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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Gründonnerstag, 28.03.2013

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 12:1.3-4.6-7.11-14, verfasst von Wolfgang Vögele

 

Ägypten – Rothenburg - Jerusalem

Der Predigttext für diesen Gründonnerstag steht in 2.Mose 12,1-14, in Auszügen:

Der HERR aber sprach zu Mose und Aaron in Ägyptenland: Sagt der ganzen Gemeinde Israel: Am zehnten Tage dieses Monats nehme jeder Hausvater ein Lamm, je ein Lamm für ein Haus. Wenn aber in einem Hause für ein Lamm zu wenige sind, so nehme er's mit seinem Nachbarn, der seinem Hause am nächsten wohnt, bis es so viele sind, dass sie das Lamm aufessen können. (…) und sollt es verwahren bis zum vierzehnten Tag des Monats. Da soll es die ganze Gemeinde Israel schlachten gegen Abend. Und sie sollen von seinem Blut nehmen und beide Pfosten an der Tür und die obere Schwelle damit bestreichen an den Häusern, in denen sie's essen, (…) So sollt ihr's aber essen: Um eure Lenden sollt ihr gegürtet sein und eure Schuhe an euren Füßen haben und den Stab in der Hand und sollt es essen als die, die hinwegeilen; es ist des HERRN Passa. Denn ich will in derselben Nacht durch Ägyptenland gehen und alle Erstgeburt schlagen in Ägyptenland unter Mensch und Vieh und will Strafgericht halten über alle Götter der Ägypter, ich, der HERR. Dann aber soll das Blut euer Zeichen sein an den Häusern, in denen ihr seid: Wo ich das Blut sehe, will ich an euch vorübergehen und die Plage soll euch nicht widerfahren, die das Verderben bringt, wenn ich Ägyptenland schlage. Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag haben und sollt ihn feiern als ein Fest für den HERRN, ihr und alle eure Nachkommen, als ewige Ordnung.“


Liebe Gemeinde,

wer am Rand des Hohenlohischen, im weltberühmten Rothenburg ob der Tauber nach einem Spaziergang durch die mittelalterliche Altstadt die evangelische Stadt- und Pfarrkirche St. Jakob betritt, der kann eine Treppe hoch oben auf dem Westportal ein Wunder des Betrachtens und Sehens erleben. Denn auf der Empore ist der großartige Heiligblutaltar des Bildhauers Tilman Riemenschneider (1460-1531) aufgestellt. Der Heiligblut-Altar hat seinen Namen von einer Reliquie bekommen. In einem Bergkristall soll angeblich ein Tropfen von dem Wein eingefaßt sein, den Jesus beim ersten Abendmahl verschüttet hat. Der Künstler und Holzbildhauer Riemenschneider lebte in der Zeit der Reformation und war in ihre kriegerischen Wirren verwickelt. In hohem Alter wurde er von den Truppen des Würzburger Bischofs verhaftet, eingekerkert und gefoltert.

Die Rothenburger Stadtkirche kam später unter evangelische Leitung. Deswegen steht heute ein ehemals katholischer Reliquienaltar in einer evangelischen Kirche. Das wäre nicht weiter von Belang, wenn nicht Riemenschneider passend zu dieser Legende vom Weintropfen im zentralen Altarbild die Szene vom letzten Abendmahl plastisch gestaltet hätte.

Alle zwölf Apostel und Christus selbst sind um einen Tisch versammelt. In der vorderen Reihe sitzen die Apostel auf Bänken. Die hinteren stehen am Tisch. In der Mitte und im Mittelpunkt steht der Verräter Judas, der sich an Christus vor ihm wendet. Erst auf den zweiten Blick fällt der Lieblingsjünger auf. Er hat seinen Kopf friedlich und zärtlich in Jesu Schoß gelegt. Aber seine Figur wird von Judas im Vordergrund fast ganz verdeckt. Wer die auf dem Altar dargestellte Szene betrachtet, der ist überwältigt von den detailliert gestalteten Figuren, von den lockigen Haaren, von den Gesichtsausdrücken, von der Faltung der Kleider, von den Gesten der Hände. Alle Jünger und der gastgebende Christus erscheinen als eigenständige, in sich selbst gestaltete Figuren, in all ihrer Besonderheit und Individualität, Männer mit einer besonderen Lebensgeschichte des Glaubens. Das Lindenholz, aus dem Riemenschneider geschnitzt hat, ist nicht bemalt, und trotzdem wirken die Figuren plastisch, lebendig und lebensnah. So sehr, daß der Weintropfen in der Reliquie, wenn er denn echt wäre, genau und realistisch zu der Abendmahlsszene passen würde.

