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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 19.08.2007

Predigt zu Lukas 7:36-50, verfasst von Frank Fuchs

Liebe Gemeinde,

einer der bewegensten Filme der letzten Zeit war „Das Leben der Anderen" des Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck. Sogar mit Oscar-Ehren wurde dieser Film gekrönt. Darin wird der Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler von seinem Vorgesetzten auf ein Künstlerpaar angesetzt. Bei diesem Paar handelt sich um einen erfolgreichen Theaterschriftsteller und seine Lebensgefährtin, eine beliebte Theaterschauspielerin.

Die Wohnung wird systematisch verwanzt und Wiesler überwacht das Paar vom Dachboden des Hauses aus. Er ist dabei, wenn das Paar über Leben, Literatur und Freiheit diskutiert oder sich nahe kommt.

In dem Film geht es um eine Verwandlung. Durch das Leben der Anderen verändert sich der Stasispitzel und wird schließlich zum Beschützer. Im heutigen Predigttext möchte Jesus Menschen verändern und konfrontiert sie mit dem Leben der Anderen.

(Verlesung des Predigttextes)
Jesu Salbung durch die Sünderin, Lukas 7,36-50

36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.
37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, daß er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl
38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salböl.
39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.
40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es!
41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig.
42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?
43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
45 Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.
46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.
47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.

49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?
50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Jesus müsste eigentlich sehen, wer die Frau ist, die ihn da anrührt. So denkt es jedenfalls der Pharisäer. Jesus braucht keine Abhörsysteme, um etwas über sie zu erfahren. Aber auch er will etwas enttarnen. Er will dem Pharisäer darauf hinweisen, dass er mit seinen Gedanken im Unrecht ist.

Genauso will der Stasi-Hauptmann zunächst zeigen, dass die Abgehörten Unrecht tun oder denken. Aber die Geschichte des Paares, in die er durch seine Abhörarbeit eintaucht, verändert ihn. Auch der Schriftsteller ist am Anfang noch völlig konform mit dem System seines Staates. Durch den Freitod eines befreundeten Schriftstellers kommt er aber ins Nachdenken. Er schreibt einen Artikel über die geheime und erschreckend hohe Selbstmordrate in der DDR. In keiner DDR-Statistik finden sich Zahlen darüber. Im Westen soll dieser Artikel erscheinen. Am eigenen Leib bekommt er zu spüren, welchem Risiko Künstler ausgesetzt sind, wenn sie einen Missstand bekannt machen möchten. Wenn sie nicht völlig mit dem SED-Staat konform gehen, erhalten sie Arbeitsverbot.

Die Begegnung mit dem Leben der Anderen kann einen Menschen verändern. Der Stasi-Hauptmann Wiesler gerät mehr und mehr in Konflikt mit seiner Linientreue und wechselt schließlich die Seite. Vor der Hausdurchsuchung durch die Stasi beseitigt er das Beweismittel aus der Wohnung. Er entfernt die Schreibmaschine, auf der der Artikel geschrieben worden war. Dafür nimmt er sogar die Degradierung von seinem Amt in Kauf. Er darf keine Ermittlungen mehr leiten, sondern muss jahrelang in einem Keller Briefe öffnen.

Die Begegnung mit anderen Menschen kann verändern. Allerdings wird der Pharisäer durch die Begegnung mit der Sünderin nicht verändert, sondern vielmehr findet er seine skeptische Haltung zu Jesus bestätigt. Deshalb erzählt Jesus dem Pharisäer die Geschichte von den beiden Schuldnern, die 50 und 500 Silbergroschen schulden und ihre Schulden erlassen bekommen. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?, fragt Jesus. Dass derjenige, der mehr erlassen bekommt, dankbarer ist, liegt nahe. Jesus erzählt also eine Geschichte, um zu einem Bewusstseinswechsel einzuladen.

Der Pharisäer Simon antwortet vorsichtig: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Auch ihm selbst wurde Schuld erlassen. Von ihm werden keine Tränen verlangt. Damit wird aber deutlich, dass er nur wenig Dank zu zeigen vermag.

Demgegenüber ist die Sünderin zu großem Dank bereit. Ihre Sünden werden ihr vergeben. Bei ihr hat sich der Bewusstseinswechsel vollzogen. Bei Simon dagegen bleibt es unsicher, ob er seine Meinung verändert. Deshalb wird ihm vorgeworfen, dass er nur in geringem Maße zur Liebe fähig sei.

Auch uns interessiert das Leben der Anderen. Im Alltag hören wir gern, wie es anderen Menschen geht, was sie gerade vorhaben oder machen. Manchmal sind es eher alltägliche Geschichten wie ein Arbeitswechsel oder ein Umzug, manchmal herausragende Ereignisse im Lebenslauf. Das kann die glückliche Geburt eines Kindes sein oder auch traurige Ereignisse wie eine Trennung oder ein plötzlicher Todesfall.

Meistens bleiben wir distanziert und ohne innere Teilnahme. Es ist eben das Leben der Anderen und nicht unser eigenes. Meistens fühlen wir uns in unserem eigenen Denken bestätigt. Wenn ein Autounfall passiert, fragt man sich, wer denn Schuld hat. In der Politik fragt man zunächst nicht, was man wirklich besser machen kann, sondern wer Schuld an der Misere hat. Die Schuld liegt selbstverständlich bei den anderen. Wenn jemand seine Arbeitsstelle verliert und entlassen wird, fragen wir uns ebenfalls, ob er selbst Schuld daran hat. „Selbst schuld, wenn man sich so verhält", denken wir. Oder: „Jeder ist eben seines eigenen Glückes Schmied."

Es kann uns aber auch eine Geschichte aus dem Leben der Anderen im Alltag begegnen, die uns selbst verändern kann. Wir sind nicht nur auf der Sonnenseite des Lebens zu Hause und können die Fehler der anderen beurteilen. Wir haben auch selbst Licht- und Schattenseiten. Vielleicht sollten wir unser Verhältnis zu Gott überprüfen. Auch wir wären dann zu Dank verpflichtet.

In dem Streitgespräch bleibt es offen, ob sich der Pharisäer verändert. Es liegt nahe, weil er auch richtig urteilt, wie Jesus sagt. Aber es liegt auch fern, weil er sich selbst über die Sünderin erhebt und ihre Sündenvergebung nur schwer akzeptieren kann.

Wir selbst werden dazu eingeladen, unsere Sichtweise zu anderen Menschen zu ändern und nicht vorschnell zu urteilen. Die Begegnung mit dem Leben der Anderen kann uns verändern.

Manchmal wird mir eine Geschichte aus dem Leben der Anderen erzählt und es berührt mich doch. Ich spüre, dass es mich betroffen macht. Dann merke ich, dass es auch mit mir und meinem Leben zu tun hat. Es ist nicht nur das Leben der Anderen, sondern auch mein Leben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Pfarrer Dr. Frank Fuchs
Babenhausen
E-Mail: dr.frank.fuchs@t-online.de

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