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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

8. Sonntag nach Trinitatis, 21.07.2013

Predigt zu Johannes 9:1-7, verfasst von Sibylle Rolf



Liebe Gemeinde,

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

 

Ein Paar erwartet ein Kind. Neun aufregende Monate. Wie wird es aussehen? Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Vorfreude und Neugierde mischen sich, dazu leises Bangen. Wird alles gut gehen bei der Geburt? Wie wird es sein, wenn wir Eltern sind? Schaffen wir es, mit dem wenigen Schlaf zurecht zu kommen? Werden wir liebvoll und konsequent Grenzen setzen können? Dann kommt der große Tag. Die Wehen setzen ein, nach Stunden ist es geschafft. Das Kind ist geboren. Die Mutter lehnt sich erschöpft zurück. Der Schmerz ist schnell vergessen. Der Vater sieht sein Kind. Ein Junge. Noch ganz verschrumpelt sieht das Baby aus. Fünf Finger und fünf Zehen sind dran. Eine Erleichterung. Doch dann sieht er es: die Augen des Kindes sind ganz trüb. Ist das eine Nachwirkung der Geburt, will er fragen, da merkt er, dass der Arzt ganz hektisch wird. Ein Kinderarzt wird gerufen, der Kleine untersucht. Der Kinderarzt macht ein ernstes Gesicht. Blind, schießt es dem jungen Vater durch den Kopf. Als Blinder geboren. Ein behindertes Kind. Wie haben wir das verdient? Warum wir? Zu den Fragen gesellt sich der Blick des Arztes. Waren Sie denn nicht bei den Vorsorgeuntersuchungen? So etwas muss doch heute nicht mehr sein. Scham, schlechtes Gewissen, der Wunsch zu kontrollieren und die Fäden in der Hand zu behalten. Wer ist schuld? Warum ist das geschehen? 

Die Frage Warum ist uralt. Vielleicht gibt es sie, seit Menschen denken können, nachdenken können über sich selbst und ihr Schicksal. Warum ich und kein anderer? Wer hat da etwas falsch gemacht? Schuld wird gesucht, Kontrolle soll gewonnen werden. Wenn das Warum geklärt ist, können wir die Situation in Zukunft vermeiden. Nicht nur im Kreißsaal: warum?, auch bei einem Unfall, bei einer Krankheit, bei einer Trennung, bei einem Schicksalsschlag. Warum passiert mir das? Werde ich bestraft? Bin ich schuld? Oder wer ist schuld?

Aber auch wenn es vordergründig manchmal eine Antwort auf die Frage gibt - die Wirklichkeit ist doch meist komplizierter. Nicht jedes behinderte Kind hat eine rauchende Mutter gehabt. Nicht jeder Krebskranke hatte einen ungesunden Lebensstil. Nicht jeder Arbeitslose hat zum Chef eine respektlose Bemerkung gemacht, nicht jedes Burnout hätte vermieden werden können. Und nicht jede Ehe scheitert, weil einer von beiden sie beendet. Die Wirklichkeit ist komplizierter, das Leben ist komplizierter. Nur selten gibt es einen Schuldigen, den man belangen kann, und nur selten gibt es eine klare Antwort auf die Frage Warum.

Das Leben ist komplizierter, und das zeigt sich auch in der Geschichte, die heute der Predigttext ist. Die Jünger fragen warum, Jesus weist das Warum zurück. Nicht der Blinde hat gesündigt oder seine Eltern. Keiner ist schuld. Krankheit ist keine Strafe. Und auch Jesus bietet in seiner Antwort keine Erklärung. Er gibt der Krankheit keinen Sinn. Niemand leidet, weil Gott ihn heilen will. Kein Kind kommt blind auf die Welt, weil Gott darin etwas beweisen will. Kein Mensch wird schwer krank, weil in der Krankheit selbst irgendein Sinn liegt. Wer die Worte Jesu so auslegt, missversteht sie gründlich. Gott muss sich und uns nichts beweisen.

Es geht um eine Begegnung, die alles verändert. Um eine persönliche, leibliche Begegnung, nach der alles anders ist als zuvor. Es geht darum, dass Blinden die Augen geöffnet werden - im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Wir werden hineingestellt in die Sehschule des Glaubens, die Jesus Christus eröffnet.

Da ist zum einen der Blinde. Wir erfahren nicht einmal seinen Namen. Wir hören nur, dass er schon blind zur Welt kam. Er hat keine Krankheit gehabt, in deren Verlauf er allmählich sein Augenlicht verloren hat. Er hat von seinem allerersten Lebenstag an in der Dunkelheit gelebt. Seine übrigen Sinne ausgebildet, so dass er besonders gut hören, tasten, riechen und schmecken konnte. Vielleicht hat er, wie Bartimäus, von dem uns die anderen Evangelien erzählen, seinen Lebensunterhalt mit Betteln verdient. Wir wissen es nicht. Er erzählt nichts, er bittet Jesus noch nicht einmal um Heilung. Indem er am Wegrand sitzt, wird er Anlass eines gelehrten Gesprächs. Durch sein bloßes Dasein setzt er etwas in Bewegung. Obwohl er selbst sich erst einmal gar nicht bewegt.