Die Geschichte vom Abendmahl ist Gestalt geworden, so wie es sich niemand davor und danach hätte ausmalen können. Die Vorstellung der Glaubenden, die aus den Wörtern erwächst, verwandelt sich in ein lebendiges Bild. Gerade deshalb und weil das Abendmahl so wichtig ist, steht der katholische Reliquienaltar weiter in der evangelischen Kirche. In Rothenburg ist das Katholische im Evangelischen geborgen und verborgen. In der Geschichte vom Abendmahl Jesu verbirgt sich etwas Ähnliches. Im Abendmahl verbirgt sich das jüdische Passamahl. Das eine ruht auf dem anderen auf.

Das Passamahl, wie es im zweiten Buch Mose als ewige Ordnung empfohlen wird, ist ein Festmahl des Übergangs und der Veränderung. Das Lamm wird geschlachtet, gebraten und gegessen. Die Blutspur wird an die Pforte der Tür gemalt. Sie ist das Erkennungszeichen für Gott. Das Lammblut ist ein Schutzzeichen: Dort wo es zu sehen ist, wird Gott die erstgeborenen Söhne nicht töten. Wer Passa feiert, ist gerettet, der kann sich mindestens auf den Weg ins gelobte Land machen, um dann gerettet zu werden.

Hinter der Verknüpfung zwischen Passamahl und Auszug aus Ägypten verbergen sich noch einmal ältere Traditionen, mythische Vorstellungen, die für uns heute nur noch in Umrissen sichtbar werden. Der Gott JHWH kämpft gegen seine Feinde. Er zieht als Rächer durch die Nacht. Hirten versammeln sich im Frühjahr, um ein Lamm zu schlachten und gemeinsam zu essen. Das Lammblut drückt den Wunsch nach Schutz und Segen in der kommenden Weidesaison aus. Bei den Hirten steht die Passafeier an einer Schnittstelle: Das Winterlager ist vorüber und die Sommerzeit beginnt. Für Israel in Ägypten ist die lange Leidenszeit der Sklaverei vorbei, und es beginnt der Zug durch die Wüste ins gelobte Land. Für Jesus ist die Zeit des Predigens und Heilens vorbei, und es beginnt die Passion. Die Ursprünge des Passafestes liegen im Dunkel der Geschichte, das der forschende Blick der Wissenschaften nicht mehr aufhellen kann.

Das beschädigt nicht den guten Sinn dieses Festes. Es ist gut, solche Feste des Übergangs zu haben. Sie erleichtern den Menschen den Schritt in eine neue unbekannte Welt. Am Anfang steht: Das Alte wird zerstört. Die vielen Götter Ägyptens gehen unter, ihre Statuen werden zertrümmert. Die grausame Vorstellung vom Mord an den Erstgeborenen, Menschen wie Tieren, soll sagen, daß die Wachstums- und Vermehrungslinien des Alten und Überkommenen abgebrochen werden. Das Alte geht ein, es verdorrt, verfault, es geht unter. An seine Stelle tritt etwas anderes, Neues, ein Aufbruch, eine Hoffnung, die sich für das Volk Israel in dem gelobten Land, wo Milch und Honig fließt, verdichtet. Ich will nun nicht die komplizierte Geschichte erzählen, wie sich aus dem Hirtenopfer das Passafest entwickelt hat und welche religionsgeschichtlichen Traditionen dabei eine besondere Rolle spielten. Ich nehme es als gegeben hin, daß das Mahl des Lammes (Passa) in besonderer Weise mit dem Auszug Israels aus Ägypten verknüpft ist.

Ich habe Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Gott als einem Menschen mordenden Rächer. Ich kann sie nur akzeptieren, wenn ich sie in den Horizont damaliger (Religions-)Geschichte einordne. Genauso habe ich Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß Gott Jesus Christus am Kreuz opfert. Aber davon später.

