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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 29.03.2013

Predigt zu Matthäus 27:33-54, verfasst von Uland Spahlinger

33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,

34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken.

35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.

36 Und sie saßen da und bewachten ihn.

37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.

38 Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.

39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe

40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!

41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:

42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.

43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.

44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.

45 Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.

46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.

48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.

49 Die andern aber sprachen: Halt, laß sehen, ob Elia komme und ihm helfe!

50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.

51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von oben an bis unten aus.

52 Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf

53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.

54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

 

Keiner erzählt die Geschichte von der Kreuzigung Jesu so dramatisch wie Matthäus, liebe Schwestern und Brüder. Viele kleine Details lassen uns richtig spüren, wie es wohl gewesen sein könnte an diesem Tag. Wir können es fast selbst auf unserer Zunge schmecken: „sie gaben ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken“ (V. 34). Wir können den Soldaten zuschauen bei ihrem Würfelspiel unter dem Kreuz: „Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn“ (V. 35-36).

 

Wir beobachten den Zug der Neugierigen und der Passanten; wir hören die Spötter, die sich über den Sterbenden lustig machen: „hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz“ (V. 40)! Wir hören die Wächter der religiösen Ordnung, die Hohenpriester, die Schrift­gelehrten und die Ältesten: „Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben“ (V. 42).Und wir hören, wie auch die beiden, die mit ihm gekreuzigt werden, Schimpfworte gegen Jesus wenden.

In all dem sehen wir: Jesus ist allein bei seiner Kreuzigung. Er ist verlassen von seinen Freunden. Einer hatte ihn verraten, eine anderer hatte ihn verleugnet. Der Rest war davongelaufen. Die Frauen sind etwas mutiger – von ihnen sagt Matthäus, dass sie wenigstens von Ferne zuschauen.

 

(Musik)

 

Liebe Gemeinde, wir folgen heute nicht den Evangelien von Markus, Lukas oder Johannes. Dort werden andere Details erzählt. Bei Lukas spricht Jesus mit den beiden anderen Gekreuzigten und bittet für seine Verfolger. Bei Johannes gibt er dem Lieblingsjünger den Auftrag, für seine  Mutter Maria zu sorgen, und sagt: Es ist vollbracht, das bedeutet: mein Auftrag ist erfüllt.

 

Von all dem ist bei Matthäus keine Rede. In seiner Geschichte ist Jesus allein. Er wird von seinen Freunden verlassen. Und so steht er seinen Feinden allein gegenüber, den Wächtern des Gesetzes, den Exekutoren einer gnadenlosen religiösen Ordnung und einer gewalttätigen Staatswillkür. Allein bei seiner Verhaftung, allein vor dem Hohen Rat, allein vor Pilatus. Allein ist er auf dem Weg zur Hinrichtung – ein Passant, der zufällig des Weges kommt, wird gezwungen, ihm zu helfen.

 

Ich glaube, dass dies das erste wichtige Motiv in der Erzählung des Matthäus ist. Er sieht auf Jesus, der in seinem Leiden allein ist. Er sieht in ihm das Bild dessen, von dem der Prophet Jesaja geschrieben hatte: „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre“ (Jes. 53, 3+4).

 

Ja, es geht um uns. Matthäus hat ja nicht für sich geschrieben. Er hatte ein Publikum, er hatte Leser. Wahrscheinlich waren das christliche Gemeinden in Palästina, die sich mit dem jüdischen Glauben und seinen Überlieferungen auskannten. Er schildert seinen Lesern, was er gehört hat und was ihm entscheidend wichtig war. Ich bin davon überzeugt: Matthäus hat die Geschichte von der Verhaftung, vom Prozess und der Verurteilung und der Kreuzigung so geschrieben, dass wir Jesus als den sehen, der allein ist, von der Welt verlassen. Missverstanden. Verraten. Verleugnet. Verspottet. Verurteilt aufgrund falscher Anklage und falscher Zeugen. Man könnte sagen: wir sollen ihn erkennen als das Opfer einer Unrechtsjustiz.

