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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 04.08.2013

Predigt zu Lukas 19:41-44, verfasst von Christiane Borchers

Liebe Gemeinde!

Jesus weint über Jerusalem. Er hebt eine Klage über die Stadt und den Tempel an. Er klagt darüber, dass die Bewohner nicht erkennen, was zum Frieden dient und kündigt den Untergang. Es wird eine Zeit kommen, da werden die Feinde Jerusalem belagern und die Bewohner von allen Seiten bedrängen, kein Stein wird auf den andern blei­ben. Lukas reiht Jesus hier in die Unheilspropheten des ersten Testaments ein. Jesus prophezeit wie die Unheilspropheten des ersten Testaments das Unheil als Folge des eigenen Verhaltens. Sie sind also verantwortlich für das, was geschehen wird. Die Unheils Ankündigung Jesu über Jerusalem und den Tempel wird sich bewahrheiten, ungefähr 40 Jahre später wird die heilige Stadt mit ihrem Heiligtum von den Römern zerstört werden.

 

Die Zerstörung Jerusalems ist in bestimmten Kreisen im Laufe der Kirchengeschichte als gerechte Strafe für Jüdinnen und Juden ausgelegt worden. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie Jesus nicht als Sohn Gottes angenommen, ihn gar gekreuzigt haben. Das jüdische Volk für den Tod Jesu verantwortlich zu machen, schürt Antisemitismus, spielt Juden und Christen gegeneinander aus. Juden werden als böse klassifiziert und Christen sind die "Guten", die die Zeichen verstanden und Jesus als den Friedensbringer erkannt haben.

 

Jesus weint aber nicht über Jerusalem aus der Perspektive eines Christen, sondern er weint als Jude über die Stadt. Jesus übt in seiner Klage Kritik an seine eigenen Landsleute, er übt also Selbstkritik. Die Auslegung dieses Predigtabschnittes darf nicht judenfeindlich, sie muss selbstkritisch sein. Der heutige Sonntag, der 10. Sonntag nach Trinitatis, wird der Israelsonntag genannt. Gemeinsam mit unsern jüdischen Schwestern und Brüdern sollen wir fragen, was dem Frieden dient.

Jesu Klage und Weinen bringe ich in Verbindung mit dem Anfang eines Gedichtes von Else-Lasker-Schüler. Die Dichterin schreibt:

"Es ist ein Weinen in der Welt,

als ob der liebe Gott gestorben wär

und der bleierne Schatten, der niederfällt,

lastet schwer...."

Als Jesus seine Unheils Worte über Jerusalem spricht, nähert er sich mit seinen Jüngern der Stadt, die in ihrer Schönheit und Pracht vor ihnen liegt. Die Jünger begeistert. "Gelobt sei, der da kommt", rufen sie erfreut mit lauter Stimme und rühmen Gottes Taten. Preisend erreichen sie den Ölberg (vgl. Lk. 19,37f). Jesus wehrt ihrer Freude nicht, aber während die Jünger jubeln, bricht er selbst in Tränen aus: "Wenn doch auch du erkenntest, was zum Frieden dient", spricht er über die  Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, die nicht erkennen, was für das Wohl der Stadt - und damit zu ihrem eigenen Heil - nötig ist. "Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen". Können sie nicht sehen können oder wollen sie nicht sehen? Es könnte sein, dass sie nicht sehen wollen. Es ist leichter die Augen zu verschließen, als Realitäten, zumal wenn Unheil droht, ins Auge zu fassen.  Das Unheil wird kommen, sagt Jesus, es ist eine Folge davon, weil sie die Zeit nicht erkannt haben, in der sie bedrängt worden sind und nicht die nötigen Rückschlüsse daraus gezogen haben.