Das Entscheidende, das Hoffnungsvolle und Tröstende am Passamahl scheint mir der Aufbruch zu sein. Wer Passa feiert, beginnt Neues. Er geht ein Wagnis ein und verläßt sich auf Gottes Verheißung. Er läßt die Vergangenheit zurück und geht erste tastende Schritte in die Zukunft. Nicht das Opfer des Lammes steht im Vordergrund, sondern das gemeinsame Essen und die Hoffnung auf das, was kommt. Passa erinnert die Menschen in Israel daran, daß das Leben ein Aufbruch ist, ein Schritt ins Unbekannte, in eine Weite, die sich nicht berechnen läßt. Ägypten, die Wüste und das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen, stehen für eine Geschichte, in der die genannten Orte zu Bildern gerinnen. Ägypten ist das Alte, das Konservative, das Lähmende und Beschwerende, ein Ort der Götzen und der falschen Gottesverehrung, der Ort der Sklaverei. Die Wüste ist der Ort der Lebenswanderung, manchmal unter schwierigen Bedingungen, ohne Wasser und unter brennender Sonne. Wüste ist auch der Ort des Murrens und Meckerns, der Ort des Lebens auf eine Hoffnung hin, die noch nicht erfüllt ist. Das gelobte Land schließlich steht für Fruchtbarkeit, für eine Welt ohne Sorgen, für die Erfüllung von Gottes Versprechen und Verheißungen, für eine Welt der Gottesnähe und Glaubensheiterkeit.

Das Passafest bringt Bewegung in diese Geographie des Glaubens. Passa ist der Anfang, der Aufbruch, der erste Schritt des langen Weges durch die Wüste zum gelobten Land. Die Menschen lassen das Alte hinter sich, Gott zerstört das Alte, das steril und trocken Gewordene. Gott wehrt als Racheengel das Böse ab und zerstört. Er gibt den Menschen Hoffnung mit. Das ist die Passageschichte der hebräischen Bibel, das religiöse Drehbuch, nach dem noch heute Juden in aller Welt dieses Fest feiern. Abschied aus der alten ägyptischen Welt der Sklaverei, Aufbruch zu Gott. Wie der jüdische Pilgergruß am Sederabend lautet: Baschanah haBaah b‘Jeruschalajim! Nächstes Jahr in Jerusalem.

Liebe Gemeinde, alle Wege führen nach Jerusalem. Wir gehen die Reise nach Jerusalem über die Nebenstraße, die durch Rothenburg ob der Tauber führt. Denn der in der Reliquie aufbewahrte Tropfen Wein soll in Jerusalem aus dem Krug verschüttet worden sein.

Am Vorabend seiner Verhaftung, an dem Tag, den wir heute den Abend des Gründonnerstag nennen, ist Jesus von Nazareth schon in der Nähe von Jerusalem angelangt. Er feiert wie alle Juden das Passafest mit einem gebratenen Lamm. Aber für ihn und für die späteren Christen verwandelt sich das Passafest an diesem Abend in das, was wir heute das Abendmahl und seine Feier nennen. Aus dem Sedermahl des Passa wird das Teilen von Brot und Wein. Das gebratene Lamm tritt beim Abendmahl in den Hintergrund. In den Vordergrund rückt zweierlei: Brot und Wein als Symbole für das Leben Jesu von Nazareth sowie der Verrat des Judas. Das Passamahl Jesu ist bestimmt durch Verwandlung (1), Aufbruch (2), Verrat (3) und Gegenwart (4). Ich will diese vier Stichworte kurz beleuchten.

Verwandlung (1): Mit der Geschichte vom Abend- und Passamahl Jesu werden die Grenzen zwischen Judentum und Christentum durchlässig. Es geht selbstverständlich nicht darum, das Christentum zum besseren Judentum zu erklären. Es soll auch niemand vom Judentum zum Christentum bekehrt oder nur überredet werden. Aber es ist auffällig, wie sehr sich beide Traditionen gerade im Abendmahl durchdringen. Und das erinnert doch sehr daran, wie in der evangelischen Stadtkirche der katholische Reliquienaltar steht, obwohl evangelische Christen mit Reliquien theologisch und liturgisch nun wirklich gar nichts anfangen können. Jesus von Nazareth hat sein Judentum gelebt und es in etwas Neues verwandelt. Er selbst hatte dabei vermutlich nicht die Absicht, eine neue Religion zu begründen.

Aufbruch (2): Was in Ägypten der Aufbruch in die Wüste war, wird in Jerusalem zum Aufbruch in das Leiden, zum Prozeß, zur Folterung, zur Verteilung, zum elenden Tod am Kreuz. Das Abendmahl ist Aufbruchs- und Passamahl und in gewissem Sinn auch Henkersmahlzeit. Jesus bricht zum Leiden auf. Manche Menschen können damit gar nichts anfangen, sie halten das für eine Art theologischen Masochismus Jesu.

