Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 02.09.2007

Predigt zu Matthäus 6:1-4, verfasst von Reiner Kalmbach

Liebe Gemeinde:

Manchmal liegen Worte wie grosse Steine mitten auf dem Weg. Sie sind einfach da und wir fragen uns: "und nun.., wie geht es weiter...?". Wir könnten ihnen mit einem grossen Bogen ausweichen..., oder einfach drüber steigen...; die dritte Möglichkeit wäre, versuchen sie aufzuheben..., dabei spüre ich sein Gewicht, seine Grösse.., meinen Rücken und Muskeln..., vielleicht muss ich einen Hebel ansetzen..., auf alle Fälle werde ich mich mit ihm beschäftigen müssen, mir Zeit nehmen...Ein solcher Stein ist uns heute in den Weg gelegt...und wir wollen die dritte Möglichkeit wählen. Er heisst "Gerechtigkeit".

Ein schönes Wort, ein wichtiges Wort..., aber was bedeutet es wirklich? Jeder und jede von Ihnen könnte seine Sicht dazu beitragen...Was für den einen Gerechtigkeit heisst, muss für den anderen noch lange nicht das selbe sein. Der Normalbürger eines Industrielandes der nördlichen Halbkugel findet es sicherlich nur "recht und billig" dass er sich ein Eigenheim mit Garten, Auto und Ferien in Spanien leistet..., schliesslich arbeitet er hart dafür...Sein Gegenüber in einem südlichen Entwicklungsland wird das anders sehen, auch er arbeitet hart..., wofür?, um mit viel Mühe und Not seine sieben Mäuler jeden Tag stopfen zu können....

Wir Menschen "interpretieren" die Worte je nach Situation, politischen Ansichten und Lebenserfahrungen. Und manchmal wollen wir aus unseren Ansichten Gesetze machen, d.h. wir verleihen ihnen das Prädikat "absolut".

Also, es liegt ein Wort auf unserem Weg, es heisst "Gerechtigkeit". Aber, wer hat es hingelegt? Jesus ist der Urheber, Sein Wort versperrt uns den Weg, er möchte, dass wir uns Zeit nehmen, hören, was ER über dieses Wort zu sagen hat...Eigentlich ist es eher ein Felsbrocken, er scheint direkt vom Himmel gefallen zu sein. Und ganze Theologengenerationen und Prediger haben sich an ihm schon die Zähne ausgebissen...

Es handelt sich nämlich um die Bergpredigt: polemisch, provokativ und grossartig zugleich. Nicht die ganze Predigt, sie "aufzunehmen", wäre wahrhaftig zu viel verlangt. Es ist kleiner Abschnitt, scheinbar einfach zu verstehen (leicht wie ein Kieselstein), aber wenn wir uns auf ihn einlassen werden wir feststellen, dass da viel, ja "grundsätzliches" drinsteckt (ein kleiner Goldklumpen ist viel schwerer, als ein grosser Sandstein...). Wie jeder Prediger, so versucht Jesus seinen Hörern, also Menschen die zu ihm gekommen sind und seine Jünger, eine Botschaft zu vermitteln, sie von etwas zu überzeugen, sie zur Umkehr zu bewegen, zum nachdenken...Es geht Jesus in seiner Predigt von dem Berge um die neue, andere Gerechtigkeit. Dazu greift er auf konkrete Situationen aus dem religiösen und gesellschaftlichen Leben zurück, auf Dinge die nach Regeln, Traditionen und Gesetze ablaufen, Gerechtigkeit, wie Menschen sie interpretieren und anwenden.

Textlesung:

"Habt acht auf eure Frömmigkeit...", steht in meiner Lutherbibel. Frömmigkeit hat sehr wohl etwas mit Gerechtigkeit zu tun und das ist hier auch gemeint. "Habt acht auf eure Gerechtigkeit", das steht da wie eine Überschrift, ich verstehe es eher wie eine Warnung.

Seien wir ehrlich: eigentlich hat sich seit damals nicht sehr viel geändert, auch und gerade in der Kirche nicht. In manchem Gemeindehaus, in mancher Kirche stehen auf bronzenen Tafeln die Namen derer die zum Gelingen des Werkes beigetragen haben.

