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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

7. Sonntag nach Trinitatis, 14.07.2013

Predigt zu Lukas 9:10-17, verfasst von Reinhard Gaede


 

Wer weiß noch, was Hunger ist? Dieses beißende Schmerzgefühl im Magen, die dauernde Schwäche, dieses Kreisen der Gedanken um die eine Frage: Wann und wie bekomm' ich etwas zu essen? - und bald! Der Hunger tritt meist wie eine Seuche auf. Wo er herrscht, müssen Unzählige unter ihm leiden, in Deutschland und Europa nach beiden Weltkriegen und heute in vielen Völkern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas. Der Hunger wächst in Krisenzeiten der Menschheit. Die Christenheit lässt sich angesichts dieser Not mit den Jüngern vergleichen. Sie haben zugesehen, wie die Menschen dem Meister zuströmten. Auf seinen Befehl waren sie hinausgezogen, um möglichst viele einzuladen. Sie wurden Menschenfischer, bewegten die Leute zur Umkehr zu Gott, heilten Kranke und machten den Namen Jesu bekannt. Die christliche Mission in den letzten Jahrhunderten ist ihrem Beispiel gefolgt. Die Ernte war reich. Immer mehr Menschen und Völker wollten die Bot­schaft vom kommenden Gottesreich hören.

Doch dann kam der Augenblick, den die meisten Jünger nicht bedacht hatten: Die hörende Menge wurde zur hungernden Masse. Ihr Hunger nach dem Wort der Wahrheit war gestillt, aber ihr Hunger nach Brot wuchs. War es Nachlässigkeit der Jünger? Haben sich die Christ(inn)en des Abendlands zu wenig Gedanken gemacht, was aus den missionierten Völkern der süd­lichen Welthälfte wird?

Erst gegen Abend fällt den Jüngern ein, dass die Menschen ja auch andere Bedürfnisse haben, dass sie essen müssen und schlafen wollen. Und welche Lösung haben sie, die Jünger, die Christen? Die einfachste: „Lass die Leute nun fortgehen, dass sie in den Höfen und Dör­fern ringsum Unterkunft und Verpflegung finden." Das ist alles. Immerhin: Sorge war aufgekommen, wenn auch spät. Aber nun heißt es: Lass die Leute sich selbst versorgen. Unsere Aufgabe ist das nicht. Sie wer­den schon eine Lösung für sich finden, und wir sind das Problem los. Die Jünger, die Christen wollen es sich leicht machen.

Doch Jesus macht es ihnen nicht leicht. Er fordert sie heraus: „Gebt ihr ihnen zu essen!" - Seltsam! So hatten sie ihren Auftrag bisher nicht verstanden. Sie sollten die Botschaft vom kommenden Gottesreich verkünden. Sie sollten Kranke heilen als Zeichen für die Gültigkeit dieser Einladung, Sie sollten Mission treiben. Aber für die Grundbedürfnisse der Mensch­heit sorgen, das war doch nicht ihre Aufgabe, das sollten die anderen selber tun!

Dieses Denken ist in der Christenheit tief verwurzelt, Religion, das sei ein Angebot für die Seele, sei Sorge um das ewige Leben, da gehe es um den Himmel, nicht um die Erde, um den Glauben, nicht um das Essen, um das Herz, nicht um den Magen.

Jesus hat das anders gesehen. Es geht um den ganzen Menschen, seine Seele und seinen Leib, seinen Glauben und seinen Verstand, seine Zukunft und seine Gegenwart, sein ewiges und sein zeitliches Leben. Das eine hängt jeweils mit dem anderen unverbrüchlich zusammen, ja beides ist sogar aufeinander angewiesen. Wann also werden seine Jünger, wann werden wir das begreifen? Reden und Handeln, Glauben und Dienen gehören zusammen. Des Men­schen Wohl und des Menschen Heil auseinander zu reißen ist unmenschlich. Und darum auch unchristlich.

