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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Rogate, 05.05.2013

Predigt zu Matthäus 6:5–15, verfasst von Reiner Kalmbach


 

über das Vater Unser zur christlichen Freiheit


Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.


Manchmal denke ich, es wäre gut ein Buch zu schreiben, um all die vielen Erlebnisse, Begegnungen und Erfahrungen nicht zu verlieren, die sich in einem langen Pfarrersleben ansammeln. Wie jener Mann der mich neulich anrief. Seine Stimme klang sehr nervös: „...spreche ich mit der evang. Kirche...?", „Ja, so ist es, wie kann ich ihnen helfen?", antwortete ich ihm. „Ich möchte, dass sie für mich beten..., meine Ehe ist gescheitert und ich weiss nicht, was ich jetzt machen soll...", „...möchten sie nicht zu mir ins Büro kommen, oder ich kann sie auch besuchen.. ", „nein, nein!, ich will, dass meine Frau zurückkommt, sofort...!". Ich liess nicht locker und erklärte ihm, dass es sicherlich besser wäre, wir hätten ein persönliches Gespräch, um vielleicht auch die Ursachen des Problems zu finden. „Nein!, ich möchte nur, dass sie für mich beten, mein Name ist Carlos...", dann legte er auf.

Welches Gottesbild hat dieser Mann?, was bedeutet für ihn das Gebet? Ich denke, es ist für viele Menschen eine Art magische Formel. Gott, der grosse Magier, der auf „wunderbare" Weise in mein Leben eingreift und es vor den Konsequenzen meiner eigenen Fehler rettet. Das Gebet als Werkzeug, für den persönlichen Gebrauch, und wenn wir noch schärfer sein wollen, für den egoistischen Gebrauch. So funktioniert, leider, die religiöse Welt, besonders in einer Zeit in der das „ego" immer mehr im Zentrum steht, es ist das, was uns religiöse Bewegungen und Sekten predigen und vorleben.

Dieses Verhalten ist einfach nur menschlich und deshalb ziemlich verbreitet, nichts Neues. Jesús selbst hat darüber immer wieder geklagt. Vielleicht hat er sich gerade deshalb eines Tages die Zeit genommen, um mit seinen Jüngern über das Thema Gebet zu sprechen. Wie sollen wir beten...?, war wohl die Frage im Hintergrund.

Wenn ich nun in meinem Leben zurückblicke, an meine Kindheit denke, dann sind es gerade die kleinen Dinge, unbedeutende Erlebnisse, die sich in meiner Erinnerung festgesetzt haben. Jenes einfache Gebet: „ich bin klein, mein Herz ist rein, darf niemand drin wohnen, als Jesus allein...". Meine Mutter betete es jeden Abend mit mir an meinem Bett. Es half mir den unsagbaren Schmerz über den Tod meines Vaters zu ertragen. Für mich, einen fünfjährigen Jungen, war dieser Tod ein brutaler Verlust... Ich bin meiner Mutter ewig dankbar, denn sie hat mich beten gelehrt. Wie sonst hätte ich diesen unbeschreiblichen Schmerz überwinden können, wenn nicht durch das Gebet...?, das Gebet half mir die Wirklichkeit anzunehmen, welche Wirklichkeit? Dass mein Vater nicht mehr da war und auch nie mehr zurückkommen wird..., dass er aber in guten Händen ist.

Die neue (und grausame) Wirklichkeit annehmen, das ist die Antwort auf das Vertrauen in Gott. Mehr noch: im Gebet spürte ich die Liebe Gottes. Deshalb war ich, trotz des Schmerzes, nie wütend auf ihn, tief traurig, das ja, aber nie wäre mir in den Sinn gekommen zu sagen „Gott hat mir meinen Vater genommen...", das Gegenteil: ich wusste, dass er sterben musste, weil er sehr schwer krank war und viel gelitten hat..., jetzt ist er bei Gott, „er ist in seiner Heimat", wie mir mein Grossvater erklärte.

Ja, im Gebet spüren wir Gottes tiefe Liebe zu uns. Deshalb, so denke ich, sammelt Jesus seine Jünger um sich, um mit ihnen über das Gebet zu sprechen.

Und er tut es so:

Textlesung: Matthäus 6, 5 - 15

Der Evangelist Matthäus stellt das Thema Gebet und das Vater Unser ins Zentrum seiner „Bergpredigt", die eine Art politisches Programm ist, und die Essenz seiner Mission in der Welt. Und wenn das Gebet im Zentrum seiner Botschaft steht, dann deshalb, weil es für Jesus so entscheidend wichtig ist. In anderen Worten: das Vater Unser ist zugleich Mitte und Ausgangspunkt.

