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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 02.09.2007

Predigt zu Matthäus 6:1-4, verfasst von Erika Reischle-Schedler

„Habt acht auf eure Frömmigkeit, daß ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten."

Liebe Gemeinde, direkt neben den Predigttext möchte ich zwei Sätze der jüdischen Religionsphilosophin Simone Weil stellen:

„Gott ist überall dort gegenwärtig, wo die Unglücklichen um ihrer selbst willen geliebt werden.

Gott ist nicht gegenwärtig - selbst wo er angerufen wird -, wenn die Unglücklichen nur ein Anlaß sind, das Gute zu tun, ja selbst, wenn sie dieserhalb geliebt werden." (Zitiert nach: „Der andere, Du und Deine Mitmenschen", Evang. Verlagsanstalt Berlin 1961).

Mit diesen Sätzen springen wir mitten hinein in das, was Jesus seinen Jüngern und damit auch uns sagen möchte. Und weil der philosophische Text aufs erste Mal nicht zu erfassen ist, lese ich ihn gleich noch einmal:

„Gott ist überall dort gegenwärtig, wo die Unglücklichen um ihrer selbst willen geliebt werden.

Gott ist nicht gegenwärtig - selbst wo er angerufen wird -, wenn die Unglücklichen nur ein Anlaß sind, das Gute zu tun, ja selbst, wenn sie dieserhalb geliebt werden."

„Seid vollkommen, wie auch Euer Vater im Himmel vollkommen ist", lesen wir in der Bergpredigt Jesu unmittelbar vor den uns heute beschäftigenden Sätzen. Es geht also ums Ganze, um nicht mehr und nicht weniger. Sie wissen so gut wie ich, liebe Gemeinde, dass das eine Botschaft ist, die sich diametral dem landläufigen Denken unserer zeit entgegenstellt. Denn wir alle kennen den weit verbreiteten Satz: „Tue Gutes und rede darüber". Und wir alle kennen die Berechnung, mit der zu allen Zeiten Gutes getan wurde und wird. Da geht es dann nicht mehr um den Menschen, der Hilfe benötigt, sondern um mich, der ich die Macht habe, ihm unter die Arme zu greifen, wenn ich das denn will - oder aber, ihn zappeln zu lassen, wenn ich ihm eben nicht unter die Arme greifen will. Bei mir liegt die Macht. Und wenn ich diese Macht nicht zu meinen eigenen Gunsten, sondern zugunsten des Hilfebedürftigen, Unglücklichen, Leidtragenden ausübe - dann gehört mir dafür die gebührende Aufmerksamkeit. Ich stelle mich in den Mittelpunkt des Geschehens. Was ich doch für ein guter Mensch bin - viele sollen es mitkriegen, die Medien sollen darüber berichten, die Bilder sollen möglichst um die ganze Welt gehen: Was bin ich doch für ein außergewöhnlicher Mensch ...!

„Tue Gutes - aber wichtiger als das: Rede soviel wie möglich darüber!" Meine eben versuchte Karrikatur zielt nicht bloß auf Großkapitalisten ab, die, ohne dass es sie wirklich etwas kostet, ihr Geld unter die Leute verstreuen und sich damit soziale Lorbeeren verdienen wollen - das fängt im allerengsten persönlichen und familiären Umfeld an: Die Älteren unter uns werden sich womöglich noch an einen Erziehungsgrundsatz erinnern, der jedem Kind mit auf den Weg gegeben wurde: „Du sollst jeden Tag eine gute Tat tun". Großartig! Schon das kleine Kind lernte, kaum dass es lesen und schreiben konnte, auf alle Fälle rechnen: „Mama, heute habe ich schon eine gute Tat getan, ich habe schon der alten Frau das Taschentuch aufgehoben - nun muß ich erst morgen wieder eine gute Tat tun!" Und, schlimmer noch: Das kleine Mädchen saugt beinahe mit der Muttermilch ein, dass es bei der Hilfsbereitschaft nicht um den Menschen geht, dem man da hilft, sondern um einen selber. Es heißt dann nicht: „Wie schön, ich konnte das strahlende Gesicht der Frau sehen, die sich gefreut hat", sondern: „Ich bin ein braves Mädchen, ich habe gemacht, was von mir erwartet wurde - nun habe ich aber mein Lob, meine Belohnung, auch verdient, ich kann stolz auf mich sein und erwarten, dass alle anderen es auch sind".

