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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 18.02.2007

Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Erika Reischle-Schedler

Liebe Gemeinde,

"Am Grunde der Moldau wandern die Steine, es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag". (www.arbeiterlieder.de/moldau.htm) Unter das Motto dieser von Bert Brecht gedichteten Zeilen möchte ich meine Predigt stellen. "Die Nacht hat zwölf Stunden - dann kommt schon der Tag". Darum geht es in unserer Geschichte, die wir von verschiedenen Seiten her anschauen können: Von der Seite des blinden Menschen und von der Seite Jesu. Und immer werden wir dabei uns selbst begegnen - und hoffentlich der Güte Gottes, die an uns wirken möchte durch diese Geschichte hindurch.

Blind geboren zu sein zur Zeit Jesu bedeutete, den Lebensunterhalt der Familie, die einen aus Barmherzigkeit am Tisch mitessen ließ, durch Betteln mitzuverdienen. Es hieß, Keinen Eigenwert zu haben. "Ich bin nichts wert", heißt die Bitte jeden Bettlers, "ich bin nichts wert, nur Eure Mildtätigkeit kann mir helfen. Ich führe kein eigenes Leben, sondern ein Leben von Euern Gnaden. Und ich habe Angst, Angst davor, heimkommen zu müssen ohne einen Cent im Hut, ausgeliefert dem Geschimpfe und Gespött der nächsten Angehörigen: Nur eine Last hat man mit Dir, noch nicht einmal zum Betteln taugst Du. Noch nicht einmal dazu taugst Du, daß wir wenigstens ein Stück weit auf Deine Kosten leben könnten." Liebe Gemeinde, wenn wir uns das klarmachen, dann nicht aus purem historischem Interesse - was nützte uns das in einem Gottesdienst! - sondern, weil das bis heute das Schicksal tausender von behinderten und kranken Menschen ist. Mit der Muttermilch einzusaugen: Du bist nichts wert, als behinderter Mensch der Du bist, nichts, und wenn Du einen Lebenswert hast, dann den, daß wir ein Stück weit auf Deine Kosten leben: Das Märtyrerkrönchen ist dem, der sich aufopferungsvoll um einen behinderten oder kranken Menschen bemüht, gewiß. Wenigstens die Genugtuung soll den Angehörigen zuteil werden, Behinderten das immer einmal wieder sagen zu dürfen: "Was wir doch für bewundernswerte Leute sind, daß wir uns mit Euch abgeben". Und die Anerkennung von außen, die wenigstens ist gewiß! Wundert es da, dass der Bettler nur noch schreit, schreit aus tiefster Kehle, aus seinem ganzen Sein heraus: "Hab Erbarmen mit mir! Wenn einer mir helfen kann, dann bist es Du! Es ist genug Elend, genug Demütigung, genug unsägliche Traurigkeit, die ich zu tragen hatte. Jetzt ist es genug. Ich habe die Nacht gekostet in ihrer ganzen Schwärze und Tiefe: Jetzt ist es genug! Mich dürstet nach dem Tag!"

Jesus schüttet nicht einfach einen Schwall mildtätigen Erbarmens über den aus, der da schreit. Sondern er redet ihn als Mensch an: "Was möchtest Du?" In Jesu Augen ist er nicht das lästige Anhängsel seiner Angehörigen, nicht der müßige Bettler, nicht das nutzlose Glied einer Gesellschaft, die ihn an den Rand gedrängt hat. In Jesu Augen ist Bartimäus ein Mensch, dem zu Allererst seine Würde zurückgegeben werden muß. Er muß seine eigene Sprache finden für das, was er braucht, hinausfinden aus der Bevormundung, unter der er gelebt hat Tag für Tag. Alles Ungesagte, alle unter Menschen Platz greifende Sprachlosigkeit, ist des Todes. Das Leben beginnt da, wo der Sprachlose Sprache findet, wo er sagen darf, was ihn quält. Und da allerdings ist Luthers uns gut vertraute Übersetzung in der Antwort des Bartimäus nur eine Seite dessen, was in dieser Antwort steckt: "Es ist doch klar", heißt die Antwort, mit Luthers Übersetzung gelesen, beinahe: "Wie kannst Du überhaupt so fragen. Du siehst doch, daß ich blind bin und bettle. Sehen können will ich wieder!" Aber das griechische Wort "anablepo" heißt nicht nur: Wieder sehen können, sondern: Aufblicken. "Daß ich aufschauen kann aus der dunklen Trübnis dieses schwer auf mir lastenden Lebens. Daß ich die Sonne wieder schaue, daß ich Gott erkenne in dem, was mit mir und um mich geschieht. Das will ich, daß Du für mich tust!" Im 42. Kapitel des Jesajabuches redet Gott die Menschen durch den Propheten an: "Schaut her zu mir, schaut auf zu mir, damit Ihr sehen könnt". Es ist dasselbe Wort "anablepo", was die griechische Übersetzung des Alten Testamentes, die Septuaginta, an dieser Stelle stehen hat. Und das Neue Testament knüpft an vielen Stellen an Formulierungen der Septuaginta an, so auch hier. Wenn wir Gott erkennen, das Licht seiner Liebe zu schauen vermögen mit unseren geistigen Augen, wenn wir Anteil gewinnen am Fluß des Lebens, an der Fülle, die der Schöpfer für einen jeden Menschen bereitlegt, wenn unsere Augen sich weiten für Not und Bedürfnis des anderen und wir Kraft genug gewinnen, bei allem notwendigen Blick für andere doch ganz bei uns selber zu bleiben - dann sind wir heil. Dann hat Gott Raum in uns gewonnen. In diesem Sinn ist die Heilung bei Bartimäus geschehen, und in diesem Sinn soll und darf sie für uns geschehen. Wir sollen leben, sagt uns das Neue Testament, darin ist alles gesagt.