In unserer Tradition hat das Vater Unser seinen Platz in jedem Gottesdienst, manchmal bete ich es zusammen mit einem Kranken, aber nur sehr wenige Menschen dürften es zu Hause „im stillen Kämmerlein", oder im Familienkreise beten. D.h. im Grunde ist das Vater Unser für uns ein liturgisches Element. Es begleitet uns, wenn wir uns zum Gottesdienst versammeln. Verliert es dadurch aber nicht auch seine persönliche Dimension..?, so dass wir es nur an der „Oberfläche" beten...?, sagt es mir etwas in und für mein persönliches Leben?

Auf der anderen Seite ist auch das Liturgische wichtig. Formen und Routine sind für den Glauben wichtig. Das Gebet meiner Mutter, einfach und kurz, lehrte ich auch meinen eigenen Kindern und sie werden es an meine Enkel weitergeben, die selben Worte..., auswendig gelernt, zeitlos.

Es ist also gut, dass das Vater Unser seinen Platz im Gottesdienst hat. Aber das Gebet, auch wenn es in der Gruppe gesprochen wird, ist immer persönlich! Ich bete und nur so ist es mir möglich die Situation, das Leben des Nächsten im Auge zu behalten. Das Vater Unser hat gerade dies im Blick, deshalb lehrt es Jesus seinen Jüngern. Er sagt ihnen nicht: „...betet dieses oder jenes...", sondern: „so sollt ihr beten...".

Wenn wir lernen das Vater Unser zu verstehen, so wie Jesus es uns lehrt, dann werden wir die Absicht entdecken, die hinter seinen Worten steht. Es geht um das Leben in evangelischer Freiheit, die christliche Freiheit, in einer Welt die uns in ihre Systeme zwingt und versklavt.

Wenden wir uns nun den verschiedenen Bitten zu:

Vater „unser": ich bete nicht „mein Vater", d.h. schon der Anfang verbindet mich mit anderen Menschen, stellt mich mitten in eine Gemeinschaft. Deshalb ist es im Grunde ein zutiefst ökumenisches Gebet: „oikumene", d.h. die ganze Welt. Wir alle kennen das Symbol der Weltökumene, ein Schiff, wir sitzen alle im selben Boot. Ich bin also nicht allein in diesem Gebet, ich bin vereint mit Schwestern und Brüdern, in vielen Fällen kenne ich sie nicht einmal, aber ich weiss, dass ER sie/uns alle kennt.

„Dein Wille geschehe..", das ist viel mehr als zu sagen: „möge Gott tun was er wolle...". Ich selbst bin hier gefragt: „Dein Wille geschehe" und ich spüre, wie sich in mir Widerstand regt, denn, wenn ich wirklich will, dass Sein Wille geschehe (und nicht der meine!), dann muss ich „gehorchen". Da ist also mein Wille, mein Ego (wie jener Mann am Telefon), und gleichzeitig der geforderte Gehorsam: Seinem Willen gehorchen, mich diesem Willen unterordnen, mich als sein Werkzeug zu verstehen. Deshalb ist es gut, dass das Vater Unser ein Gemeinschaftsgebet ist: gemeinsam gehorchen ist leichter, als es alleine tun zu müssen, schliesslich steht das Reich Gottes auf dem Spiel.

„unser tägliches Brot gib uns heute...". Sich nicht um das Brot sorgen zu müssen (das tägliche, für heute!), weil Gott es mir gibt, jeden Tag, das macht mich frei es mit dem Nächsten zu teilen, ich bin frei solidarisch zu sein! Wir wissen alle, dass der Hunger in unserem Land (Argentinien) und in vielen Teilen der Welt nichts mit Lebensmittelknappheit zu tun hat, das Gegenteil ist der Fall!, allein in Argentinien wird vier Mal mehr produziert, als die Bevölkerung konsumieren kann. Es gibt Brot für alle und für alle im Überfluss!

Wechseln wir zum Thema Vergebung, nicht einfach! Aber auch hier haben wir die zwei Dimensionen: Gott und der Mensch und gleichzeitig auch die menschliche Beziehung: ich und der Nächste. Ich kann meine Gottesbeziehung nicht auf meine persönliche Situation beschränken (Gott und ich), sondern: Gott - ich - der Nächste!

Ist das nicht grossartig?! Ein „Routinegebet", ein liturgisches Element, das mich in Pflicht nimmt, mit meinem ganzen Leben.

