Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 02.06.2013

Predigt zu Matthäus 9:35-38; 10,1 (2-4) 5-7, verfasst von Gert-Axel Reuß

 

 

Mit den Augen der Liebe

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch. Amen.

Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?" fragte einer der Schüler. „Nein," sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?" fragte ein anderer. „Nein," sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?" fragten die Schüler. Der Rabbi antwortete: „Es ist dann, wenn du in das Gesicht eines Menschen schaust und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst."

Liebe Gemeinde,

ich stehe in einem vollbesetzten Waggon einer Hamburger U-Bahn, in beiden Händen ein schön verpacktes Paket, das ich nicht auf den Fußboden stellen mag. Beim Anfahren der Bahn fällt es mir schwer, das Gleichgewicht zu halten. Ein freundlicher Mensch berührt mich am Arm und bietet mir an, mich zu stützten.

An der Kasse im Supermarkt ist eine lange Schlange, vor mir eine Frau mit einem vollgepackten Einkaufswagen. Ich habe nur ein Stück Butter und einen Karton Milch. Die Frau sieht mich an, lächelt und lässt mir den Vortritt.

Am Bahnhof einer Kleinstadt in der Nähe von Hamburg steht ein Verkäufer und bietet stumm seine Zeitung an. Hinz und Kunzt ist ein Straßenmagazin mit Sozialreportagen, das von (ehemals) Obdachlosen verkauft wird. Wir beide sind allein, wechseln ein paar Worte. Im Verkaufsgespräch entsteht für ein paar Momente etwas Nähe.

Ich bin sicher: Sie kennen das auch. Unerwartete Begegnungen. Eine Urlaubsbekanntschaft zu den Menschen am Nachbartisch des Restaurants. Dass ein Fremder Sie nach dem Weg fragt und Sie den Mann bis zu seinem Ziel begleiten. Hilfsbereitschaft, spontane Nähe, ganz unaufdringlich. Dass wildfremde Menschen sich in den Armen liegen und den Sieg ihrer Fußballmannschaft feiern. Plötzlich gibt es etwas Verbindendes, vielleicht nur für einen kurzen Moment. Gemeinschaft entsteht, ohne dass sie einengt.

Am Gegenbeispiel wird klar, worum es geht. Wo ein Mensch im anderen nur die Konkurrentin, den Rivalen, den potentiellen Feind sieht, da breiten sich Gleichgültigkeit und Kälte aus, Dunkelheit und Angst.

Das kennen wir auch: Den Filter vor unseren Augen, ein negatives Vorurteil, das uns in unserem Sehvermögen einschränkt, so dass uns - um auf ein Bild aus der Geschichte vom Rabbi und seinen Schülern zurückzukommen - jedes Schaf wie ein reißender Hund erscheint. Man hat schließlich schon von Wölfen im Schafspelz gehört.

Der Predigttext für diesen Sonntag erzählt davon, dass auch Jesus den Menschen mit einem Vorurteil begegnet, nämlich dem Vorurteil der Liebe. Er sah in anderen Menschen die Schwester und den Bruder, nicht den Konkurrenten, die Rivalin, den potentiellen Feind. Deshalb wurde es hell, wo er war, hell und warm.

Von solchen Begegnungen erzählt das Neue Testament wieder und wieder. Manche dieser Geschichten verbinden sich mit konkreten Namen und Orten: Maria und Martha, in deren Haus er lehrt. Der Zöllner Zachäus, der sein Leben neu orientiert und die Hälfte seines Besitzes den Armen gibt. Maria aus Magdala und Bartimäus, beide erfahren Heilung und Lebenssinn. Menschen am Rande, von Jesus in die Mitte gestellt. Der Kreis der 12 Jünger, aber ja nicht nur sie. „Ihr seid das Licht der Welt!" sagt er zu ihnen in der Bergpredigt (Mt 5, 14). Was für eine Umkehrung der Verhältnisse.

Zu Jesus schauen wir gerne auf, aber der sagt: „Nein, nein. Nicht ich - die!" und lenkt unseren Blick auf die, die wir übersehen, die wir nicht beachten, die uns nicht interessieren. Auch die sind „Licht der Welt" oder können es doch sein.

Jesus ging umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen, und als er das Volk sah, jammerte es ihn.

Jemand hat von diesem Abschnitt des Evangeliums gesagt, er sei wie ein Passbild Jesu. Auf diesem Bild kommt es nicht darauf an, möglichst gut auszusehen oder etwas darzustellen, sondern hier wird das Charakteristische eines Gesichts, eines Menschen, einer Person sichtbar. In einem solchem Bild kann man ihn sofort wiedererkennen. Dieses Passbild Jesu oder die Kurzfassung des ganzen Evangeliums lautet: Jesus ging umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen, und als er das Volk sah, jammerte es ihn.

Jesus geht in alle Dörfer und Städte - so steht das da.

