Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 16.06.2013

Predigt zu Lukas 15:1-10 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Leise Christensen

 

 

Wenn man ein Gleichnis Jesu hört, sollte es am liebsten einen Punkt geben, an dem das Gleichnis gleichsam an der Wirklichkeit festgemacht werden kann, wie wir sie kennen. Das Gleichnis soll m.a.W. der Wirklichkeit ähnlich sein, so dass wir fühlen, dass es auch zu uns spricht. Aber genau dies Gefühl ist ja nicht gerade das, womit wir heute dasitzen, wenn wir das Gleichnis vom verlorenen Schaf gehört haben. Welcher Schafhirte, der im Vollbesitz seiner Vernunft ist, würde 99 Schafe allein lassen, um das eine Schaf wiederzufinden, das aus unerklärlichen Gründen weggekommen ist? Wer würde die 99 Schafe Wilderern, wilden Tieren, gefählichen Naturereignissen oder auch nur Wassermangel überlassen, bloß weil ein einziges Schäflein abhanden gekommen ist? Das wäre doch nicht recht gegenüber den 99 Schafen, und es wäre auch nicht wirtschaftlich und rentabel für den Besitzer der Schafe, der ja doch seinen Hirten dafür bezahlt, dass er auf die Mehrheit der Schafherde aufpasst. Das erste Gleichnis von heute ist also ganz einfach Unsinn ohne jeden Halt im gewöhnlichen Alltag von Schafhirten oder in unserem Alltag! Natürlich ist es besser, wenn man mit den 99 Schafen wieder nach Hause kommt, als nur mit dem einen, das abhanden gekommen war. Verkehrt ist auch etwas mit dem zweiten Gleichnis von heute, dem Gleichnis von der Frau, die einen Groschen verloren und wiedergefunden hat. Es ist dumm, wenn man Geld verliert, das ist ganz sicher. Aber, aber - um eine Münze zu finden, stellt man doch wohl kaum sein ganzes Haus auf den Kopf. Und sollte man sich in einer Lage befinden, wo man jede einzelne Münze mehrmals umdrehen muss, ehe man sie ausgibt, würde man kaum, wenn man sie verloren und wiedergefunden hat, alle seine Nachbarsfrauen zu Kaffee und Kuchen einladen, um das Wiederfinden zu feiern. Schön und gut! Seine Nachbarsfrauen zu Kaffee und Kuchen einzladen, ist immer gemütlich, aber das braucht doch nichts damit zu tun zu haben, dass man irgendwas gefunden hat, was man verloren hatte. Und man könnte auch hier das finanzielle Argument gebrauchen wie bei den Schafen - würde man nicht sehr schnell die verschwundene und wiedergefundene Münze für den Kaffee und Kuchen ausgeben - wäre das alles dann nicht völlig sinnlos? Auf ökonomisch nennt man so etwas eine Kosten-Nutzen-Analyse. Ich glaube, wir müssen den Schluss ziehen, dass sich unser Herrgott im heutigen Text auf sonderbaren Abwegen befindet. Dieser innere Widerwille, der mich befällt, wenn ich diese kleinen Gleichnisse lese, hat vielleicht mit etwas ganz anderem zu tun als damit, dass diese Geschichten einem offen gesagt unwahrscheinlich vorkommen. Vielleicht hat es in Wirklichkeit damit zu tun, dass manche unter uns nicht allzu viel dafür übrig haben, an das ewig Verlorene zu denken, das uns im Laufe unseres Lebens abhanden gekommen ist. Eines von den Dingen, die bei kleinen Kindern so viel Charme ausstrahlen, ist doch, dass sie das Leben noch vor sich haben, dass die Möglichkeiten offenstehen, dass das Leben bereitliegt, eingenommen zu werden. Wenn wir dann herangewachsen sind, Erwachsene geworden sind, wie wir sagen, kann es manchmal anders aussehen. Dann hat es vielleicht Möglichkeiten gegeben, die man nicht wahrgenommen hat; Liebe, die man nicht gewagt hat; Chancen, die an einem vorübergeflogen sind. Wir können das Verlorene nicht wiederfinden, haben vielleicht auch gar nicht den Wunsch, es zu tun. Denn das Verlorene, das sind ja nicht bloß vertane Möglichkeiten und Chancen, die wir nicht ausgenutzt haben, es sind auch Verhältnisse, an die wir nicht gern zurückdenken mögen, Verhältnisse, die misslungen sind, Dinge, die gescheitert sind, und all das Verborgene, an das wir nicht denken mögen und von dem wir schon gar nicht reden mögen. Es gibt massenhaft Dinge, die wir jeder für sich zu verdrängen oder vor der Öffentlichkeit jedenfalls effektiv zu verheimlichen suchen. Es können so viele Dinge sein, deren Auffinden man sich nicht wünschen würde. Neulich war ich in einer großen Stadt zum Einkaufen, und da traf ich zu meiner großen Überraschung einen Mann, den ich sehr gut kenne. Aber ich begnete ihm nicht als einem Mann, sondern als einer Frau, in der vornehmsten Kluft, pink Nagellack und mit aufgestecktem Haar. Es war ganz klar, dass