Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 07.07.2013

Predigt zu Matthäus 5:20 26 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Marianne Frank Larsen



In den SMS steht bitch und ho-bo und fake oder, was noch hässlicher ist. Ab nach Hause nach Chicago und Du bildest Dir ein, du bist klug. Es ist Alice in Siri Hustvedts Roman „Der Sommer ohne Männer", die ununterbrochen anonyme SMS bekommt. Eines Tages fehlt sie dann in der Schule, und die anderen sechs Mädchen des kleinen Schreibkursus' verhalten sich sonderbar taub und schweigen, als Mia, ihre Lehrerin, sie fragt, wo Alice abgeblieben sei und ob es stimme, dass sie im Krankenhaus gewesen sei. Also sucht Mia Alice zu Hause auf, um eine Erklärung zu bekommen. Dort liegt das Mädchen wie versteinert im Bett, auf dem Rücken, mit auf der Brust gefalteten Händen wie eine Leiche, die für die Beerdigung zurechtgemacht ist, so steht es im Text. Ja, sie sei im Krankenhaus gewesen, wegen starker Magenschmerzen, erzählt ihre Mutter, aber die Ärzte hätten nichts finden können, und deshalb sei sie wieder zu Hause. Ihr Gesicht sieht aus wie eine Maske, und als Mia sie anspricht, verzieht sie keine Miene. Eine Dreizehnjährige, die sich entschlossen hat, kein Wort zu sagen, verlangt große Geduld, aber Mia beharrt darauf, sie zum Sprechen zu bringen, bis das Mädchen endlich anfängt, ihr seine Leidensgeschichte zu erzählen. Die mit den SMS beginnt. Bitch und fake und skinny und ab nach Hause. Und peinliche Bilder auf Facebook. Und die so weitergeht, dass die anderen Mädchen sie abwechselnd akzeptieren und dann wieder kaltstellen, ohne dass sie erführe, warum sie ihr das antun. Und die mit einer SMS vom flottesten Typ der Schule endet, der sich mit ihr im Park treffen will, der sich dann aber gar nicht blicken lässt. Hinter einer Hecke stehen die sechs anderen Mädchen und können sich vor Lachen nicht halten, weil Alice auf die SMS hereingefallen war.

Aus diesem Grund verurteilt Jesus aufs schärfste denjenigen, der für seinen Bruder nur Schimpfworte übrig hat. Denn Worte können töten. Bitch und fake und ho-bo steht in den SMS, und das sind nur Worte, keine Schläge, keine Schüsse, keine Gewalt, die Alice ins Krankenhaus bringen und sie auf ihr Bett legen mit einem Gesicht, das einer Maske gleicht. Sie töten nicht den Körper, aber sie töten ihre Lebensfreude, ihr Vertrauen zu anderen Menschen und zu sich selbst. Und wenn Vertrauen und Lebensfreude getötet werden, hat das auch seine Folgen für den Körper. Dann wird der Rücken gebeugt. Die Schritte werden schwer. Die Augen verliefen ihren Glanz. Dann liegt das Mädchen da wie eine Leiche, die für's Begräbnis zurechtgemacht ist. Das ist eine ganz gewöhnliche Erfahrung, die wir alle kennen. Es gehört nicht mehr dazu als ein giftiges Wort oder eine hässliche Anspielung, um die Lebensfreude eines anderen Menschen - oder unsere eigene - zum Erlöschen zu bringen. Und darum sind nicht nur Gewalt oder Schläge oder Schüsse Bedrohungen eines Menschen. Es sind schon Wut und Hass und Neid, die sich in herablassenden Bemerkungen äußern, wütendes Anschreien, niederträchtige SMS. Sie sind Bedrohungen für den Lebensmut des anderen Menschen.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: du sollst nicht töten, sagt Jesus, und wir haben es tatsächlich gehört, denn es ist ja das fünfte Gebot. Ich aber sage euch, fährt er fort - mit Nachdruck auf dem „Ich", damit wir keinen Zweifel hegen, dass der, der jetzt spricht, eine ganz andere Autorität besitzt als diejenige des Mose, als er mit den Zehn Geboten kam. Mit seiner Rede verschärft Jesus das Gebot und verleiht ihm ganz andere Dimensionen, denn er stellt nicht nur Anforderungen an unsere Handlungen. Er stellt Anforderungen an unsere Gesinnung und unsere Herzen. Er tut es, um unsere Brüder und Schwestern, unsere Kinder und Eltern und Freunde und die, die wir lieben, und die, denen wir begegnen, zu schützen, um sie zu schützen vor unserem Zorn und Neid und vor den Worten, in denen sie gipfeln können, und um uns dazu zu bringen, dass wir uns miteinander versöhnen. Dass wir wieder Freunde sind. Um unser gemeinsames Leben zu bewahren und der Milde zwischen uns freien Lauf zu lassen. Das ist es, was er mit seinen Forderungen will.