„Wenn Ihr einem anderen etwas Gutes tut, dann soll Eure rechte Hand nicht wissen, was Eure linke getan hat". Es gibt keine Grenze der Güte bei Gott, sagt Jesus. Güte ist grenzenlos, und gerade das zeichnet den Menschen aus, dass er fähig ist zu grenzenloser Güte. Daß er fähig ist, alle Berechnung hinter sich zu lassen und nur aufmerksam und mit wachen Sinnen durch die Welt geht: Dort werden ihm ungezählte Gelegenheiten begegnen, „Unglückliche um ihrer selbst willen zu lieben". Im Folgenden soll es um zwei Beispiele dafür gehen: eines aus alltäglicher Praxis und eines aus dem Neuen Testament:

Zu den unvergesslichen Episoden meines Berufslebens gehört die Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen. Eines Tages kommt eine der behinderten Frauen nach meiner Andacht auf mich zu und sagt: „Hier, ich schenke Dir ein Bonbon. Du siehst heute so traurig aus". Diese Frau hatte mir gegenüber die Sprache des Herzens gefunden. Sie lief nachher nicht durchs ganze Haus und erzählte überall: „Ich hab der Pastorin ein Bonbon geschenkt, weil sie heute so traurig war" - sie hatte in ihrer Herzensgüte etwas bemerkt, was sie nicht kalt ließ - und sie hatte, was sie konnte, getan, um mir einen Sonnenstrahl zu schicken. Und ich bin sicher: Solange sie noch Bonbons in ihrer Rocktasche hatte, hätte sie auch dem nächsten Menschen, der sie traurig angeschaut hätte, ein Bonbon geschenkt und gesagt: „Ich schenk Dir ein Bonbon, Du siehst so traurig aus".

Das ist ein sehr einfaches, sehr unscheinbares Beispiel. Aber es macht deutlich, worum es letztlich geht: Um erfülltes, bis zum Rand gefülltes Leben. „Gott wird lohnen, was Du hergibst! Gott wird lohnen auf seine ihm ganz eigene Weise, die kein Mensch wissen kann". Jesus sagt kein Wort darüber, wie dieser „Lohn", dieses „Vergelten" Gottes aussehen wird. Wenn Paulus uns daran erinnert, dass wir in unserem irdischen Leben im Glauben und nicht im Schauen leben, so gehört der „Lohn" wohl auch in dieses Kapitel: Der Lohn wird uns zuteil, wenn wir vom Glauben ins Schauen gelangen - bis dahin bleibt er ein Teil unseres Glaubens. Je tiefer wir Gott vertrauen, umso tiefer wissen wir, dass er keine Regung unserer Hand übersieht. Daß bei ihm auch der kleinste Funke von Güte und Anteilnahme wohl aufbewahrt bleibt und niemals dem Vergessen anheimfallen wird.

Aber wenden wir uns unserem zweiten Beispiel zu, dem Evangelium des heutigen Sonntags, das wie kaum eine andere Geschichte verdeutlichen kann, worum es Jesus geht: Da ist ein Mensch unterwegs von einem Ort zum anderen. Er weiß, was er will, und er weiß, wohin er will - er weiß womöglich auch, wann er wo sein möchte. Aber da kommt etwas dazwischen, und er lässt es zu. Es kommt jemand dazwischen: Ein Mensch in Not. Der Reisende ist allein mit diesem Menschen. Niemand sieht, wie er reagiert. Er könnte seines Weges weiterziehen und den Unglücklichen einfach liegenlassen - irgendwer würde irgendwann schon kommen. Aber so handelt er nicht. Er lässt sich in seinen eigenen Plänen stören und fragt in diesem Moment nicht mehr nach sich selbst. Jetzt geht es nicht mehr um ihn, sondern um einen anderen Menschen, der Hilfe braucht. Der Reisende sieht genau hin, welche Hilfe nötig ist: Erst einmal müssen die Wunden versorgt werden. Dann muß der Mann in eine seinem Zustand entsprechende Unterkunft transportiert werden, und schließlich muß jemand anders gefunden werden, der sich weiter um ihn kümmert, und derjenige muß eine dafür angemessene Entlohnung erhalten. All das geschieht, wie wir wissen: Der Reisende tut nicht mehr und nicht weniger als nötig. Das Nötige tut er in ganz praktischer, menschlicher Güte. Es geht hier nicht um ihn, es geht auch nicht um Gott - sondern um einen Menschen, der Hilfe braucht, und das mit ganzer Aufmerksamkeit und ganzer Zuwendung.

„Gott ist überall dort gegenwärtig, wo die Unglücklichen um ihrer selbst Willen geliebt werden". Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder hilfebedürftige Mensch ein äußerst feines Gespür dafür hat, aus welcher Motivation heraus ihm Hilfe geschieht, wenn er sie denn braucht. Ob da jemand nur darauf bedacht ist, sein eigenes Selbstbewusstsein zu heben - ob da jemand Aufmerksamkeit auf sich selbst in der Öffentlichkeit lenken will - oder ob da jemand mit der Kraft und Achtsamkeit seines Herzens die Not des anderen wahrnimmt und von Mensch zu Mensch ihm zu Hilfe kommt.

Die Predigt endet hier. Das Leben wird sie weiterschreiben müssen. Unser aller Leben unter Gottes Anspruch an uns und unter seinem Zuspruch: „Seid vollkommen, wie auch Euer Vater im Himmel vollkommen ist! Er, der ins Verborgene sieht, wird jede auch noch so geringe Tat der Güte würdigen! Liebe wird niemals verlorengehen!" Amen.

Ev. Luk. 10,25-37

Ep. 1. Joh. 4,7-12

Wl. 343

Weitere Liedvorschläge: 438,1-3,6, 427,1,2,4,5, 236, 404,1,2,6-8



Pastorin Erika Reischle-Schedler
Göttingen
E-Mail: e.reischle-schedler@t-online.de

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