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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 29.03.2013

Predigt zu Matthäus 27:31-56, verfasst von Leise Christensen

Den Schmerz der Angst und des Verlassenheit kennen wir alle in irgendeiner Weise. Einige vielleicht mehr als andre, aber im Grunde wissen wir, was auf den Spiel steht, wenn sich die Angst in unserem Leben breit macht. Die Angst und das Gefühl des Verlassenseins gehört zum Menschsein dazu. Manchmal sind wir ganz außer Atem, wenn wir versuchen, derlei Gefühle zu verbergen oder zu unterdrücken. Wir betrachten sie als etwas, was man ausrotten, ganz einfach aus unserer Mitte zum Verschwinden bringen muss, als etwas, was nicht zu einem modernen Menschenleben gehört. Es mag sein, dass man in alten Tagen Angstgefühle akzeptierte, aber heutzutage, nein; heute sollten wir von solchem Ärger frei sein. Wir sind dem wohl entwachsen. Aber nichts deutet darauf hin, dass es tatsächlich so ist. Die Angst ist genauso alt wie das Leben selbst, und sie ist dem Menschen auf allen seinen Wegen durch die ganze Weltgeschichte wie ein treuer, aber unerwünschter Begleiter gefolgt. War es nicht so, dass die Angst hinter dem Rücken Adams und Evas lauerte, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden? Hat nicht Kain die Angst gefühlt, als er sah, dass Gott seinen Bruder Abel bevorzugte? Und David, als er sah, wie seine Söhne in dem Reich, das er so sorgfältig errichtet hatte, um die Macht kämpften? Die Angst - nicht immer vor etwas Konkretem, vielleicht eher in der Gestalt einer Empfindung, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte - ist im menschlichen Leben ununterbrochen gegenwärtig. Die Angst ist eng verwandt mit dem Gefühl der Verlassenheit, vielleicht am allermeisten mit dem Gefühl der Gottverlassenheit - ganz und gar sich selbst überlassen sein und den Dämonen, die in unserm Innern rasen. Genau diese Angst und diese Verlassenheit kannte Jesus an dem Tage, als er am Kreuz hing, hingerichtet wie ein gemeiner Verbrecher. Eli, Eli, lama asabtani? rief er - mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mitten in seiner Angst und in seinem Schmerz wusste er, dass er auch von Gott verlassen, seinem eigenen Geschick überlassen war, verachtet sowohl von Gott als auch von den Menschen, total und ganz und gar einsam. Er, der geboren war, Leben, Liebe und Gemeinschaft zu schaffen, hing dort als der einsamste von allen Menschen. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Jesu Schrei gellt durch unsere Geschichte, und Menschen in der ganzen Welt können auch heute in den Chor einstimmen. Die fleischliche Verwirklichung dieses Schmerzes sah ich neulich im Fernsehen. Ein kleiner Junge lag in einem Krankhaus in seinem Bett, beide Arme warem ihm durch eine Bombe abgerissen, sein Körper war bedrohlich verbrannt, seine Eltern, Geschwister und Großeltern waren umgekommen, und er sagte, indem er die Stümpfe seiner Arme hin und her bewegte: Kein Berg würde all den Schmerz tragen können, den ich ertragen muss. Und man könnte hinzufügen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Nein, das Gefühl der Verlassenheit, Gottverlassenheit, ist mit dem Sprung nach oben, den die Menschheit auf der Leiter der Entwicklung gemacht hat, nicht verschwunden. Möglicherweise ist es ganz im Gegenteil schlimmer geworden. Denn im Leben vieler Menschen ist das Emfinden des Karfreitag, dass mit der Kreuzigung Jesu das Leben zerstört worden ist, zu einem alltäglichen Empfinden geworden - d.h., dass jeder Tag in gewissem Sinne ein Karfreitag geworden ist. Die Gottverlassenheit ist ein konstantes Gefühl. Vielleicht nicht in der Form eines bewussten und total unglücklichen Gefühls von Gottverlassenheit, zumal viele Menschen dies Gefühl gar nicht mit einem Gefühl der Abwesenheit Gottes verbinden, sondern es viel eher als ein Gefühl auffassen, dass etwas in ihrem Dasein fehlt. Da versuchen wir dann, mit viel Arbeit, kolossalen Mengen von Speisen, teuren Konsumgütern und großen Autos dieses gefühlsmäßige Loch in unserm Leben zu stopfen. Aber trotzdem kann es geschehen, dass wir mit einem faden Geschmack im Munde dasitzen und sehen, dass das Leben um uns herum in die Brüche geht, während wir im Ecksofa vor dem Fernseher sitzen mit all unseren Leckereien und sonstigen Reichtümern. Die Hoffnung, dass es auch anders sein könnte, die Hoffnung, dass sich in unserm Leben ein Spalt öffnen könnte, durch den wir das Licht und das Leben hereinkommen lassen können, wurde an jenem Karfreitag auf Golgatha gekreuzigt. Als er, der unser Leben für immer ändern konnte, tatsächlich kam, da wollten wir nichts von ihm wissen, denn wir konnten es nicht aushalten, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass etwas in unserem Leben fehlte, obwohl wir es in unsrem Innersten so empfanden. Wir konnten nicht aushalten zu hören, dass wir nicht imstande waren, alles selbst zu machen, oder dass wir nicht alles selbst machen sollten. Nein, ans Kreuz mit ihm! Wir wollen immer noch nichts davon wissen. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? fragte Jesus, als er dort hing. Die Bosheit bekam an jenem Karfreitag das letzte Wort. Jesus musst einsam die Last tragen, die nicht einmal ein Berg würde tragen können. Sollen wir unausgesetzt fragen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Sollen wir unausgesetzt fragen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Sollen wir ausharren und den Schmerz selbst tragen, den nicht einmal ein Berg würde tragen können? Soll die Finsternis bis in alle Ewigkeit über das Licht siegen? Hat die Liebe im Kampf gegen die Gleichgültigkeit, die Abgestumpftheit und Bosheit für immer verloren? Wir wissen es nicht, aber wir beten darum, dass es hier nicht aufhört. Und sollten wir heute eine Ahnung haben, dass etwas mehr kommen muss, dann ist das allein wie ein schwacher Lichtstrahl an einem düsteren Himmel. Die ganze und volle Wahrheit kennen wir erst am Ostermorgen. Bis dahin müssen wir warten und hoffen. Bis dahin können wir nur beten: „Herr, erbarm dich unser!" Vielleicht wird Gott dann ein Wort sagen, das Auferstehung in unserem Leben wecken kann.

Amen

 

 



Lektor Leise Christensen
DK-6240 Løgumkloster
E-Mail: lec@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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