Als wir vor fast zwanzig Jahren in einer gänzlich abgelegenen Gegend der nordostargentinischen Provinz "Misiones" mit unsere Habseligkeiten ankamen, wurden wir erst einmal in einem heruntergekommenen Schuppen untergebracht. Vom neu zu bauenden Pfarrhaus war gerade mal das Fundament ausgehoben...Es fehlte an Geld. Da haben wir begonnen Backsteine zu versteigern. Natürlich versuchte bei den "Auktionen" so manches Gemeindeglied das andere zu überbieten, schliesslich stand ja sein guter Name auf dem Spiel...Als das Pfarrhaus, auf diese Weise finanziert, bald danach eingeweiht wurde, konnte jeder links und rechts am Hauseingang die Backsteine, schön eingemauert, mit den eingravierten Namen der Besitzer, oder besser Spender, bewundern.

Wendet sich Jesus gegen solche Spender?, ohne sie wären wir wohl nicht so schnell zu einem Dach für unsere Häupter gekommen...

Heute leben und arbeiten wir im Süden Argentiniens, in Patagonien. Eine kleine Gemeinde in der absoluten Diaspora, die wenigen Mitglieder können die Kosten der Gemeinde nicht selbst aufbringen. Dazu kommt ein kleines Altenheim, in dem alte Menschen, deren Rente zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist, einen würdigen Lebensabend verbringen können. Ein Strassenkinderprojekt das von der Gemeinde  begleitet wird, gehört ebenfalls zu unseren Herausforderungen. Sowohl die Gemeinde, als auch die diakonischen Einrichtungen leben von Spenden, deren grösster Anteil von einem Freundeskreis in Deutschland aufgebracht wird. Manche der Spender kenne ich nicht einmal nach ihrem Namen, sie sind anonym, sie helfen einfach so, ich kenne nicht einmal ihre Gründe...Dann gibt es auch solche die sich bei mir persönlich melden, dann schreibe ich Dankesbriefe und in manchen Fällen spüre ich, dass die jeweilige Person "mehr" erwartet..., vielleicht eine Veröffentlichung....

Wendet sich Jesus gegen solches Handeln, gegen diese Art von Solidarität...?

Wir sind auf alle Spender angewiesen, auf jene deren Hilfsbereitschaft in allen "Zeitungen gelobt" wird,- wie auch auf die Anonymen, deren Motive und Namen ich nicht kenne. Würde ich nur auf die "Selbstlosen" zurückgreifen, müssten wir unsere Türen schliessen, d.h. wir könnten weder das Wort Gottes predigen, noch alten Menschen ein würdiges Heim bieten, ganz zu schweigen von der Arbeit mit Kindern die in unglaublicher Verwarlosung leben und aufwachsen müssen...

Was ist also gemeint? Wie kann solidarisches Handeln wirklich nur spontane und absolut selbstlose Antwort auf eine Notsituation sein, so dass meine linke Hand nicht weiss, was die rechte tut...?

Wir Menschen: ich denke, wenn wir anderen etwas "Gutes" tun, wenn wir uns für eine Sache einsetzen, Geld spenden, damit die grösste Not etwas gelindert wird, wenn wir vielleicht sogar ehrenamtlich in einer Organisation mitarbeiten, dann tun wir das immer als Menschen. Jesus würde dieses Handeln nur unterstützen, da bin ich mir ziemlich sicher. Und wir fühlen uns gut dabei. Manch einer beruhigt dadurch sein Gewissen, andere sehen darin ihren Anteil am Aufbau eine neuen, besseren Welt. Und wenn ich auf unsere Situation vor Ort zurückkomme: Beide, sowohl die anonymen, wie auch die Spender mit Namen auf einer Broncetafel, beide helfen mit, dass in diesem entfernten Winkel der Erde der menschlichen Gerechtigkeit eine kleine Chance gegeben wird. Und: beide, ohne es zu wissen, geben damit auch der Gerechtigkeit Gottes Raum!

Wir tun das als Menschen! Kritisch wird es erst, wenn wir meinen uns durch unsere Mildtätigkeit einen Platz im Himmel ergattern zu können. Luther hat das ganz klar gesehen: "Wenn man recht lohnt und zu solchenWerken vermahnt, dass man um Gottes Willen aus reinem einfältigen Herzen ohne alle Sucht eigener Ehre und Verdienste geben soll, da ist niemand, der einen Heller geben will...Darum kann niemand ein gut Werk tun, er sei denn ein Christ. Denn tut er's als Mensch, so tut er's nicht um Gottes, sondern um seiner eigenen Ehre und um seines Gewissens willen, und wenn er doch Gottes Ehre vorgibt, so ist's doch erlogen und erstunken."

