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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 16.06.2013

Predigt zu Lukas 19:1-10, verfasst von Hans-Hermann Jantzen



1 Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch.
2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.
3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt.
4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.
5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: „Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren."
6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: „Bei einem Sünder ist er eingekehrt!"
8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: „Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück." 9 Jesus aber sprach zu ihm: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren; denn auch er ist Abrahams Sohn."
10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.


Liebe Gemeinde,

da hängt er nun im Maulbeerbaum zwischen Himmel und Erde. Zwischen seinem Beruf, der ihn reich gemacht hat, und den Leuten, die er arm gemacht hat. Da hängt er im Baum mit seiner Sehnsucht, es möchte doch noch mehr geben, etwas, das mit Geld nicht zu kaufen ist. Zachäus im Maulbeerbaum. Er will den Messias sehen. (1)

 

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Geschichte schon im Kindergottesdienst erzählt habe! Auf Gemeindefesten und Familienfreizeiten haben wir sie nachgespielt. Konfirmanden zogen als Reporter los und haben die Leute interviewt, was sie von diesem Zöllner halten. Bei vielen Gelegenheiten musste Zachäus herhalten, das Evangelium von der bedingungslosen Liebe Gottes anschaulich zu machen. Aber gepredigt habe ich noch nie über diese Geschichte! In den letzten 40 Jahren muss ich am 3. S.n.Trin immer gerade nicht dran gewesen sein.

Eine „ideale Szene" nennen die Neutestamentler unsere Geschichte. Es geht also weniger um einen konkreten Zöllner namens Zachäus. Zachäus ist eher der Prototyp für einen, an dem die Botschaft Jesu examplarisch deutlich wird. Das lässt sich gut vom Ende der Geschichte her erkennen. Da spricht Jesus in der 3. Person von Zachäus: „Auch er ist Abrahams Sohn." Und der Evangelist beschließt die Geschichte mit dem Satz: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist." Damit weist die Geschichte weit über die konkret geschilderte Situation hinaus. Das macht es uns leichter, uns selber darin wiederzufinden.

Aber der Reihe nach. Zachäus, der Oberzöllner, ist reich, wie Lukas ausdrücklich vermerkt. Auf anständige Weise wäre das kaum möglich gewesen, dazu wurden die Zöllner von der römischen Besatzungsmacht zu schlecht bezahlt. Zachäus tut also, was alle tun. Er drückt hier mal ein Auge zu, hält dort die Hand auf und kassiert mehr, als eigentlich rechtens ist. Volkssport Korruption. So hat sich im Laufe der Jahre ein erkleckliches Vermögen angehäuft. Von nichts kommt eben nichts. Dass er sich dadurch bei den Leuten unbeliebt macht, nimmt er in Kauf.

Wir würden es uns zu leicht machen, wollten wir Zachäus jetzt an den Pranger stellen und drauf hauen. „Zöllner-Bashing", so wie Manager-Bashing in unseren Tagen. „Da seht ihr mal, wie die Gier den Charakter verdirbt!" Ich möchte Zachäus vielmehr als Spiegel benutzen und mich selber fragen: „Wo nimmst du es manchmal mit der Ehrlichkeit nicht so genau? Wo erschleichst du dir deine kleinen Vorteile - bei der Steuererklärung, bei der Fahrtkostenabrechnung, bei der Handwerkerrechnung...? Und ich merke: ich bin Zachäus ähnlicher, als mir lieb ist.

Vor ein paar Wochen haben wir uns einen Briefschlitz in die Bretterwand unseres Fahrradschuppens sägen lassen. Der alten Holzkiste vor der Haustür, die wir bis dahin als Briefkasten genutzt hatten, hielt Wind und Wetter nicht länger stand. Als ich die Rechnung verlangte, meinte der Handwerker: „Ach was, geben Sie mir 20 Euro, und die Sache ist erledigt." Ich musste mich innerlich richtig an die Kandarre nehmen, um auf der Rechnung zu bestehen, auch wenn es ein paar Euro mehr gekostet hat.

Zurück zu Zachäus. Das hätte in seinem Leben ja nun so weiter gehen können - bis zur Rente. Er wäre noch ein bisschen reicher geworden, und niemand hätte ihn deswegen zur Rechenschaft gezogen. Wäre da nicht etwas dazwischen gekommen. Jesus, der Wanderprediger aus Nazareth, kam nach Jericho.

Zachäus hatte schon einiges von Jesus gehört. Das blieb nicht aus bei den vielen Kundenkontakten. „Er redet in Vollmacht," sagten die Leute anerkennend, „nicht so wie unsere Schriftgelehrten und Tempeldiener. Er kann so wunderbare Geschichten von Gott erzählen, da geht einem das Herz auf." Und viele, deren Leben kaputt war, die an Leib und Seele verletzt waren, wurden durch die Begegnung mit ihm gesund.

Zachäus war zwar nicht besonders an Religion interessiert; aber das hatte ihn schon beeindruckt. Und als er hörte: „Jesus kommt nach Jericho!", da stand für ihn fest: „Den muss ich sehen." Dass es ihm ernst war mit seinem Wunsch, können wir daran sehen, dass er durchaus einige Anstregungen unternimmt, um Jesus zu sehen. Angesichts des großen Andrangs hätte er ja auch sagen können: „Da bleib ich doch lieber zu Hause. Bei den Menschenmassen kann ich sowie nichts sehen. Und so wichtig ist das nun auch wieder nicht mt dem Jesus." Nein, offenbar ist es ihm wichtig. So wichtig, dass er sogar auf einen Baum klettert...