Im Zusammenhang des Lukasevangeliums ist diese Heilungsgeschichte erzählt unmittelbar, nachdem Jesus zu seinen Jüngern über sein bevorstehendes Leiden gesprochen hatte. Und so gelesen, ergibt sich nochmals ein neuer Sinn: Er, Jesus, wird leiden und sterben, der blind Geborene wird Gott preisen und gesund sein. Jesus könnte ja befangen sein in seinem eigenen schweren Weg, der vor ihm liegt. Absorbiert von seinem eigenen Schicksal. Aber genau so ist es nicht. Er geht seinen Weg und weiß, dass es ein Todesweg sein wird. Und dennoch bleibt er in seiner ganzen Person, in seiner ganzen Menschlichkeit offen für das Leid, das ihm auf seinem Weg begegnet. Eigenes Leiden macht ihn nicht stumpf, sonndern feinspürig. Und gerade darin tritt Gott durch ihn unter die Menschen und kommt uns nahe.

Wir suchen nach dem Blinden in uns, nach dem, was unser Leben
blind macht, und wo wir das Erbarmen Jesu nötig haben. Wir sagen
umgangssprachlich: "Der lebt mit einem Brett vor dem Kopf" - was
sieht einer mit einem solchen Brett? Er sieht das Brett, aber
nicht viel sonst. Er ist blind für die
Wirklichkeit des Lebens! Oder da lebt eine andere, die sieht sich
eingemauert in dunkle Wände, eingekerkert im Gefängnis einer
ausweglos erscheinenden Situation - und in Wahrheit scheint um
sie her die Sonne, das Leben böte tausend Möglichkeiten, aber die
sieht sie nicht, kann sie nicht wahrnehmen in ihrer Trauer,
ihrer Schwermut, ihrem Gefühl von Ohnmacht. Sie ist blind
in ihrer Wahrnehmung und bleibt der eigentlichen Wahrheit ihres Lebens verschlossen! Einer der bekanntesten Sätze aus dem 36. Psalm weiß um
die tiefe Verwandtschaft zwischen Licht und Leben: "Bei Dir,
Gott, ist die Quelle des Lebens, und in Deinem Licht sehen wir
das Licht". Selbstheilung kann nicht gelingen. Und oft genug
bleibt nur der Schrei um ein Erbarmen, das aus Tiefen jenseits menschlicher Ahnungen kommt: "Jesu, Du sohn Davids, Du,
der Du über die Kräfte Gottes verfügst, schau mich doch an! Laß mich nicht fallen, wende Dich mir zu, weil ich sonst verloren bin in meiner dunklen Befangenheit, in meinem zur Wüste gewordenen Leben!"

"Am Grunde der Moldau wandern die Steine, es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag". Wir als Christen leben immer dem Tag entgegen, wie Christus auf seinem Leidensweg dem Ostermorgen entgegengelebt hat. Möge uns die Betrachtung der Bartimäus-Geschichte auf diesem Weg in der Gemeinschaft Jesu Christi immer wieder neu Hilfe und Ermutigung sein! Amen.

Erika Reischle-Schedler
Göttingen
E-Mail: e.reischle-schedler@ngi.de

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