Der Blinde fragt nicht warum, das erledigen andere für ihn: wer ist schuld an seiner Blindheit, er selbst oder seine Eltern?, fragen die Jünger - und halten sich Blindheit und Sünde vom Leib. Vielleicht sind sie von echtem Interesse an der Frage bewegt. Aber das Schicksals des Menschen am Wegrand bewegt sie nicht. Er wird zum Gesprächsanlass Wenn ein Blindgeborener die Folgen seiner eigenen oder der Sünde seiner Eltern trägt, sind wir sicher - denn wir sehen ja schließlich. Ein theologisches Gespräch über Blindheit und Sünde lässt alles schön abstrakt bleiben: die Welt wird schön geordnet. Hier die Sehenden, dort die Blinden. Hier die Reichen, dort die Armen. Hier gesund, dort krank. Wo wir stehen, ist klar. Und dass die anderen schuld sind, auch.

Jesu Antwort: niemand hat gesündigt, sondern Gott will an ihm wirken. Wer das als eine Antwort auf die Frage Warum deutet, versteht es falsch. Der Blinde ist nicht blind, weil Gott an ihm etwas zeigen will. Das würde jeden Kranken zu einem Mittel zum Zweck machen. Es wäre zwar der höchste Zweck, der Zweck Gottes selbst - aber der Leidende wäre eben nur ein Mittel. Grenzen werden verrückt, Menschen werden bewegt, Schubladen geöffnet: Gott wendet sich einem Menschen zu. Er will dem Blinden begegnen. Und der Blindgeborene wird zum Zeichen dafür, dass die eigentlich Blinden die Jünger sind. Denn sie haben noch nicht begriffen, dass das Licht mitten unter ihnen scheint. Die eigentlich Blinden erkennen nicht, dass es darum geht, sich bewegen zu lassen, sich in die Geschichte Gottes in Jesus Christus verwickeln zu lassen - und nicht in gelehrter Distanz dazu zu bleiben und schön über die Grenzen zu spekulieren, die unsere Welt in gut und böse einteilen.

Auch der am eigenen Leib Blinde soll aber nicht blind bleiben. Auch er soll in Bewegung gebracht werden. Mit seinem Speichel und der Erde mischt Jesus einen heilenden Brei, den er dem Blinden auf die Augen streicht. Mach dich auf den Weg, schickt er ihn fort, wasch dich am Teich Siloa. Der Name dieses Teiches wird dem Blinden zum Auftrag: der Gesendete, so heißt Siloa übersetzt, so, wie der Blinde selbst. Und die leibliche Blindheit ist beendet. Für alle um Zeichen kommt der ehemals Blinde wieder. Seine Dunkelheit ist beendet, für ihn scheint das Licht. Er hat sich von Jesus in Bewegung bringen lassen, und das hat ihn geheilt.

Und die Jünger? Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Das weiß schon der Kleine Prinz, und auch Jesus schreibt seinen Jüngern und uns diesen Satz vor Augen. Nur ein sehendes Herz kann begreifen und erfassen, dass das Licht der Welt erschienen ist und mitten unter uns gelebt hat. Es braucht das Herz, nach biblischer Theologie das Zentrum unserer Person, um zu begreifen, wie das Leben, wie der Glaube spielt. Es braucht das Herz, um zu begreifen, dass die Frage nach dem Warum nicht angemessen ist, nicht hilfreich. Sondern dass es im Leben und im Glauben darum geht, sich von der Liebe Gottes, die Mensch geworden ist, bewegen und heilen zu lassen.

Es braucht das sehende Herz, um zu begreifen, dass distanzierende Fragen, mit denen wir die Kontrolle behalten oder wiedergewinnen wollen, uns nicht helfen, heil zu werden. Dass die Grenzen und Schemen, in denen wir die Welt einteilen, der Lebendigkeit des Lebens nicht gerecht werden. Warum ich?, fragt der Kopf. Und das sehende Herz antwortet: ich weiß es nicht. Und vielleicht wirst du niemals eine Antwort auf deine Frage erhalten. Aber eines weiß ich: du bist nicht allein. Du bist gehalten. Du sollst heil werden, weil in dir etwas in Bewegung gesetzt werden, etwas zum Fließen gebracht werden soll.

Für die Jünger ist die Begebenheit mit dem Menschen, der blind zur Welt kam, eine Sehschule des Glaubens. Eine Frage wird als falsch entlarvt, und etwas gerät in Bewegung - nicht nur der Blinde. Für mich eröffnet sich die Sehschule auch. Nicht eine Antwort auf das Warum hilft mir zu leben. Nicht eine Antwort auf das Warum macht mich heil. Denn die erfasst häufig gar nicht die Wirklichkeit in ihrer Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit. Sondern der Mut, mich bewegen zu lassen - von der liebvollen Berührung des Mensch gewordenen Gottes Jesus Christus, aber auch von der Not der Menschen. Es beginnt etwas zu fließen und zu leben. Das Herz öffnet sich und ich lerne zu sehen: jeden Menschen zu sehen als Menschen, an dem Gott wirken will, und jede Situation zu sehen als Lebenszeit, in der Gott mich nicht verlässt. Und die Frage Warum wird kleiner. Sie verliert nicht ihren Wert. Aber sie wird ins rechte Licht gesetzt. Amen.

 



Pfrin. PD Dr. Sibylle Rolf
68535 Edingen-Neckarhausen
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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