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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 19.08.2007

Predigt zu Lukas 18:9-14, verfasst von Marianne Christiansen

"Ich bin nicht wie die andern, / ich bin etwas Besonderes" - so beginnt ein bekanntes dänisches Lied. Es könnte vielleicht das Lied der Pharisäer sein, das zufrieden feststellt: "ich danke dir, Gott, weil ich nicht wie die andern bin," - aber in dem Lied heißt es weiter: "Auf den Landstraßen will ich wandern / bis an den Tag, an dem ich Lebwohl sagen muss." Ein traurig-heiteres Lied von dem Leben, das mindestens ebenso viel Kummer wie Munterkeit mit sich bringt - vom Leben auf der Landstraße, auf der Flucht vor einem Leben, das unmöglich geworden war, vor einem Leben, das aus irgendeinem Grunde zerbrach und eben nicht wie alle andern zu leben war. "Ich bin nicht wie die andern, / ich bin etwas Besonderes" - das könnte der Anfang einer selbstzufriedenen Erzählung von der eigenen Vortrefflichkeit sein, aber wenn man ernsthaft fragt: Wer bin ich eigentlich? Bin ich überhaupt jemand? - dann ist es nie so weit bis zur Landstraße, bis zur Verzweiflung an sich selbst.

             Wer bin ich? In den meisten Lebensabschnitten bekommt man glücklicherweise die Antwort von andern, und wenn es eine gute Antwort ist, dann ist man ein froher Mensch, dann geht es einem gut. Von den ersten Erwachsenen, die einen auf ihren Arm nehmen und sagen: "Du bist unser liebes Kind" bis zu andern Stimmen des Lebens: Du bist Schwester oder Bruder - du bist ein Kind unter andern Kindern, - einer, der zur Schar dazugehört, ein Freund, ein Kamerad.

             Dann kommen nach und nach mehrere Antworten: Du bist lieb, du bist dumm; du bist ein guter oder ein schlechter Kamerad; du bist tüchtig oder du taugst nicht; es gibt Dinge, die du kannst, und Dinge, die du nicht kannst; du bist schön, du bist hässlich, du bist schick oder unmodern, du gehörst dazu oder du stehst im Abseits - es gibt, während man heranwächst, so viele Antworten auf die Frage, wer ich bin. Wenn man niemanden hat, der einem jederzeit sagen will: "Gleichgültig, was die andern sagen, ich finde, du bist einfach herrlich", dann kann man leicht unsicher werden und an sich zweifeln. Wenn einem die ganze Welt - und sie braucht gar nicht besonders groß zu sein, es kann eine Schulklasse sein, ein Arbeitsplatz, oder es können die engsten Angehörigen sein - wenn einem also die ganze Welt plötzlich eine Geschichte über einen selbst erzählt, die man nicht ertragen kann - dann zerbricht man.

             Denn wer bin ich? Bin ich überhaupt jemand, außer dem, was die andern über mich sagen?

             Da geht es dann um den Spiegel: "Spieglein, Spieglein an der Wand...", sage mir, wer ich bin.

             Und der Spiegel ist genauso unbarmherzig, wie er es im Märchen von der bösen Königin ist, die jeden Tag in den Spiegel sah, um zu erfahren, dass sie die schönste im ganzen Land war. Eines Tages sagt der Spiegel plötzlich: "Nein, du bis nicht die schönste. Du bist nicht mehr die schönste, die du bisher gewesen bist. Du bist nicht du selbst, wenn du nicht die schönste bist." Man braucht sich nicht zu wundern, dass sie Schneewittchen töten will. Sie kann es nicht ertragen, den Spiegel eine andere Geschichte über sich erzählen zu hören, und die Geschichte des Spiegels ist die einzige Geschichte, die sie hören will.

 

Der Spiegel. Wir alle wissen, welch große Rolle er im Leben spielt. In glücklichen Zeiten, in denen wir keine Zweifel haben, wer wir sind, bedeutet der Spiegel nicht sehr viel. Aber zu anderen Zeiten mit Zweifel und Unsicherheit, da suchen wir den Spiegel auf und starren missvergnügt auf ihn. Heutzutage kann man sich dem fast nicht entziehen. Früher gab es wohl kaum so viele und so große Spiegel. Da mochte ein kleiner Rasierspiegel genügen. Heute kann man kaum vermeiden, sich selbst in voller Größe in den Spiegeln von Fassaden, in Cafés und in modernen Wohnungseinrichtungsgeschäften vom Fußboden bis an die Decke zu sehen: sieh, wie die andern dich sehen - sieh, wie du im Vergleich zu ihnen aussiehst! Willst du es wirklich wagen, dich öffentlich zu zeigen, so wie du aussiehst?