"Wenn du doch erkenntest, was dem Frieden dient!" Der Ausspruch Jesu lässt mich an den Unfrieden denken, der seit Generationen im Heiligen Land herrscht. Vom Ölberg, wo Jesus einst gestanden hat, hat die Betrachterin, der Betrachter einen überwältigenden Blick über die heutige Altstadt und den Tempelberg mit der goldenen Kuppel des Felsendoms und der silbernen Kuppel der Moschee. Diese einmalige wunderschöne heilige Stadt, mehrmals zerstört und wieder aufgebaut, hat zahlreiche Kriege und Unruhen in ihrer Geschichte erlitten. Sie spiegelt geradezu exemplarisch die Zerrissenheit der Welt wieder. In dieser Stadt wird Gewalt ausgeübt, Wohnungen werden über Nacht abgerissen, Palästinenser obdachlos gemacht. Unvermutet und plötzlich können in dieser Stadt Panzerangriffe und Sprengstoffanschläge ausbrechen, als ob der Frieden mit brachialer Gewalt herbeigeführt werden könnte. Der Israel Sonntag erinnert an die Menschen, die Befehle gaben und an die, die dadurch Verletzungen erlitten oder zu Tode kamen. Jerusalem - ein Bild für Zerrissenheit in der Welt. Jerusalem, Al-Quds, die Heilige, wie die Stadt in der arabischen Welt genannt wird, lechzt nach Frieden.

Jesus weint, weil er drohendes Unheil, das unausweichlich kommt, sieht. Menschen in der Welt weinen, weil sie verzweifelt sind, weil sie keinen Ausweg wissen, weil sie keine Obdach und keinen sicheren Platz haben, an dem sie leben könne.  "Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wäre." Es ist ein Weinen über den  bisher vergeblichen Versuch, im Nahen Osten Frieden zu schaffen. Es ist ein Weinen über Menschen, die Opfer von Gewalt und Terror geworden sind und immer noch  werden. Die christliche Kirche ist in ihrer Geschichte am Leiden beteiligt gewesen: Sie hat keinen Grund, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Hexenjagd, Kreuzzüge, Mitläufertum, benennen Schuld. Machtmissbrauch hat Armut, Tränen und gewaltsamen Tod produziert. "Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wäre. Jesus trauert und klagt über Jerusalem, behaftet das auswählte Volk auf seine Rolle als Friedensstifter. "Wenn doch auch du erkenntest, was zum Frieden dient". 

Wie werden aus Menschen Friedensstifterinnen und Friedensstiftern? Wie machen wir das, dem Frieden dienen? Indem wir uns selbst zurücknehmen, ohne die eigene Identität preiszugeben, indem wir die eigenen Interessen und Ziele nicht um jeden Preis verfolgen, die nur kurzfristig zu einem Gewinn führen, indem wir anderen einen Entfaltungs- und Lebensraum zugestanden wird. Wir werden zu Friedenstifterinnen und Stiftern, indem wir Verantwortliche  in der Politik, in der Industrie und in der Wirtschaft in ihrer Verantwortlichkeit behaften und keine Ruhe geben, bis sie sich menschenwürdigen und lebensfördernden Verhaltensweisen verschreiben. Kraft und Mut schöpfen wir aus der Religion und dem Glauben, denn der Gott Israels, der auch unser Gott ist, ist ein Gott des Friedens.

Am Israel-Sonntag sind wir Christinnen und Christen gefordert. "Wenn doch auch du erkenntest, was zum Frieden dient", diesen Wunsch, den Jesu in der konkreten Situation an die Stadt Jerusalem richtet, können wir nahtlos auf uns übertragen. Jesus selbst ist ein Friedensstifter, er hat verbunden, was getrennt war, hat Grenzen überschritten, Schranken aufgehoben. Jesus ist zu jedem Menschen ungeachtet der Volkszugehörigkeit, seiner religiösen und gesellschaftlichen Herkunft gegangen. Jesus hat den Weg des Friedens bist zu letzten Konsequenz betreten. Juden und Christen sind gefordert, von ganzem Herzen und mit aller Kraft heilvolle Wege zu suchen. Dass das schwer ist, steht außer Frage, aber es ist die einzige Möglichkeit, wenn Menschen bestehen wollen in ihrer Würde und in ihrem Wunsch nach Frieden und Verbundenheit. Heute haben sich drei große Weltreligionen in der Heiligen Stadt verankert: Judentum, Christentum und der Islam. Der Auftrag zur Friedensstiftung nimmt alle Religionen in den Blick. Wir sind gut beraten, uns Verbündete zu suchen, unter den Juden sowie unter den Muslimen. Der Olivenhain am Ölberg, gegenüber der Altstadtmauer von Jerusalem, ist zum Ort der weltweiten Klagen aller Weinenden geworden. "Dominus flevit", als der Herr weinte, so heißt eine Kapelle, die mit Blick auf die Stadt Jerusalem gebaut worden ist.