Doch die Jünger begreifen es nicht. Alles, was sie sehen, ist ihre Armut, auf die Jesus sie gestoßen hat. „Wir haben hier nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische. Wir müssten denn schon hingehen und für all das Volk hier Nahrung einkaufen." Wir können sie so gut verstehen: Was ist eine Suppenküche für 100 Menschen, wenn Tausende Hunger leiden? Was ist eine Aufnahme von 100 Flüchtlingen, wenn Tausende vor Krieg und Gewalt und Hungersnot fliehen? Was wir haben, genügt nicht, denken die Jünger. Und mutlos sind die Christ(inn)en oft gewesen angesichts von soviel Elend in der Welt. Was leisten schon die paar Millionen Christ(inn)en mit ihren Hilfswerken Brot für die Welt und Misereor angesichts der hungernden Millionen? Ist das nicht alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Jesus ist entschlossen, ihrer Rat- und Mutlosigkeit zu widerstehen. Er geht einfach über ihre und unsere kleingläubigen Rat­schläge hinweg. Jesus schickt die Menschen nicht weg. Er mutet ihnen nicht zu, noch am Abend, müde und hungrig, weite Wege zu gehen, sich um Quartiere zu streiten, um Brot zu raufen oder es zu erbetteln. Er befiehlt den Jüngern: „Lasst sie sich in Gruppen zu je fünfzig lagern!" Diese Anweisung hat etwas sehr Nüchternes, Rationelles, Organisatorisches. Es soll keine Unord­nung entstehen. Jeder soll zu seinem Recht kommen. Chaotisches ist Jesus fremd. Er hat ein Ziel: die Hungrigen zu sättigen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was sich nun vollzieht, ist trotzdem, ein Wunder. Er nimmt die fünf Brote und die zwei Fische, schaut zum Himmel auf, spricht den Mahlsegen über ihnen, bricht sie und gibt sie den Jüngern. Jesus hebt die Hände zum Gebet, so wie es jüdische Tischsitte ist. Er spricht kein machtvolles Wort, keinen Zauber. Er tut, was jeder Hausvater tut. Und verweist mit seinem Dank auf den zurück, von dem alle Mittel zum Leben stammen: von Gott, der Himmel und Erde gemacht hat. Von dem Gott, der auf grünen Auen weiden lässt und der zu frischem Wasser führt, wie nach Psalm 23 gesagt und gesungen wird. Er gibt den Jüngern das Brot zum Verteilen an das Volk. „Und sie aßen und wurden alle satt." Nur ein kurzer Satz in dieser Geschichte über das unfassbare Wunder.

An das Abendmahl können wir jetzt denken. Oder an die Emmaus-Jünger, die den fremden Begleiter eben an dieser Gebärde als ihren lebendigen Herrn erkennen? Oder an die traurigen Jünger am See, denen sich Jesus beim Austeilen von Broten und Fischen als der Auferstandene zu erkennen gibt? Oder an die Versorgung des Gottesvolkes in der Wüste mit Manna. Hier nun, bei der Speisung, geschieht dasselbe und doch mehr: Jesus beteiligt die Jünger am Werk des Speisens, Er wendet sich zuerst dem himmlischen Vater zu, erfleht seinen Segen über den Gaben und segnet sie damit zugleich. Und indem er sie teilt, teilt er sie den Jüngern mit. Teilen verringert nicht das Geteilte, Teilen vermehrt es. Teilen lässt den Segen nicht schrumpfen, Teilen erweitert ihn.

Genau das ist das Wunder! Teilen ist ein Akt der Liebe. Liebe verwirklicht sich im Teilen. Die Liebe, die von Gott kommt, vermehrt das Brot und die Fische. Sie ist das Geheimnis des Wachstums, das sättigt. Doch sie bedarf der Men­schen, die die sich in ihren Dienst stellen und ihre Träger werden. Jesus beteiligt seine Jünger an dem Wachstum, das durch Gottes Liebe möglich wird.

Zwölf Körbe voll mit Brotstücken, sammeln die Jüngerinnen und Jünger ein. Zwölf, eine symbolische Zahl in der Bibel. Wie die zwölf Jünger können die zwölf Körbe für die Stämme Israels stehen, die erst in der Zwölferzahl das vollständige Volk Gottes sind. In der Antike lebte das Volk verstreut über die Provinzen des Römischen Reiches und darüber hinaus. Wenn also nichts verloren gehen soll, dann gilt das für das Brot, aber eben auch dafür, dass niemand verloren gehen darf, der zum Gottesvolk gehört.

Natürlich widerspricht es den Naturgesetzen, dem Gesetz von der Erhaltung der Masse, wie es der russische Gelehrte Michail Lomonossow (1711-1765) formuliert hat, dass Materie weder plötzlich neu entstehen, noch verschwinden kann. Aber die Geschichte ist eben eine Predigt vom Eingreifen Gottes. Und das hat eine wunderbare Mathematik, wie sie Johann Gottfried Lessing, Vater des berühmten Dramatikers (1729-1789) über der parallelen Geschichte bei Johannes dargestellt hat: „Andreas hat gefehlet, Philippus falsch gezählet, sie rechnen wie ein Kind. Mein Jesus kann addieren und kann multiplizieren, auch da, wo lauter Nullen sind." Mit Jesu Kommen kommt das Reich Gottes, das Elend und Not besiegen will, indem Menschen nach dem Willen Jesu teilen, was sie haben.

