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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 02.09.2007

Predigt zu Lukas 10:23-37, verfasst von Inger Hjuler Bergeon

Dies ist ja die Schlüsselgeschichte aller Schlüsselgeschichten über die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Es ist die Erzählung über die ewige Frage: kommt das eine vor dem andern, kommt das andere vor dem einen, oder ist es gar dasselbe, und wenn nicht, wie halten wir dann Gott und Mitmensch zusammen?

Wenn ich es die Schlüsselgeschichte aller Schlüsselgeschichten über diesen Gegenstand nenne, so hat das seinen Grund darin, dass es sich um ein Problem handelt, das die ganze Bibel, und unseren Glauben, beherrscht: Gott und der Nächste; Gott an erster Stelle, und der Nächste gleich danach; der Nächste zuerst und damit auch Gott; oder Gott und der Nächste, auf einmal... Weil Gott ohne den Nächsten in unserem christlichen Glauben nicht denkbar ist.

In der Bibel werden wir nicht mit sanfter Hand behandelt, denn die Propheten schimpfen, wenn jemand glaubt, dass man Gott anbeten und seinen Mitmenschen vergessen könnte und sagt, Gottesanbetung sei Hilfe für den Armen. Und Johannes, der Sanfte, sagt direkt: "Du Lügner und Heuchler: Wie kannst du sagen, dass du Gott liebst, den du nicht gesehen hast, wenn du nicht einmal deinen Bruder liebst, den du gesehen hast." Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, wenn wir trennen, was zusammen gehört: Gott und Menschen.

Da ist etwas in der Geschichte, das ich immer missverstanden habe. Und zwar, wohin sie unterwegs sind. Sie haben ja denselben Weg. Sowohl der Reisende, der überfallen wird, als auch die Räuber, der Priester, der Levit und der Samariter. Und ich habe mir in meiner inneren Landschaft immer vorgestellt, sie seien auf dem Wege nach Jerusalem. Also hinauf in die heilige Stadt. Und ich habe ja auch viele, viele Predigten - und Kommentare - gehört, in denen man betont, sowohl der Priester als auch der Levit seien in Eile gewesen, um zum Tempel zu kommen, zu ihrem Dienst, und aus diesem Grunde seien sie vorbeigegangen.

Aber, vielleicht sehen wir, ohne zu sehen. Und vielleicht lesen wir, ohne zu lesen. Denn vielleicht steckt darin eine richtig gute Pointe, dass Jesus erzählt: ein Mann war auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho. Und diejenigen, die vorbeikommen, haben denselben Weg. Hinab und weg von der heiligen Stadt, sie sind also im Tempel gewesen und wollen jetzt wieder nach Hause in ihren Alltag.

Und wenn man es so liest, dann ist es in der Tat noch greller, dass sie vorbeigehen - wenn man denn Grellheit steigern kann: dass man von Gottesanbetung und Gottesdienst und nach Hause - und an einem Überfallenen einfach vorbeigehen kann. Voller Gnade und Freude über das Haus Gottes und seine Herrlichkeit und den Bund mit dem Heiligen, voller Frieden mit seinem Gott, geht man an seinem Nächsten einfach vorbei.

Ja, wenn wir es so lesen, dass sie im Tempel gewesen sind, dann tritt es uns selbst plötzlich eine wenig zu nahe.

Denn im heutigen Dänemark kann sich zwar niemand ohne Weiteres mit dem Priester und Leviten identifizieren, denn niemand von uns ist so in Eile auf seinem Weg zum Gottesdienst, dass das ein Grund sein könnte, an einem Menschen in Not vorbeizugehen. Aber viele von uns sind im Gottesdienst gewesen, sind wieder auf dem Wege zum Alltag und können wiedererkennen, dass wir die Menschen in Not sehen, aber unser Leben unangefochten fortsetzen.

Die Erzählung handelt von Mitleid und Barmherzigkeit, und sie sind das Prisma, in dem klar wird, dass Gott und Mitmensch nicht zu trennen sind.