             Gegenüber dem Spiegel, gegenüber der stummen und unbarmherzigen Enthüllung, wie ich mich in den Augen anderer ausnehme, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder kann man versuchen, sein Spiegelbild zurechtzurücken - ein wenig das zu berichtigen, was sich nun berichtigen lässt, und sich im übrigen damit abzufinden. "Gewiss, die Nase ist etwas zu groß und hässlich, aber der Mund ist nicht völlig daneben, vielleicht etwas du dick, aber es gibt Menschen, deren Mund noch dicker ist, meine Kleidung ist nicht allzu schick, aber sie könnte schlimmer sein." Man kann sich insgesamt mit seinem Spiegelbild abfinden und in die Welt hinausgehen mit dem Bewusstsein, dass es gut genug ist - dass es den Vergleich mit andern aushalten kann.

             Oder es gibt die Möglichkeit, das Spiegelbild zu betrachten und zu hassen, was man sieht. "Das da, das bin nicht ich - das bin ich nicht so, wie ich gern sein möchte, wie ich von innen her meiner Meinung nach auszusehen habe. Mein Bild ist hässlich und dumm, und das Schlimmste ist - es ist korrekt."

             Das Spiegelbild lügt nicht - es zeigt mir, was ich ihm zeige. Wenn ich also mein Spiegelbild frage, wer ich bin, dann erhalte ich die Antwort: "Ja, was glaubst du selbst?" - und das ist vielleicht die schlimmste Antwort, die man bekommen kann.

             Nun können wohl nur die wenigsten Erwachsenen völlig außer sich geraten, wenn sie in einer Garderobe sich selbst im Spiegel sehen, denn wir haben so viele andere Geschichten über uns selbst als unser Aussehen. Als junger Mensch kann man untröstlich sein, wenn man sein eigenes halberwachsenes Spiegelbild sieht, weil es zu vergleichen ist mit den Bildern in Illustrierten und Filmen und wo sonst diese Geschichten erzählt werden, von denen man glaubt oder sich wünscht, dass sie über einen selbst erzählt würden.

             Aber es gibt andere Spiegel als die in Garderoben, und die sind viel schlimmer. Oft geschieht es vor einem Spiegel, dass man beginnt, sein eigenes Leben zu spiegeln: "Wer bin ich, wie habe ich mein Leben verwaltet, was ist dabei herausgekommen, was habe ich eigentlich für die Menschen um mich herum bedeutet?"

             Nicht nur im Film kann man erleben, dass ein Mensch den Spiegel aus Verzweiflung über das, was er zeigt, zerdeppert. Der Spiegel der Erinnerung und der Selbsterkenntnis lässt sich nicht zerschlagen, aber er kann einen niederschlagen.

             Jesu Gleichnis - schon das Wort Gleichnis erinnert ja an die (ver)gleichende Darstellung, das Gleichnis ist wie eine Spiegelerzählung - Jesu Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel ist die Geschichte von zwei Menschen oder von zwei Arten, sich zu spiegeln. Der Pharisäer war ein Mensch, der alles tat, um ein ordentliches Leben zu führen, ein gerechtes Leben, das er vor Gott und andern Menschen verantworten konnte. Der Zöllner galt zur Zeit Jesu als ein Landesverräter, als einer, der Steuern für die Besatzungsmacht eintrieb, ein Mensch mit schmutzigen Händen, der für Geld alles tat.

             In der Geschichte sind sie Figuren für zwei verschiedene Weisen, sich zu Gott zu verhalten. Denn der Pharisäer, dieser anständige Mensch, spiegelt sich in Gott. Er weiß selbstverständlich wie alle. dass er nicht vollkommen ist, aber andererseits ist er auch nicht der Schlimmste. Er könnte viel schlimmer sein, und er dankt Gott dafür, dass er es nicht ist. Er dankt für das gute Leben, das er hat.

             Sollte das etwa verkehrt sein?

             Damals, als Jesus diese Geschichte erzählte, da erzählte er sie in einer Gesellschaft, die sich in höchstem Maße für Gerechtigkeit und dafür interessierte, wie man gerecht lebte, in der Überzeugung, dass Gott von Menschen Gerechtigkeit erwartete. Und anstatt sich allzu sehr darüber lustig zu machen, könnte man sich die Frage vorlegen, ob es nicht ein wenig traurig ist, dass wir Gerechtigkeit als Maßstab für ein gutes Leben aufgegeben haben. Wenn wir heutzutage Lebensqualität messen, dann stellt man nur selten die Frage: "Meinst du, dass du anderen Menschen gegenüber gerecht bist? - Meinst du, dass du andern genug gibst? - Meinst du, dass die Schwächsten der Gesellschaft gut genug behandelt werden?" Es ist nicht gerade hier, wo unser Hauptinteresse liegt. Es geht vielmehr darum: "Bist du zufrieden mit deinen eigenen Lebensumständen? - Kannst du dich selbst leiden? - Meinst du, dass du genug vom Leben bekommst?"

             Der Pharisäer legte Wert auf Gerechtigkeit und Güte, als er sich selbst im Tempel spiegelte und meinte, es sähe nicht ganz so schlimm aus - "ich bin angemessen".