er sich ganz und gar nicht gefunden wünschte, und schon gar nicht von mir, einer Freundin von ihm in seiner männlichen Identität, denn die gewöhnliche, verstockte Gesellschaft verurteilt so etwas, obwohl es doch ganz harmlos ist und niemanden verletzt oder erschlägt! So kann es massenweise Dinge geben, die wir jeweils zu verheimlichen suchen oder von denen wir nicht wünschen, dass andere Menschen sie entdecken. Es gibt also in einem jeden Menschenleben etwas, was in die Kategorie des Verlorenen gehört. In jedem ehrlichen Leben jedenfalls. Es tut mir so weh, den ängstlichen Blick in den Augen meines Freundes und nun also auch meiner Freundin zu sehen, als er entdeckt hatte, dass ich ihn gesehen und alles ausgerechnet hatte - dass ich nun sein peinlichstes und innerstes Geheimnis kannte, seine Unvernunft, in Frauenkleidern zu gehen. Wie würde meine gesunde Vernunft auf seine Unvernunft und sein alternatives Leben reagieren? Hier möchte ich sagen, dass die gesunde Vernunft vielleicht gar nicht so vernünftig ist. Während uns die gesunde Vernunft bei vielen praktischen Dingen im Alltag helfen kann, kann sie das eben nicht bei Schmerzen in der Seele, im Innersten eines Menschen. Da kann man nicht mit seiner gesunden Vernunft daherkommen - und schon gar nicht im Namen anderer -, ohne nicht wieder gutzumachenden Schaden zu anzurichten. Denn die gesunde Vernunft kann uns niemals zu einem ganzen Leben mit zitternd aufmerksamen Sinnen verhelfen; sie kann nie ein Leben glücklich, rege oder etwa vollkommen machen. Sie vermag Rat im Alltag zu geben, aber nie Leben und Freude zu schaffen. Warum? Weil die gesunde Vernunft nie etwas aufs Spiel setzt. Sie geht kein Risiko ein. Und genau das ist es, was der Hirte und die Frau im heutigen Text tun: Sie setzen ganz einfach alles aufs Spiel, weil sie das Verlorene wiederfinden wollen, sie wollen das Ganze ans Licht heben. Der Hirte und die Frau sind Gottesbilder, d.h. Bilder dafür, wie wir Gott auffassen können. Er will das Verlorene ans Licht heben, er will das Weggekommene oder das Verborgene wiederfinden. Nicht um auszuschelten und Strafe für das Geschehene zu verhängen, sondern um sich zu freuen. Wir können zu verheimlichen suchen, dass es in unserem Leben etwas Verlorenes geben sollte, indem wir etwa sagen: „nein, sowas gibt es wirklich nicht", aber vor Gott können wir das nicht verheimlichen. Das Wirkliche lässt sich nicht unwirklich machen, indem man es verdrängt. Gott will uns und unsere Verlorenheit in sein Licht heben, in das Licht seiner Liebe, was nicht dasselbe ist, wie es ans Licht der Welt und vor die gnadenlosen und brutalen Blicke der anderen zu heben. Denn Gott handelt anders mit dem Verlorenen in unserem Leben, als wir damit handeln. Und das können wir deutlich an den beiden kurzen Gleichnissen sehen. Wenn wir etwas für uns behalten, tun wir es wohl aus Zweifel, Scham, Verletzlichkeit, bangen Ahnungen, Schuld, Furcht o.ä. Weil wir vor der Reaktion anderer Menschen Angst haben. Aber so ist Gott nicht. Er zieht es hervor in seine Liebe, die nicht verurteilt. Wir verurteilen einander, die als Prostituierte leben, als Obdachlose, Drogenabhängige, Transvestiten (oder heutzutage als Bankdirektoren!) oder als sonst irgendwas, was wir gegenwärtig mit heiliger Empörung verurteilen mögen. Gott aber tut das nicht, und wir sollten uns sicherlich in Acht nehmen, dass wir unsere eigene Handlungsweise nicht mit derjenigen Gottes verwechseln. Denn das Verlorene ist von der Liebe Gottes umschlossen. Es gibt in unserem Leben einfach nichts, was Gott daran hindern könnte, zu uns zu kommen, uns zu finden und uns in Liebe zu tauchen. Das Verlorene kann in unserer Sicht ewig verloren scheinen, aber nie in der Sicht Gottes. Das sehen wir heute. Es kann gegen die gesunde Vernunft sprechen, auf diese Weise auf dem Verlorenen zu bestehen - jedenfalls ist es unwirtschaftlich, wenn man sich an irgendeine Kosten-Nutzen-Rechnung hält, aber Gott will es so. Das Leben ist Gottes, es gehört nicht uns, und er verleiht ihm Würde und Wert, ohne Rücksicht auf das Maß unserer Verlorenheit. Wir dürfen entdecken, dass das eine Schaf unter den hundert in Gottes Augen unverlierbaren Wert hat, dass das eine Geldstück unter zahlreichen Münzen unendlichen Wert hat.

Amen



Lektor Leise Christensen
DK-6240 Løgumkloster
E-Mail: lec@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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