen das Holz des rissigen Stammes stemmte, sich mit seinem Körper dagegen warf, es blieb".

Ist diese kleine Geschichte nicht von tiefer Symbolik? Über den Toten und über den Lebenden bleibt das Kreuz Jesu Christi stehen. Und wer es zu stürzen versucht, lernt: Seit der Stunde von Golgatha ist es der Erde unumstößlich eingepflanzt. Ja dort, wo es steht, ist ein Land, das keiner in seine Macht bekommt. Darum bezeichnet das Kreuz die Stelle, an der niemand stehen kann außer ihm. Dieses Kreuz ist deshalb nicht zu fällen, weil an dieser Stelle wie an sonst keiner deutlich wird, dass Gott uns liebt:

Das ist doch das Geheimnis der Liebe, dass sie sich zu erniedrigen bereit ist. Das ist doch die wahre Liebe, die sich auch angesichts der Untreue und Lieblosigkeit dessen, dem sie gilt, nicht zurücknimmt, sich nicht widerruft. Das ist doch die wahre Liebe, die sich entäußern kann, auch wenn sie zum Gespött aller wird. Dazu ist unsere Liebe niemals imstande. Allein die Liebe Gottes ist das.

IV.

Ein Letztes sei gesagt: Ein Bild sah ich kürzlich, ein Bild, das eigentlich nur eine große graue Fläche oder Mauer darstellte. Und darunter die Worte mit ungelenken Buchstaben, wie von Kinderhand an den Wänden und Mauern gekritzelt: Jesus, meine Zuversicht.

Eine graue Mauer haben wir vor uns, wenn wir nüchtern die Wirklichkeit unseres Lebens ansehen. Eine Mauer der Hoffnungslosigkeit. Denn wir kennen uns ja: unsere Unfähigkeit zur Treue, unsere Unfähigkeit zur Liebe, unser ganzes Versagen. Aber das können wir doch noch: diesen Satz an die Mauer unseres Versagens malen. Vielleicht mit krakeligen Buchstaben, mit zittrigen Händen, wie Kinder: Jesus, meine Zuversicht!

Wenn wir das tun, werden wir Kinder sein: Kinder Gottes, die er heimgeholt hat. Denn Gott will nicht, dass wir - verdammt in alle Ewigkeit - so weiterleben. Gott will die Veränderung der Dinge. Er will die Wende.

Das weist hin auf das tiefste Geheimnis dieses Sterbens Jesu am Kreuz, das man eben nicht erklären, sondern nur umschreiben kann. In der Kirche versuchen wir das mit den Worten: Er starb für uns. Er starb den Tod des Todes. Er starb, damit wir durch diesen Tod erlöst, d. h. der Liebe Gottes teilhaftig würden und so allein gerechtfertigt. Der sterbende Jesus zeigt uns den Gott, der uns heimholt. Der uns loskauft vom Sklavenmarkt der Weltgeschichte. Vom Zwang, untreu sein zu wollen. Vom Schicksal, unfähig zu sein zur Liebe. Jesus, meine Zuversicht! Amen.




Pfarrer Dr. Dr. Günter Goldbach
49088 Osnabrück
E-Mail: guenter.goldbach@uni-osnabrueck.de

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