Über den Samariter, dessen Gottesanbetung zu der Zeit verkehrt war, der aber für den Überfallenen zu einem Nächsten wurde, steht dort: er bekam Mitleid. Wir könnten die Stelle auch so übersetzen: er wurde von Barmherzigkeit ergriffen. Und deshalb kann man fragen: ist Mitleid und Barmherzigkeit ein Pflicht? oder: ist es ein Trieb: oder ist es ein Trieb und eine Kraft, die mit dem Menschen handelt, so dass er es nicht lassen kann, danach zu handeln?

Man kann auch die Barmherzigkeit eine Gnadengeschenk nennen. Und dann berühren wir die Tatsache, dass sie etwas ist, was von außen kommt und einen fast überfällt, so dass man, vielleicht ohne dass man es wollte oder geplant hätte, dazu getrieben wird, Mitmensch zu sein. Sie ist eine Kraft, die uns über uns selbst hinauswachsen lässt. Sie lässt uns das Gute tun, und deshalb dürfen wir sagen: sie kommt von Gott.

Barmherzigkeit kommt immer in die Quere. In die Quere von allen Plänen, von unserer Bequemlichkeit und aller Ordnung. Davon will ich heute erzählen, indem ich von einem kleinen Roman von Graham Greene erzähle, der im Jahre 1943 spielt, in London während der Bombenangriffe. Hier sagt die Hauptperson über Mitleid und Barmherzigkeit, die aus Mitleid entsteht:

Mitleid ist die stärkste aller Leidenschaften. Es ist stärker als Verliebtsein. Liebe kann sich nicht sicher wissen, wenn das Mitleid úmgeht. Liebe kann sich nicht sicher wissen, wenn das Mitleid umgeht...

Der Roman heißt "Zentrum des Schreckens" und handelt von der Spionage der Nazis in England, aber das Thema, das das ganze Buch durchzieht, ist Mitleid. Was die Hauptperson umtreibt und ihn zur Kursänderung veranlasst, ist jedesmal Mitleid.

Dieser Mann hat sich aus der Welt zurückgezogen, und zwar während der Zweite Weltkrieg wütet. Er erlebt und sieht, wie London, jede einzelne Nacht, dem Bombenhagel ausgesetzt ist. Und er lebt wie hinter einer gläseren Wand. Er sieht, aber er lebt nicht. Der Grund ist, dass er seine Frau erschlagen hat - und freigesprochen worden ist. Er hat sie getötet, aus Mitleid. Und er hatte mit einer Strafe gerechnet. Er hatte es nicht ertragen können, ihr Leiden an der Krankheit, die sich nur verschlimmerte, mit anzusehen. Eines Abends schüttete er Gift in ihre warme Milch, so dass sie einschlafen konnte. Das plagt ihn. Denn tötete er sie, weil sie litt? Hatte er es aus Liebe getan? Oder tat er es, weil er es seinerseits nicht ertragen konnte, einen anderen Menschen leiden zu sehen? Die Frage verfolgt ihn in seiner geschlossenen Welt, wo er alle Eindrücke ausschließt. Er überlebt, aber er lebt nicht. Hält sich an alte Vorstellungen, aus Jugendbüchern, in denen das Gute mit dem Bösen kämpft. Und da gewinnt ja immer das Gute, wie er sagt. Da hat man nur seine Jugendbücher und Heldengeschichten, mit denen man der Wirklichkeit begegnet, und dann geht es schief. Denn in der Wirklichkeit gewinnt das Gute ja nicht immer. Mitleid ist die stärkste aller Leidenschaften. Es entsteht in einem, ohne dass man es will oder weiß. Das ist die Erfahrung dieses Mannes. Aus seiner Kindheit kann er sich an eine Ratte erinnern, mit der die anderen Kinder gespielt und die sie gepeinigt hatten, und als sie wegkroch, mit gebrochenem Rücken, erschlug er sie, und schlug und schlug, ganz außer sich, bis ein Kindermädchen kam und ihn wegzog. Er konnte sich nicht erklären, dass er geschlagen hatte, um die Ratte von ihren Leiden zu erlösen. Er hatte keine Worte. Und die Erinnerung ist für ihn, dass Mitleid eine Leidenschaft ist, die mit dir handelt. Du lenkst sie nicht. Sie handelt mit dir. Sie treibt dich, Dinge zu tun, an die du vorher nicht gedacht hattest. Die du nicht geplant hattest. Nicht überlegt hattest. Für die du keine Strategie entworfen hattest. Sondern sie handelt an deiner Stelle. Und deshalb ist Mitleid keine Willenshandlung, keine Tat der Überlegung, sondern es entsteht in dir. Und mit einer Kraft, die die Leute zu Dingen veranlasst, die sie sonst nicht gewagt hätten.