             Unsere Erwartungen sind anderer Art, aber nicht notwendig für uns leichter zu erfüllen. Unser pharisäisches Gebet lautet eher: "Ich danke dir, Gott, dass ich nicht wie die andern bin - die Verlierer, die Unnormalen. Ich bin einigermaßen ordentlich, normal, habe einen angemessenen Lebensstandard, ein ordentliches Familienleben und angemessene Ersparnisse fürs Alter. Ich habe einen angemessenen Selbstrespekt, liebe und akzeptiere mich selbst, wie man es in dieser Welt muss, und bin hinreichend tolerant gegen andre."

             Unser Begriff von Gerechigkeit ist vielleicht eher zu Zufriedenheit mit dem Leben geworden, zu Selbstrespekt, Lebenstauglichkeit. Wir empfehlen nachdrücklich, dass du dein eigenes Spiegelbild zu lieben lernst, mit dir selbst zufrieden bist. Nimm dich ein wenig zusammen, und betrachte deine guten Seiten.

             Deshalb gibt es keinen Grund, den selbstzufriedenen Pharisäer zu verhöhnen. Er ist in vielerlei Hinsicht unser Ideal. Ein Mensch, der mit sich selbst zufrieden sein kann, sein Dasein zu meistern imstande ist, sein eigenes Leben regieren und sich vor andern sehen lassen kann. "Ich bin gut genug - weil..."

             Aber was der Zöllner im Spiegel sieht, ist nicht gut genug. Und er weiß das. Er sieht, was er dem Spiegel zeigt - sich selbst - und da gibt es keine vermildernden Umstände. Dumm und hässlich und böse.

             Deshalb sieht er gar nicht in den Spiegel. Er ruft in seiner Verzweiflung nach etwas oder jemandem hinter dem Spiegel. Er ruft nach jemandem, er ihm eine andere Geschichte über ihn erzählen will als die, die er kennt. "Gott, sei mir Sünder gnädig!"

             Dieser Ruf ist der Ruf des Glaubens. Darin liegt das Vertrauen oder vielleicht eher die desperate Hoffnung, dass über mich mehr zu sagen ist als das, was der Spiegel sagt. Und es ist Gott, der es erzählen kann und wird. Gott ist kein Spiegel. Gott ist der, der mich aus meinem berechtigten Selbsthass befreien kann und wird.

             In gewissem Sinne ist der Erzähler Jesus derjenige, der den Spiegel zerstört, den Spiegel der Selbstzufriedenheit und des Selbsthasses. Sein Tod zerstört den Spiegel. Jesus, der gute Mensch, der Gerechte, der Gott liebte und an ihn glaubte und auf ihn hoffte, wird wie ein Verbrecher an einem Kreuz in all der Demütigung, der ein Mensch ausgesetzt sein kann, vernichtet. Damit wird ein für allemal der Spiegel als diejenige Instanz vernichtet, nach der wir uns richten sollen, worin wir anerkannt werden und uns messen sollen. Jetzt stehen wir vor dem Spiegel, der durch den Tod Jesu zerstört, pulverisiert wird, und dahinter wird ein Fenster enthüllt, durch das Auferstehungslicht, Sonnenaufgang über uns hereinbricht und uns eine völlig andere und neue Geschichte darüber erzählt, wer Gott ist und wer wir in diesem Lichte sind.

             Die Gnade - das ist das Licht, das von einem Gott ausströmt, der nicht an Spiegelbildern, sondern daran interessiert ist, jeden einzelnen Menschen mit Licht zu überstrahlen, so dass er davon Widerschein gibt.

             Die Gnade ist eine große Liebeserklärung - die größte von allen.

             Denn die Liebe Gottes sagt nicht: "Ich liebe dich, weil du gut genug bist, weil du es angemessen gut machst und ein ordentlicher Mensch bist."

             Sie sagt: "Ich liebe dich, weil ich bin. Was du bist, das sind so viele Dinge - aber in allem bist du der Geliebte Gottes."

             Das ist die größte Geschichte, die von einem Menschen erzählt werden kann. Sie befreit von dem Spiegel. Die Geschichte des Spiegels wird relativ. Sie wird zu einer oder vielen Geschichten, und sie enthalten sicher Selbsthass und Selbstzufriedenheit. Aber die Antwort auf die Frage: "Wer bin ich?" ist gegeben in der Antwort der Gnade aus der Quelle des Lichts.

             Um mit dem Pharisäer zu schließen - denn wir kennen ja einen Pharisäer, der Briefe schreibt, nämlich Paulus, der anfangs ein Spiegelbild der rechten Lehre verfolgte und diejenigen, die das Bild störten, auszurotten suchte - aber auch für ihn wurde der Spiegel zerstört, so dass das Licht hindurchbrach, ihn auf die Erde warf und ihn bländete, ihm Genugtung und neue Sehkraft gab - so dass er eines Tages sagen konnte: "Von der Gnade Gottes bin ich, was ich bin" - und mit einem gewissen selbstgefälligen Vergnügen hinzufügen konnte: "- und seine Gnade ist nicht umsonst gewesen!"

             So müssen auch wir sagen - gegenüber allen Spiegelbildern: Von Gottes Gnade sind wir, was wir sind - und seine Gnade ist nie vergebens.

Amen



Pastorin Marianne Christiansen
Thisted, Dänemark
E-Mail: mch@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier




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