Der Evangelist Lukas verknüpft die Erzählung vom weinenden Jesus mit der Erzählung von der Reinigung des Tempels. Er gibt damit einen Hinweis auf den Ort, an dem jedes friedliche Handeln beginnt: im Haus Gottes. "Mein Haus soll ein Bethaus sein" (Lk. 19,46 Zitat aus Jer. 56,7). Das Haus Gottes ist ein guter Ort, an dem der Frieden seinen Anfang nehmen kann. Wo Gott gegenwärtig ist, wachsen Erkenntnis und Barmherzigkeit, wo Gott gegenwärtig ist, ist die Quelle des Lebens und der Kraft. Jerusalem und insbesondere der zerstörte Tempel ist für viele Gläubige über alle Zeiten und Orte hinweg zum Inbegriff der Nähe Gottes geworden.

Frieden kehrt dort ein, wo Menschen erkennen, dass Gott bei ihnen Wohnung nehmen will. Gott nimmt vor allem Wohnung bei denen, deren Leben zerbrochen ist und in Trümmern liegt. Jerusalem, die zur Stadt von drei großen Religionen geworden ist, steht in der Mitte der Heilsgeschichte Jesu. Der Evangelist Lukas beginnt und endet Jesu Lebensgeschichte mit Szenen im Tempel. Im Tempel wird Jesus zu Beginn seines Lebens dargebracht, nach seiner Himmelfahrt versammeln sich die Jüngerinnen und Jünger im Tempel und preisen Gott. Die Stadt ist das Ziel Jesu Reise, der Ort der Passion, des Todes, der Auferstehung und der Himmelfahrt. Jerusalem ist Mittelpunkt in den ersten judenchristlichen Versammlungen und der Ort der erwarteten Wiederkunft Christi. Der Tempel ist für Jesus das erste Ziel, wenn er nach Jerusalem kommt. Hier ist seine eigentliche Heimat, hier ist er zu finden. Jesus ist mit der Stadt eng verbunden. Über ihre Zerstörung - er weiß, dass sie eintreten wird - weint er wie eine trauernde Frau, die ihr Kind verloren hat. Er trauert um die Stadt, um ihre Bewohnerinnen und Bewohner, zu denen auch Gott gehört. Der Tempel wird im Judentum als Ort der göttlichen Gegenwart gedeutet, wohl wissend, dass Gott im Himmel thront. In Jerusalem, im Tempel, hat er sein irdisches Gegenbild. Jesus ist gewiss kein Feind der Juden, wenn er ihnen Unheil ankündigt, ebenso wenig wie er ein Feind der Stadt und des Tempels ist. Er liebt Jerusalem mit dem Tempel von ganzem Herzen und sorgt dafür, dass der Tempel ein Bethaus bleibt.

Ich möchte weinen wie Jesus über das, was im modernen Jerusalem und in dem Heiligen Land geschieht. Ich möchte weinen über alle Gewalt, die weltweit an Menschen, Tieren und der Natur verübt wird. "Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wäre", dichtet die Dichterin Else Lasker-Schüler. Das Gedicht drückt nicht nur Trauer und Klage, sondern auch Hoffnung aus. "Als ob der liebe Gott gestorben wär...", das heißt doch: Gott lebt. Er ist da, er schenkt den Menschen Frieden. Gottes Friede will schon jetzt Wirklichkeit werden. Bei den Trümmern der Zerstörung wird es nicht bleiben. Ganz langsam, zart und verletzlich wächst eine kleine Pflanze, die Hoffnung heißt. In seinem größten Leid am Kreuz verheißt Jesus einem Menschen, der mit ihm gekreuzigt worden ist, das Paradies. Aus Leid wird Freude, aus Tod Leben, aus Angst Zuversicht. Gott hat den Tod überwunden, er lebt, er gibt Kraft, Hoffnung, Trost und Zuversicht. Amen. 

 

 



Dipl.-Theol. Pfarrerin Christiane Borchers
Emden
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