Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 11.08.2013

Predigt zu Lukas 7:36-50, verfasst von Erika Reischle-Schedler


Liebe Gemeinde! Was kann einen Menschen freuen und hinwegheben über allzuviel Einerlei des Alltags? Ein Fest natürlich. Es muss ja nicht immer ein ganz Grosses sein. Es kann ja auch schon genügen, sich ein paar interessante Menschen zu Tisch einzuladen, angenehme Gespräche zu führen, einen edlen Tropfen dazu zu trinken, im Kochbuch nach besonders köstlichen Speisen auszuschauen - sich die Arbeit für ein paar Stunden vom Leib zu halten und sich wieder darüber klar zu werden, wie schön das Leben eigentlich ist.

So pflegte es von Zeit zu Zeit auch Simon zu halten. Er war ein höchst angesehener Mann in der Stadt, ein gelehrter Theologe dazu - sein Urteil galt etwas, und er pflegte Umgang mit vornehmen, angesehenen Menschen. Bequeme Polster waren sternförmig rund um seinen reich gedeckten Tisch angeordnet, auf denen die Gäste nun nicht Platz nahmen, wie wir das heute gewöhnt wären, sondern auf die sie sich bäuchlings legten und so in bequemer Haltung, einander in die Augen schauend, die köstlichen Speisen und Getränke geniessen und sich dabei der angeregtesten Unterhaltung erfreuen konnten. Natürlich waren bei einer solchen Einladung im kleinen Kreise und den zu ihr gehörenden Gelehrtengesprächen die Männer unter sich. Keine Frau hatte in einem Solchen Rahmen auch nur das Geringste zu suchen.

Nur wer das weiss, kann ermessen, wie der Hausherr plötzlich mitten im angeregtesten Gespräch einen fürchterlichen Schrecken bekommt. Denn plötzlich geht die Tür auf. Wer sollte hier jetzt etwas wollen! Alle geladenen Gäste waren erschienen, und das sprach sich schnell herum in der Strasse, dass Simon heute Gäste hat und nicht gestört sein will. Wer also stört da! Aber nicht genug, dass es irgendjemand ist. Ausgerechnet auch noch eine Frau wagt sich zu dieser Stunde hier herein.

Wir verlassen für einen Augenblick den reich gedeckten Tisch des Simon mit seinen Gästen und begeben uns auf die Strasse hinaus zum alten Ruben. Der macht es sich am abend, wenn die sengende Hitze nachgelassen hat, vor dem Brunnen gemütlich. Alt ist er, genauer gesagt steinalt, ein bisschen das Factotum der Gegend - aber er freut sich über jeden, mit dem er ein Wort reden kann, und wer neugierig ist, was gerade in der Strasse oder näheren Umgebung so passiert oder passiert ist, der erfährt von Ruben fast alles, was er wissen will. An diesem Abend sitzt er auch und hält Ausschau nach jemandem, mit dem er ein weilchen reden kann. Lange warten muss er nicht, denn da sieht er schon von Weitem, wie ganz aufgeregt und ausser Atem eine angelaufen kommt; eine, die in der Stadt jeder kennt, von der man genau weiss, was für eine sie ist - wir wollen sie der Einfachheit halber Esther nennen. Die besseren Leute wissen ihr wohl aus dem Weg zu gehen. Aber der alte Ruben gibt sich so ziemlich für jeden Plausch her, und diesmal ruft sie ihm schon von Weitem etwas entgegen: "Hast Du nicht den Rabbi Jesus irgendwo gesehen?" "Sachte, sachte", entgegnet Ruben, "was ist denn heute mit Dir los! Du willst doch nicht etwa sagen, dass Du fromm geworden wärest auf einmal? Nichts für ungut..." aber da fällt ihm Esther schrill ins Wort: "Hör doch auf mit solchem Geschwätz. Hast Du eine Ahnung. Wie soll ich das auch jemandem erklären, was das für ein Gefühl ist, wenn man da auf einmal einem Mann begegnet, der nicht ist wie alle Männer. Einem Mann, der nicht nach sich selber, sondern nach mir fragt, wie es mir geht, wie ich mich fühle, was ich für ein verpfuschtes Leben hinter mir habe, was ich mir eigentlich wünsche, und was ich tun könnte, damit sich bei mir etwas ändert. Mensch, begreifst Du das, wie das ist, wenn Dich jemand als Mensch behandelt und nicht als Ware? Begreifst Du, dass das mein Leben auf den Kopf stellt? Dass ich ihn suche überall in der ganzen Stadt, weil ich ihm irgendwie sagen, irgendwie auf meine Weise zeigen muss, wie dankbar ich ihm bin!" Und sie bricht in Tränen aus, in Tränen der Dankbarkeit, und sie hofft so sehr, dass der alte Ruben sie verstehen könnte, denn was verlangt man als Mensch, dem eine grosse Freude widerfahren ist, anderes und mehr, als sich einem anderen Menschen mitteilen zu dürfen und von ihm verstanden zu werden. Ruben brummt etwas in seinen Bart, und meint dann: "Lass mich nachdenken. Ach ja richtig, Der meister Simon hat ja heute Gäste, da hab ich doch diesen Jesus auch in sein Haus gehen sehen, dort drüben, ja dort, wo Du jetzt hinschaust!" "Tausend Dank", Esther fällt vor lauter Glück dem alten Ruben um den Hals. Dann rennt sie los. "Aber sachte, sachte", versucht ihr Ruben hinterherzurufen, "Du kannst doch nicht ...". Aber es ist zwecklos. Man weiss eben doch, was für eine sie ist. Die macht selbst vor der Türschwelle der frommen Leute nicht Halt.