Bald ist wieder Wahlkampf. Auch auf dem Marktplatz unserer Stadt werden Reden angekündigt von mehr oder weniger prominenten Politikerinnen und Politikern. In den Geschäftsstellen der Parteien werden Pläne ausgearbeitet. An bestimmten und besonders wichtigen Orten muss man präsent sein, wenn man die Wahl gewinnen will. Aber man kann nicht überall hin. Das ist ja klar.

Jesus macht da offenbar keinen Unterschied zwischen wichtigen und unwichtigen Orten. Er geht in alle Dörfer und Städte und predigt und heilt.

Und weiter: Jesus schaut die Menschen an und sieht ihre Not und es jammerte ihn. Er sieht die Menschen sozusagen unter dem Vorurteil der Liebe an.

Meistens sind Vorurteile ja von anderer Art, das Vorurteil Jesu ist von positiver Art. Er schaut die Menschen mit liebenden Augen an. Er weiß, dass sie alle, die Geringen und die Großen, die Mächtigen und die Ohnmächtigen, die Reichen und die Armen vor allem dieses brauchen: Barmherzigkeit, Liebe, Güte.

Wir kennen das doch von uns selbst: Wo jemand auf uns zukommt, der uns ermahnt, der uns Vorwürfe macht, uns erziehen will, uns Strafpredigten hält - da schließt sich alles in uns zu. Wo jemand auf uns zukommt, der uns Verständnis entgegenbringt auch in unserem Mangel und Versagen, da öffnet sich vieles.

Jesus begegnet den Menschen mit Liebe und voller Erbarmen und als der, der gerade darin heilt und hilft in Wort und Tat. So verstand er seine Sendung von Gott zu uns Menschen. „Selig seid ihr ...", so spricht er ihnen zu. (Mt 5,3-12) Selig seid ihr, die ihr arm seid und unterdrückt werdet. Selig seid ihr, die ihr trauert und weint. Selig ihr Sanftmütigen, ihr Friedfertigen, ihr Barmherzigen, selig ihr, die ihr euch nach Gerechtigkeit sehnt.

Jesus begegnet den Menschen als der Liebende und Erbarmende, aber führt auch die, denen er begegnet, in eine Haltung der Liebe und Bramherzigkeit hinein. Deshalb beruft er die 12 Jünger und darüber hinaus auch viele andere und uns doch wohl auch: „Ihr seid das Licht der Welt!" (s.o.)

Auch wir sind Licht der Welt!

Wenn ich das höre und darüber nachdenke, erfüllen mich verschiedene Gefühle:

Freude ... Freude darüber, dass ich dazugehöre.

Erstaunen .... Erstaunen darüber, dass ich das sein soll.

Erschrecken .... und die Frage: Kannst du leisten, was Gott sich von dir verspricht?

Auch wir sind Licht der Welt! Wie können wir diesem Auftrag gerecht werden?

 

Liebe Gemeinde,

wie sehen wir die Menschen, die uns begegnen? Was nehmen wir an ihnen wahr? Irgendwo habe ich gelesen: „Wir sehen die anderen oft wie einen Spiegel an. Wir wollen uns in den anderen spiegeln."

Da gibt es den Blickwinkel: Wie wirke ich auf die anderen? Wie komme ich an? Was muss ich tun, um in einem möglichst günstigen Licht zu erscheinen? Eine Sichtweise, die wohl niemandem fremd ist. Ganz abstreifen können wir sie wohl nicht, aber zugleich muss uns doch auffallen, dass sich das Heil Gottes so nicht vollziehen kann. Da muss doch die Frage hinzukommen: Wie kommen die anderen Menschen zurecht? Was braucht die, die neben mir steht? Was braucht sie von mir?

Wie sehen wir die anderen? Wie gehen wir mit ihnen um? Was hindert uns, einander zu lieben?

Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da rief er seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen.

Jesus gibt seinen Jüngern Macht über die unreinen Geister. Das hört sich ein bisschen magisch an, aber wenn wir nüchtern überlegen, dann gibt es vieles in unserer Welt, was Menschen krank macht, von ihnen Besitz ergreift und sie in schlechter Weise beherrscht. Ich will das jetzt nicht mehr ausführen. Entscheidend ist dies: Jesus bricht die Macht dieser Geister, er gibt den Menschen ihre Selbstbestimmung zurück. Wo das geschieht und immer dann, wenn das geschieht, dann strahlt dies aus und wirkt auch auf andere und in anderen.

Am Ende erinnere ich noch einmal an das Gespräch zwischen dem Rabbi und seinen Schülern. Die Nacht endet und der Tag beginnt, wo ich in dem anderen Menschen meine Schwester oder meinen Bruder erkenne.

Der Umgang mit Schwestern und Brüdern ist nicht immer einfach. Manchmal gibt es Konkurrenz und Streit. Und doch bleiben wir mit ihnen verbunden. Sie wollen leben und lieben wie wir.

Freunde kann man sich aussuchen, Schwestern und Brüder sind einfach da. Wenn wir das erkennen anstatt einander aus dem Weg zu gehen, dann ist vieles gewonnen. Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

Amen.



Domprobst Gert-Axel Reuß
Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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