Aber es gibt dabei noch einen Nebengewinn. Wenn man es denn einen Gewinn nennen kann. Denn es kommt doch auch dazu, dass unser Selbstvertrauen einen Knacks erleidet, während wir zuhören. Denn: Du sollst nicht töten. Danach können die meisten von uns wohl gut leben. Wir haben niemanden erschlagen. Wenn Gott nur das verlangt, gibt es keine Probleme. Mit anderen Menschen vielleicht, aber nicht mit uns. Dann ist in unserem Verhältnis zu Gott alles o.k. Aber wenn sein Sohn damit Recht hat, dass schon der Zorn, die Schimpfworte, die giftigen Bemerkungen, die fehlende Bereitschaft zur Versöhnung in seinen Augen verkehrt sind, - dann sieht die Sache einigermaßen anders aus. Dann gibt es plötzlich bei uns niemanden, der vollkommen wäre. Denn Worte, die den Lebensmut auslöschen, haben wir alle schon mal jemandem ins Gesicht gesagt - oder gezischelt. Oder wir haben sie gedacht. Oder in einer SMS geschrieben. So gesehen ist es eine ganz unerhörte Milde, die er von uns und unseren Herzen verlangt, in denen sich doch so viel anderes regt als milde Worte. Und selbstverständlich können wir ihm den Rücken wenden und die Achseln zucken und auf seine Worte pfeifen, weil es zu weit geht. Aber er steht noch immer dort, jeden Sommer, und besteht darauf: Ich aber sage euch! als ob er einen Anspruch darauf hat, dass wir ihn hören. Und dass wir danach handeln und leben, was er sagt. Weil er nicht nur im eigenen Namen spricht, sondern im Namen Gottes. Wenn er verlangt, dass wir einander unerhörte Milde des Herzens entgegenbringen sollen, dann spricht er im Namen des Gottes, der uns unsere Herzen gegeben hat. Und der uns einander gegeben hat. Ohne seine milde Schöpfermacht würde kein Herz in meiner Brust schlagen. Und auch nicht in der Brust meines Bruders oder meines Kindes oder dessen, den ich liebe. Dann läge auch nichts vom Leben eines anderen Menschen in meinen Händen, jedesmal dann, wenn ich den Mund aufmachte. Und genau dies ist der gute Grund dafür, dass Jesus die unerhörten Forderungen an uns stellen kann, die er formuliert. Dass er im Namen des guten Gottes spricht, der uns unser Leben gegeben hat und der will, dass sich die Milde unter uns frei entfalten kann.

Er will es so sehr, dass er seinen Sohn zu unserem Bruder gemacht hat, um uns die Milde zu geben, die uns fehlt. Denn die unerhörte Milde, die Jesus fordert, gibt es nur bei einem einzigen Menschen. Und das ist Jesus selbst. Der zwar in scharfen Wendungen zu uns spricht, wenn wir uns übereinander erheben und mit erniedrigenden Worten aufeinander einddringen. Denn nur so kann er die Milde verteidigen, auf die es in unserem Leben ankommt. Der aber auch umgekehrt unbedingte Milde mit jedem Menschen zeigt, der nicht über sie erhaben ist, sondern sie nötig hat. Ich vergebe dir alle deine harten Worte, sagt er, denn du bist keine bitch und kein fake. Das ist nicht die Wahrheit über dich - ungeachtet der Worte, die du in den Mund genommen hast, und ungeachtet der Worte, die du hast hören müssen. Du bist mein Bruder, oder du bist meine Schwester, geliebt und kostbar in meine Augen und in den Augen meines Vaters, trotz aller der Worte, die du nicht hättest sagen sollen. Und dasselbe gilt von dem Menschen, der neben dir sitzt. Mein Bruder oder meine Schwester, geliebte Kinder meines himmlischen Vaters. So sollt ihr einander sehen. Und so sollt ihr miteinander reden! Wie ich sehe, und wie ich rede, sagt er.

Als Alice wieder in ihre Klasse kommt, tut Mia, die Lehrererin, etwas, was ich genial finde. Sie stellt den sieben beschämten Mädchen die Aufgabe, ihre jeweiligen Geschichten aufzuschreiben. Es handelt sich ja doch immerhin um einen Schreibkursus. Und die Mädchen nehmen die Aufgabe auf sich, verteilen ihre Namen untereinander und schreiben jeweils ihre Geschichte über die Übergriffe des Sommers auf. Versetzen sich in die Lage voneinander, leben sich in die jeweiligen Situationen voneinander ein und betrachten dann den Verlauf der Ereignisse aus ihrer jeweiligen Perspektive. Aus der Perspektive des Starken, des Schwachen, des Neidischen, des Mitläufers, des Passiven - und des Unglücklichen. Und als Ergebnis kommt dabei tatsächlich eine Entschuldigung heraus. Und eine Versöhnung. Und ein sehr viel größeres Verstehen. An und für sich sollen wir genau dies tun - die Geschichten voneinander kennenlernen. Uns nicht von Wut und Neid leiten lassen, sondern uns in die Lage voneinander versetzen und die Geschichte aus der Sicht voneinander und mit den milden Augen Unseres Herrn sehen. Nicht als bo-hos, nicht als skanks oder, was noch schlimmer wäre, sondern als Menschen, die er liebt. Denn wenn wir die Milde sich unter uns frei entfalten lassen, wird sich zeigen, dass Worte nicht nur töten können. Worte können auch erlösen und die Lebenslust von neuem entfachen.

Amen




Pastorin Marianne Frank Larsen
DK-7000 Fredericia
E-Mail: mfl@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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