In Gott finden wir Halt und Trost. Gott gibt uns Kraft und gleichzeitig stellt er uns mit beiden Beinen auf die Erde: das alles in einem Gebet das er selbst uns lehrt. Es ist das Gebet das uns befreit, Gottes Willen in dieser Welt zu tun.

Fassen wir seine Botschaft und Lehre in drei Aspekten zusammen

  1. Das Vater Unser befreit mich von mir selbst

Es hat nichts von einem persönlichen Imperativ, ich muss nichts erfüllen, sondern ich bin in Seinen Willen mit hineingenommen. Es ist nicht „mein" Name, sondern Sein Name, nicht „mein" Wille, sondern Sein Wille, nicht „mein" Reich", sondern Sein Reich. Ich denke, das ist ungeheuer wichtig für unseren Glauben. Wenn wir jetzt das Vater Unser beten und all seine Dimension vor Augen haben, dann lernen wir all unser Vertrauen auf Gott zu setzen, unser Leben (und was immer auch in ihm geschehen mag) anzunehmen, und vor allen Dingen: dann bekommen wir eine Ahnung von dem was das Wort „Gnade" bedeutet.

  1. Das Vater Unser befreit mich von den Mächten der Welt

Mein Grossvater sagte immer, das Vater Unser sei voll von einem „geheimen Widerstand" und wenn wir ihn entdecken und entblössen, hilft uns dieses Gebet gegen den Strom zu schwimmen.

Das Vater Unser „schwimmt" gegen die Verherrlichung des Menschen an, und gegen den Absolutismus menschlicher Systeme, gegen jene die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, gegen die Dogmatiker jeglicher Ideologien, gegen die vermeintliche Überlegenheit menschlicher Intelligenz und des menschlichen Willens.

Lernen auf Gott zu vertrauen, das verwandelt sich in Aktion, die sich in der christlichen Freiheit offenbart. D.h. ich kann meine Verantwortung in der Welt in Freiheit annehmen.

Gleichzeitig taucht eine Frage auf, die sich an mich persönlich richtet: wenn ich das Vater Unser bete, was tue ich für mich persönlich?, was tue ich für andere, ich für die Gemeinschaft?, was tue ich für die Welt, ich für den Frieden in der Welt...?

  1. Das Vater Unser befreit mich zur Gemeinschaft mit anderen

Das ist, ohne Zweifel, die schönste und wichtigste Erfahrung. Im Vater Unser sind immer alle mit dabei, die Gemeinschaft, die ganze Welt. Dabei ist es nicht wichtig, ob ich es zu Hause in meinem Bett bete, am Familientisch, oder im Gottesdienst, oder gar, wie auf dem Kirchentag, zusammen mit tausenden von Personen.

Wir sind eine kleine Gemeinde im Süden Argentiniens, in Patagonien. Dazu gehört ein Altenheim, das, Dank der ständigen Hilfe aus Übersee, vielen alten Menschen einen Platz bieten kann. Hier können sie in Würde und umgeben von Liebe und Zuneigung ihren Lebensabend verbringen. Jedes Jahr kommen junge Voluntäre aus Deutschland zu uns. Nach ihrem Dienst kehren sie in ihre Heimat zurück, in ihre Familien, ihre Gemeinden. Sie nehmen unsere Gesichter mit, die Landschaft, unsere Probleme und Freuden. Und wir, wenn wir am Sonntag Gottesdienst feiern und uns beim Vater Unser die Hände reichen, dann sind ihre Gesichter bei uns. Wir wissen, sie sprechen das selbe Gebet, weit weg von uns, in einer anderen Sprache, aber es ist das selbe Gebet, ein Gebet das wie ein grosses Netz die Welt umspannt und uns alle miteinander verbindet.

Aber auch das: ich bin nicht allein, ich bin Teil dieser weltweiten Gemeinschaft, ich stehe in der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. Und die „anderen", was tun sie? Sie beten zu Gott, wie ich, mit leeren Händen, wie ich; sie bekennen ihre Schuld, wie ich und vertrauen auf die Vergebung, genau wie ich, und wie ich, bitten sie um das tägliche Brot und wollen befreit sein vom Bösen, wie ich auch...

Gemeinsam beten wir das Vater Unser, gemeinsam übernehmen wir Verantwortung für uns selbst und für andere. Wir sind in der Lage dies zu tun, weil es unser Vertrauen in Gott ist, das uns befreit seinen Willen zu tun, in Christus Jesus.

Amen.

 

 



Pfarrer Reiner Kalmbach
8328 Allen (Río Negro) Patagonien–Argentinien–
E-Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

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