Und wieder schaue ich in den Spiegel. Wann habe ich zum letzten Mal diese Sehnsucht gespürt: „Das kann doch noch nicht alles gewesen sein..."? Oder lebe ich in so eingefahrenen Gleisen, dass gar kein Platz mehr bleibt für die Fragen nach Sinn und Ziel meines Lebens? Habe ich über der Sorge um das tägliche Leben den weiten Horizont des Glaubens, der Ewigkeit vergessen? Von Zachäus möchte ich lernen, mir die heilsame Unruhe nach diesem „Mehrwert" des Lebens zu bewahren.

Da hängt er nun also im Baum zwischen Himmel und Erde, zwischen Sattsein und Sehnsucht, zwischen fertigen Antworten und offenen Fragen. Das Überraschende: Jesus geht nicht einfach unter dem Baum durch. Dann wäre Zachäus irgendwann wieder heruntergeklettert, hätte gesagt: „Schön, dass ich ihn gesehen habe," und die Begegnung wäre eine folgenlose Episode geblieben. Aber Jesus bleibt unter dem Baum stehen, schaut hoch, nimmt ihn wahr und spricht ihn mit Namen an: „Zachäus, steig schnell herunter, ich muss heute noch in deinem Haus einkehren."

Eine besondere Heimsuchung. In doppelter Hinsicht: Zachäus sucht, was mit Geld nicht zu haben ist. Und Jesus sucht den Menschen, der sein Herz ans Geld gehängt hat. In der Autoergänzungsfunktion von Google wären hinter dem Namen „Zachäus" sicherlich Begriffe wie „Zöllner, Betrüger, Blutsauger" erschienen. Nicht so bei Jesus. Er sieht nur den Menschen, belegt ihn nicht mit Tätigkeitswörtern, die auf seine unmoralische Vergangenheit anspielen. Jesus redet ihn mit Namen an: „Zachäus!". Der Name steht in der Bibel für Identität, für Würde und Einzigartigkeit. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!" (Jes. 43, 1) Das verändert die Beziehung. Der Mensch wird wieder sichtbar hinter dem, was er getan hat. Gut evangelisch gesprochen: Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade.

Anders die Menge. Sie „murrt". Sie redet von Schuld. Sie sieht den Täter und zeigt mit dem Finger auf ihn: „Sünder! Zöllner!" Und da die Leute gerade so in Rage sind, nehmen sie Jesus gleich mit in Gesinnungshaft: „Bei so einem kehrt er ein! Unglaublich!"

Wo stehe ich? Allzu oft finde ich mich in der Menge wieder, zeige mit dem Finger auf Andere: „Steuerhinterzieher! Gierige Manager und Banker! Unfähige Politiker! Sozialschmarotzer! Ausländer!" Ich mache es mir leicht, weil ich dann nicht über eigene Schuld und Verantwortung nachdenken muss. Ich möchte vorsichtiger werden mit meinem Urteil, möchte den Menschen hinter seiner Tat, hinter seinem Verhalten sehen. Ich möchte die Zachäus-Typen unserer Zeit nicht in den Bäumen hängen lassen, sondern sie hereinholen in die Diskussion um die Zukunft unserer Gesellschaft. Ich möchte denen, die angeblich nicht ins Bild unserer hochanständigen Gesellschaft passen, den Weg ins Leben offen halten. Warum? Weil ich selber auch gern so gesehen und behandelt werden möchte. „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte." (Ps. 103, 8)

Die Geschichte steuert auf ihren Höhepunkt zu. Und der liegt nicht darin, dass Zachäus seine Betrügereien bereut. Der Clou ist nicht die Absichtserklärung des Zachäus, den entstandenen Schaden wieder gut zu machen und künftig seine Habe mit den Armen zu teilen. Das wäre „die Moral von der Geschicht". Das Evangelium, die Gute Nachricht steckt woanders, steckt tiefer. Sie steckt in dem abschließenden Urteil Jesu: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren. Denn auch er ist Abrahams Sohn." Dem, der nach Überzeugung der Frommen „heil-los" ist, vom Heil ausgeschlossen, dem wird das Heil zugesprochen. Weil Gott ihn für heils-würdig hält.

Die Reihenfolge ist die Pointe: Jesu Einkehr bewirkt bei Zachäus Umkehr. Ohne Einkehr keine Umkehr. Darum geht es bei all unserm Bemühen, die Welt friedlicher und gerechter zu machen; die Menschen und uns selbst zu ändern, umzukehren von verkehrten Wegen. Moralische Appelle bewirken da wenig. Auf die Einkehr kommt es an. Innere Einkehr. Bei mir. Bei uns allen. Gott einkehren lassen in die dunklen und versteckten Winkel des eigenen Lebens. Gottes Liebe kehrt bei jedem ein, auch bei denen, die wir längst verloren gegeben haben. „Auch er ist Abrahams Sohn." In Abrahams Schoß sitzen eben nicht nur die Frommen, sondern auch die, die auf Abwege geraten sind, die zu Bösem fähig sind - und die trotzdem Gottes Kinder sind.

„I have a dream", ich habe einen Traum: Wenn wir diese Einkehr zulassen, ereignet sich am Ende bei immer mehr Menschen konkrete Umkehr. Die Vision einer gerechteren Gesellschaft bleibt keine Utopie. Die Spur, die der letzte Kirchentag mit seiner Losung „So viel du brauchst" gelegt hat, verwandelt sich in einen breiten gesellschaftlichen Strom. Fortsetzung und Vollendung der Zachäusgeschichte. Amen.

 



Landessuperintendent i.R. Hans-Hermann Jantzen
21335 Lüneburg
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Bemerkung:
(1) Diesen Predigteinstieg verdanke ich Dr. Kristin Jahn,
in: Göttinger Predigtmeditationen 2013.


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