 

(Musik)

 

Aber das allein wäre ja nicht genug. Matthäus will uns noch auf zwei weitere wichtige Aspekte aufmerksam machen. Er will uns zeigen: (1.) am Leiden Jesu und an diesem ungerechten Prozess kann man erkennen, dass Gott von den Menschen nicht verstanden wird. Man kann daran sehen, dass sie den Gesandten Gottes für einen Missetäter halten, für einen, der die Gesetze übertritt. So wie das schon Jesaja gesagt hat.

 

Und er will uns zeigen, (2.) dass die Menschen damit in einem großen, schwerwiegenden Irrtum sind (auch das hatte schon Jesaja erkannt): „Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes. 53,5). Es geht um uns, um unser Heil und unsere Heilung. Wir sind Teil dieser Geschichte.

 

Jesus ist allein, Jesus schreit das Sterbegebet der frommen Juden heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es ist der Anfang von Psalm 22. Ist es ein Aufschrei der Verzweiflung oder ein Ausdruck von Vertrauen ganz am Schluss? Wir können es nicht sagen. Für Matthäus war aber wichtig: Jesus sucht am Ende seines Lebens die Verbindung zu Gott. Er fragt im Sterben nach Gott, dem er im Leben so gedient hat wie keiner vor ihm. Und nicht einmal das verstehen die Leute: sie meinen, er spräche in seiner Agonie mit Elia. In Wirklichkeit aber ruft Jesus Gott um seine Gnade an.

 

(Musik)

 

Und dann, während Jesus stirbt, geschehen Dinge, die mit dem normalen Sterben eines verurteilten Verbrechers nichts mehr zu tun haben. Erdbeben, geöffnete Gräber, der zerrissene Vorhang im Tempel: Die alte Ordnung gerät ins Wanken. Das, worauf die Menschen sich verlassen hatten, steht nicht mehr fest. Die Trennung zwischen Gott und den Menschen, der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel, trennt nicht mehr. Gott lässt sich nicht einsperren: nicht in einen Tempel, nicht in religiöse oder staatliche Gesetze, nicht einmal in die biologischen Größen von Leben und Tod. Gott ist größer und weiter als all das, Gott ist mächtiger als die Mächtigsten. Und: Gott ist bei dem, den sie verurteilt und hingerichtet hatten.

 

Und so kommt am Ende nicht die Trauer, sondern das fassungslose Staunen zum Ausdruck, wenn nämlich – genau an dieser Stelle – der Hauptmann feststellt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ (Mt. 27,54)! Und dieser Satz, dieses Glaubensbekenntnis kommt als Frage zurück an uns: Lieber Bruder, liebe Schwester, stimmst du dem Hauptmann zu? Erkennst du in dem einsamen Mann, der da so elend sterben musste, den Gottessohn? Siehst du in ihm den, der Gottes Reich unter uns anbrechen sah? Siehst du den, der voll vom Geist Gottes war und den Menschen die Liebe Gottes in Worten und Taten verkündet hat? SIEHST DU IHN?

 

(Musik)

 

Das – nicht weniger als das – ist die Frage an uns ganz persönlich am Karfreitag: Inmitten in einer Welt voller Ungerechtigkeit und Gewalt, voller Selbstsucht und Unbarmherzigkeit, in einer Welt, in der die Liebe jeden Tag aufs Neue gefoltert, geschändet und erschlagen wird, in der Kinder sterben und alte Menschen verhungern, in einer Welt in der vielleicht du selbst das Unrecht am eigenen Leib spürst: Kannst du in dieser Welt im gekreuzigten Jesus von Nazareth den Gottessohn erkennen? Matthäus sagt uns: schau genau hin – denn da ist er. Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! Und du, der das liest oder hört, du bist Teil dieser Geschichte.

 

Jesus, der Menschensohn, am Kreuz: Gott ist bei ihm, selbst im Tod. Er lässt ihn nicht im Stich. Und die Geschichte ist noch nicht an ihrem Ende.

 

Amen.



Bischof Uland Spahlinger
Odessa
E-Mail: spahlinger.uland@gmx.de

Bemerkung:
Empfehlungen für den Gottesdienst:

Schriftlesung: Da der Predigttext sehr lang ist und aus dem Evangelium genommen wurde, schlage ich als einzige weitere Schriftlesung Jesaja 53, 1-5, vor.

Als musikalische Unterbrechung der Predigt werden im Gottesdienst in Odessa am Karfreitag Abend Passionschoräle instrumental von Blockflöte und Orgel vorgetragen.



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