Nicht nur in der Geschichte vom Abendmahl Jesu, in der gesamten Passionsgeschichte zerbricht eine bestimmte Gottesvorstellung. Gott ist nicht der Erfüllungsgehilfe menschlicher Wünsche. Er greift nicht dann ein, wenn menschliches Handeln versagt oder an sein Ende gekommen ist. Gott opfert auch nicht seinen Sohn, weil er sich selbst versöhnen will und Menschen diese Versöhnung nicht leisten können. Gottes Handeln in der Passion kann nicht ohne die Begriffe Tiefe und Verborgenheit gedacht werden, im übrigen auch nicht ohne Brüche.

Gott ist im Abendmahl und in der gesamten Passionsgeschichte dort anwesend, wo Christus leidet und von Menschen, nicht von Gott gequält wird. Erst ganz am Ende, jenseits von Folter, Qual, Kreuzigung und Tod, wird in der Auferstehung deutlich, wie Gott auf dieses Geschehen antwortet. Wenn es richtig ist, das Leben als Aufbruch zu verstehen, so wird aus der Passionsgeschichte deutlich, daß dieses Leben ohne Leid nicht zu denken ist. Wer im Glauben aufbricht, der kann dem Leiden nicht ausweichen. Aber er kann sich sicher sein, daß er gerade in diesem Leiden, in der größten Verzweiflung Gott begegnen wird. Der Aufbruch von Passa, aber auch der Aufbruch des Abendmahls werden nicht von einem naiven Optimismus getragen, nach dem Motto: Wir werden in jedem Fall ankommen. Der Aufbruch von Passa und Abendmahl wird vom Glauben getragen, nach dem Motto: Egal was ein Mensch in seinem Leben an Leiden und Verrat erlebt, Gott steht zu seinen Zusagen und Verheißungen.

Verrat (3): Wir wissen nicht mehr, ob Tilman Riemenschneider bei der Arbeit an seinem Heiligblutaltar theologische Anweisungen seiner Auftraggeber umsetzen mußte oder ob er sich selbst theologische Gedanken gemacht hat, die er künstlerisch umsetzte. Wahrscheinlich war beides der Fall. Es fällt jedenfalls auf an seiner Darstellung der Abendmahlsszene, daß die Figur Jesu ganz merkwürdig in den Hintergrund rückt. Im Mittelpunkt und Zentrum steht stattdessen der Verräter Judas. Am Anfang des Aufbruchs steht Verrat im Mittelpunkt. Derjenige, der das Böse will und mit seinem Verrat auch erreicht, er hat sich in den Mittelpunkt gestellt. Die Figur des Judas ist als einzige aller Altarfiguren herausnehmbar. Was herausnehmbar ist, ist auch ersetzbar. Die Bosheit des Judas kann durch andere Bosheiten ersetzt werden. Die Beispiele sind leider so austauschbar und vielfältig wie Lindenholzfiguren. Ich meine zu spüren: Riemenschneider wollte eine Art Gleichgewicht zwischen Bösem und Gutem, zwischen Passion und Heil, zwischen Gottes Verheißungswillen und dem Eigensinn selbstgerechter Menschen zeigen. Das Abendmahl ist der erste Schritt der Verheißung, aber der Verrat ist so hineingewebt, daß er nicht davon getrennt werden kann. Der Künstler wollte (noch) in der Schwebe halten, was in der Gegenwart Christi in Brot und Wein umso nachhaltiger aufgelöst wird.

Gegenwart (4): Brot und Wein führen zum Passamahl in der letzten ägyptischen Nacht zurück. Das gebratene Lamm des Passamahls erinnert an das rettende Blut, das an die Türpfosten gestrichen ist. Blut und Wein des Abendmahls erinnern uns an den Retter, an den Heiland. Das Abendmahl ist so vieles: Aufbruch hinein in Gottes Verheißung und gleichzeitig Aufbruch in die Passion. Es ist Trost für die müde gewordenen Pilger der Lebensreise. Es ist fromme Rast und Pause. Es ist, am Ende der Passionszeit, die Botschaft entscheidend: Gott ist gegenwärtig. Amen.

 



PD Dr. Wolfgang Vögele
76133 Karlsruhe
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

Bemerkung:
Es ist sinnvoll, als Lesungstext für den Abendmahlsgottesdienst die Geschichte vom Abendmahl Jesu vorzusehen. In der Predigt wird der Heiligblutaltar der Evangelischen Stadtkirche St. Jakob in Rothenburg erwähnt. Wer entsprechend googelt, kann eine große Menge von Bildern dieses Altars finden, auch in höherer Auflösung.






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