Das ist zweitausend Jahre her, seit die Geschichte erzählt wurde, gleich von allen vier Evangelien überliefert. Wir fragen, was sie mit uns zu tun hat. Wir haben, was wir zum Leben brauchen. Und wir haben mehr. Viele haben viel mehr. Großes Glück ist das, ein gesichertes Leben zu haben. Wir dürfen es ohne schlechtes Gewissen genießen.

Diese Geschichte ist eine Hoffnungsgeschichte. Es ist die Hoffnung darauf, dass es in der Welt, in der soviel Hunger ist, auch Momente der Fülle gibt. Dass die Menschen satt werden. Und dass es mehr gibt als die drückende Erfahrung des Mangels, mehr als die Not, immer zu wenig zu haben zum Leben.

Und über das Teilen belehrt uns die Geschichte. Es ist so: Wir müssen umlernen. Denn jetzt leben wir oft auf Kosten anderer Menschen. Z.B. unser Fleischkonsum. Bedroht und oft vernichtet wird die Existenz von Bauern, deren Feld jetzt zum Sojaanbau gebraucht wird, damit unser Vieh für unser Fleisch genug Soja hat. Und z.B. die Textilfabriken in Bangladesch. Sie brennen und stürzen ein, weil Menschen das billige Hemd wollen. Die Sicherheit hatte niemand der Auftrag gebenden Firmen tatsächlich geprüft, Hauptsache billig! Mit dem Teilen sieht es oft schlecht aus. Ein Zeichen sind auch die zigtausende Selbstanzeigen wegen Steuerhinterziehung aus Angst vor Strafe. Unser Lebensstil ist also oft ein Schaden für Andere. Und unser Gewissen sagt uns: Das geht auf die Dauer nicht gut. Wir dürfen solche Verhältnisse nicht weiter so bestehen lassen.

Leonhard Ragaz (1868-1945), Begründer der religiös-sozialistischen Bewegung, der als Theologieprofessor den Arbeitern die Bibel auslegte, nannte nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte von der Speisung der Fünftausend „die tiefste Lösung der sozialen Frage". (Hg. Religiös-Soziale Vereinigung: Die Speisung der Fünftausend (1945), S. 3) Weil sie nämlich fordert: „Die Jünger Christi sind berufen, dem Volke in seinem Namen zu essen zu geben." Ebd. S. 4) Gegenüber dem Spiritualismus, der eine „einseitig, abstrakte Geistigkeit des Christentums" ist, vertritt das Evangelium „den Materialismus des Reiches Gottes" (ebd. S. 5). "Christus verbindet, was das Christentum trennt: Er bindet Gott und die Not, das Brot und das Volk zusammen durch das Reich Gottes und durch sein Erbarmen." (ebd., S. 6) Jesu Segen und Dank ist „das enthüllte Geheimnis: Es müsste über die Güter der Erde, ihre Auffassung und Behandlung wieder S e g e n kommen, statt Fluch ... Die Güter der Erde, auch die materiellen (aber auch die geistigen ...) sind nicht bloß für den Einzelnen da, nicht für eine atomisierte Gemeinschaft, sondern für die G e m e i n s c h a f t der Menschen." (ebd., S. 8). „Das Christentum, besser: die Sache Christi hat durch Vernachlässigung des Brotes zugunsten des Wortes ebenso seine Kraft verloren wie der Sozialismus die seinige durch die Vernachlässigung des Wortes zugunsten des Brotes. Es wird seine volle Kraft erst wieder gewinnen, wenn es die gottgewollte Verbindung von Wort und Brot wieder herstellt." (ebd., S. 12)