Dass man dann später seine Überlegungen anstellen kann, ja, das tut der reife Mensch. Wenn Mitleid einen auf den Weg gebracht hat, unter den andren zu leben, dann ist es nötig, dass man denkt, überlegt, handelt. Dass man plant, Gesellschaft und gemeinsames Leben formt, politisch handelt.

Dass Mitleid eine Leidenschaft ist, die außerhalb unseres Willens entsteht, bedeutet, dass darin etwas Punktuelles und Einzigartiges und Spontanes enthalten ist, zugleich aber hat es eine solche Kraft, in Bewegung zu setzen, dass es Menschen veranlassen kann, ihren Kurs zu ändern.

Mitleid ist eine starke Leidenschaft. Es kann Leute in Aufruhr versetzen, die sonst Angst haben. Die Hauptperson bei Graham Greene erinnert sich daran, dass er auf der Schule einmal einen Kameraden in Schutz nahm und sich gegen einen tyrannischen Lehrer stemmte, obwohl er starr vor Schreck war. Gehorsam und Loyalität gegenüber einem Machthaber können sich auch nicht sicher wissen, wenn Mitleid umgeht. Tyrannei und Machtmissbrauch können sich nicht sicher wissen, wenn Mitleid umgeht. Sich nicht zu empören, wenn man geschunden wird, ja, sagt die Hauptperson, es steht doch geschrieben: "Wenn jemand dich schlägt, sollst du auch die andere Backe hinhalten." Und was nun, wenn jemand einen andern schlägt? Deinen Nächsten?...

Mitleid ist eine starke Leidenschaft, die uns über uns selbst hinauswachsen lässt. Und uns Dinge tun lässt, an die wir vorher nicht gedacht hatten. Mitleid macht Schwierigkeiten.

Was diese Hauptperson dazu bringt, dass sie sich plötzlich mitten in einem Spionagedrama zwischen Gut und Böse in Londom während des Zweiten Weltkrieges befindet, das ist Mitleid. Er entdeckt nämlich, dass nicht alle Menschen Mitleid haben. Er kann es nicht ertragen, wenn er andre leiden sieht. Aber wie jemand über die Gruppe nazistischer Spione, die die Aufgabe haben, Informationen über England in die Heimat zu liefern, sagt: "Sie können Schmerz ertragen. Und sie können es ertragen, dass andre leiden." Und genau dies, dass sie es ertragen können, dass andre leiden, das bringt unsere Hauptperson so sehr in Aufruhr, dass er aus Mitleid plötzlich in die Wirklichkeit geschleudert wird, von Neuem.

Mitleid ist eine Leidenschaft - vielleicht die stärkste von allen, für manche Menschen. Es ist eine Leidenschaft, weil es von selbst wächst. Es überfällt einen wie ein Gnadengabe. Und es ist so stark, dass es uns zu Kursänderungen zwingt. Mitleid lässt uns anhalten und helfen und einen Menschen in Schutz nehmen, der geschlagen und getreten wird. Das ist nur selten eine geplante Tat des Willens. Es ist ja mühsam.

Es ist etwas Spontanes, etwas Unerwartetes am Mitleid. Es entsteht. Aber Gedanken und Handlungen, um zu verhindern, dass das Böse sich wiederholt, müssen sich gleich danach einstellen. Und auch die fortgesetzte Übung, niemals zu dulden, dass andere leiden. Auf diese Weise kann sich Leidenschaft zur Pflicht wandeln. In die nahe Pflicht und die Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Nicht als saure Pflicht, sondern aus Liebe, zu Gott und dem Nächsten.

In Leidenschaft und Pflicht: Mitmenschen in der Welt zu sein. Auf dem Wege zum Tempel oder auf dem Weg weg vom Tempel. Amen



Pastorin Inger Hjuler Bergeon
Odense, Dänemark
E-Mail: ihb@km.dk

Bemerkung:
Text der dänischen Perikopenordnung.

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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