Wir Christen: Als Menschen suchen wir Anerkennung, Lob, Bestätigung, das weiss jede Mutter, jeder Vater, das wissen wir über und von uns selbst. Und auch für jene die unsere Hilfe empfangen ist es wichtig zu wissen, wo die Hilfe her kommt und wer dahinter steckt... Deshalb pflegen wir die persönlichen Kontakte zu unseren Spendern..., nur: das hat erst einmal nichts mit unserem Glauben zu tun.

Als Christ weiss ich, das mein Glaube nicht Produkt meiner eigenen Anstrengungen ist, sondern ein Geschenk Gottes, ich kann nicht sagen, "..so, ab heute glaube ich an Gott..!", das funktioniert nicht. Glaube ist wie wenn man etwas entdeckt, wenn man plötzlich, oder in einem langen Prozess, wahrnimmt, was Gott einem geschenkt hat: das Leben!, wenn ich sagen kann: "...ich bin, weil Gott mich gewollt hat!" Dann wird mein Handeln, mein "Gutes tun" etwas mit Dankbarkeit zu tun haben..Ich sage dann nicht: "...ich muss, oder ich sollte etwas spenden, mich für eine gute Sache einsetzen...", sondern, ich tue es aus der Freiheit heraus es tun zu dürfen. Im Effekt liegt darin kein Unterschied: ob mein Handeln "menschlich" motiviert ist, oder gänzlich uneigennützig, sozusagen spontan, einfach weil Hilfe angesagt ist.

Während meiner Studienzeit war eine meiner bevorzugten Vorlesungen "Kirchengeschichte" bei Helmut Traub. Er war damals schon um die achzig Jahre, als er uns "hineinnahm" in den Kirchenkampf der Nazizeit. Traub gehörte zu den Aktivisten der Bekennenden Kirche und wurde in Gestapohaft gefoltert. Der kleine, alte Mann litt gesundheitlich schwer unter den Folgen. Wir Studenten sogen buchstäblich in uns auf, was er uns zu sagen hatte. Eine kleine Gruppe von vier oder fünf Studenten machte sich wöchentlich auf den Weg, um bei ihm zu Hause heikle theologische Fragen zu diskutieren. Ich durfte auch dazu gehören, ja, ich "durfte" ihn hören, es war ein grossartiges Geschenk!

An einem Nachmittag standen wir dann vor verschlossener Tür. Er öffnete nicht..., wir warteten ein halbe Stunde, da kam die Nachbarin und von ihr erfuhren wir, dass er wohl nicht käme, er sei im Krankenhaus..., gross war unser Schreck und wir bekamen es mit der Angst zu tun. Natürlich fuhren wir sofort hin. Am Empfang sagte man uns, dass er gar nicht aus Gesundheitsgründen da wäre, sondern, weil er jemanden regelmässig besuchen käme. Man schickte uns in den dritten Stock. Eine Krankenschwester führte uns bis zu einer verglasten Türe...; und da sahen wir unseren Kirchengeschichtler auf dem Boden sitzen, um ihn herum viele kleine Kinder. Er hatte ein Bilderbuch in der Hand und las etwas daraus vor. Dann erzählte uns die Schwester, dass er seit ein paar Jahren diese Kinderstation besuche. Die meisten der Kinder waren HIV- infiziert, manche hatten bereits ihre Eltern verloren...Plötzlich sah er uns: selten strahlte aus einem Gesicht so tiefe Dankbarkeit und Freude.., sein einziger Kommetar war: "..ach, euch hatte ich ganz vergessen..!"

Niemals hatte er etwas über seine Besuche bei den HIV-Kindern erwähnt..., er tat es einfach. Helmut Traub war es der uns einmal lehrte: "...als Menschen fragen wir immer nach dem Leben und was es uns schuldig sei. Als Christen wissen wir, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist und so fragen wir, was wir dem Leben schuldig sind..." Er nannte es, "das Leben mit Sinn füllen, Gott darin vorkommen lassen, IHN zum Zuge kommen lassen..."

Das finde ich grossartig! Vor Gott muss ich nicht gut dastehen, ich muss ihm nichts vorzeigen, keine Liste meiner guten Taten, ich muss mir nicht seine Liebe erarbeiten, ich darf mich ganz auf das konzentrieren, was Not tut: Christ sein in dieser, für so viele Menschen, dunklen Welt!

Amen.



Pfarrer Reiner Kalmbach
Argentinien



E-Mail: reikal@neunet.com.ar

(zurück zum Seitenanfang)