Also setzen wir uns, bildlich gesprochen, einmal einen Moment zu dem Volk, das da auf dem Boden sitzt. Ochlos heißt es in der griechischen Sprache des neuen Testaments, das ist die Unterschicht, die Leute sind es, die zu wenig haben wie heute die, die von Hartz IV leben. Und überlegen wir, welchen Mangel wir haben: Vielleicht nicht genug Liebe, nicht genug Barmherzigkeit, nicht genug Stille, nicht genug Heiterkeit bis zum Ende des Monats geschweige bis zum Ende unseres Lebens. Wir könnten wohl gut abgeben, von unserm Brot, von unserm Fisch und ein paar mehr Steuern, wenn das Einkommen hoch genug ist, bestimmt auch. Teilen könnte für uns heißen: „Nimm dir ruhig, was du willst, aber gib auch, was du kannst, damit die Gemeinschaft, damit die Gesellschaft, damit die Anderen genau das auch können." Wir könnten wohl leicht abgeben, wenn wir wüssten, dass unser Leben eben gerade nicht ärmer wird dadurch und wir deswegen keine Angst zu haben brauchen, wenn unsere Seele ihre Heimat hat, wenn wir aufbrechen könnten, in die Freiheit, die wir brauchen. Erst die freie Seele, erst der freie Mensch kann wirklich geben, ohne zu fragen, was bekomme ich dafür, weil sie, weil er schon hat, was man wirklich braucht zum Leben. Und es gibt so lange keine Freiheit, wie es die Freiheit gibt, andere auszubeuten.

Christus ist der, der, unsern Hunger stillt und unser Sehnen, sagt die Geschichte. Er ist der, der das Leben in Fülle gibt.

So ist die Geschichte auch eine Geschichte gegen den Zweifel. Die Jünger zweifeln. Sie sagen: Was wir haben, reicht nicht für alle. Die Geschichte sagt uns dagegen: Vergessen wir nicht: Christus kommt dazu. Er gibt Kraft, Mut und langen Atem. „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein." So hat es Dietrich Bonhoeffer in seinem Gottvertrauen formuliert (EG 813). Wir müssen und wir können nicht die Welt und erst recht nicht uns selbst alleine retten, aber wir können und wir müssen anfangen damit. Mit dem wachen Blick dafür, was uns an Gaben dafür schon gegeben ist. Und mit der Zuversicht darauf, dass uns Gaben Gottes zur Stärkung gegeben werden. „Demonstrationen für das Reich Gottes machen", so hat Karl Barth das genannt. Wir haben soviel Kraft, wenn Gottes Geist, unter uns ist.

Schauen wir auf die Botschaft dieses Wunders: Gott sättigt viele Men­schen, sobald sich wenige von Jesus in seinen Dienst nehmen lassen. Hier ist Jesus die Liebe Gottes in Person, will keinen zugrunde gehen lassen. Und die Jünger lassen sich, obgleich sie ja, damals wie heute, ganz anders gesonnen sind, von Jesus zu Helfern und Trägern dieser Liebe Gottes machen. Und die Körbe, die sie - jeder genau einen - am Ende einsammeln, sagen ihnen: Wo die Liebe teilt, gibt es kein Ende, da ist zum Schluss immer noch etwas übrig, um neu anzufangen. Wir werden nicht satt durch Brot und Fische, sondern im Grunde durch teilende, mitteilende Liebe. Von Jesus haben wir es gelernt, von Jesus geben wir es weiter, zu Jesus bringen wir es zurück.

Das Elend, der Hunger kann also besiegt werden wie die Pest, die Cholera, die Schlafkrankheit oder die Kinderlähmung. Aber nötig ist die Liebe, die alle vorhandenen Güter teilt: die Nahrungsmittel, die Energiequellen, unsere Bildung, unser Einkommen, die Technik, das Organisieren. Das Abendmahl Jesu ist das Urbild dieses Teilens. Wer an seinem Tisch sitzt, wird satt, weil Christus mit ihm sein Leben teilt und weil er nun mit jedem anderen teilen darf. Lasst uns durch ihn frei werden zum Teilen, damit auch wir zu denen gehören, die mit ihm im Reiche Gottes sitzen!

Ich sehe Menschen vor mir. Sie brechen auf und beginnen,
ihre Welt mit Ehrfurcht und in Schönheit neu zu gestalten.
Sie öffnen ihre verschlossenen Türen
und teilen ihr Leben mit den Hungernden,
sie heben die Niedergedrückten aus dem Staub
und verbreiten einen barmherzigen Frieden ohne Angst.
Menschen leben und sterben
in Würde und Geborgenheit,
ihr Leben wird zum Vorzeichen des anbrechenden Morgens,
an dem alles an sein Ziel kommt.
Dies alles geschieht,
weil die Liebe des Großen Gastgebers
seinen Gästen zu Herzen geht.

Amen



Pfarrer i. R. Dr. Reinhard Gaede
32052 Herford




E-Mail: reinhard-gaede@gmx.de

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