Wir verlassen Ruben an seinem Brunnenrand und folgen dem Sturmschritt der Esther. Kein Zweifel, wer in diesem vornehmen Raum jesus ist. Sie erkennt ihn sofort von hinten. Sie lässt ihren Tränen freien Lauf, sie tut sich keinen Zwang an. Endlich hat  sie Jesus gefunden, endlich kann sie ihm noch einmal sagen, wie viel ihr die Begegnung mit ihm bedeutet hat. Sie weint. Ihre Tränen benetzen seine Füsse. Sie zieht aus Ihrem Gewand das kostbarste TMl, das sie bei sich trägt, und giesst gleich alles auf einmal über ihn. Sie öffnet ihr volles Haar und trocknet damit seine Haut. ie Gespräche, die am Tisch munter dahingeplätschert waren, verstummen mit einem Schlag. Das war denn doch nie vorgekommen. Unerhört. Und Simon, der Hausherr, kann nicht anders, als sein Gesicht zu einer spöttischen Grimasse zu verziehen: Der will ein Prophet sein, ein Lehrer, ein Mensch, der von sich behauptet, in Israel etwas zu sagen zu haben? Wenn das so wäre, dann müsste der doch wissen oder wenigstens merken, was für eine ihn da anfasst - oder führt er ein Doppelleben, gibt sich nach aussen als frommer Lehrer und hält es heimlich mit der? Na gute Nacht.

Aber da ist es Jesus, der als erster wieder zu reden beginnt: Und er wendet sich direkt an ihn, den Hausherrn. "Simon", sagt er, "Ich möchte Dir gern etwas sagen!" Höflich antwortet Simon, als hätte er nie etwas Böses über ihn gedacht: "Ich höre Dir zu Jesus". Da beginnt Jesus zu erzählen. "Stell Dir einen Mann vor, der an zwei seiner Untergebenen Geld verliehen hatte. Dem einen hatte er 500 Goldstücke geliehen, dem anderen 50. Beide hatten versprochen, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Heller und Pfennig alles zurückzuzahlen. Aber der Zeitpunkt rückte immer näher - und das Geld kam nicht, weder vom einen, noch vom anderen. Der Gläubiger beschliesst grosszügig zu sein: Ich erlasse es Euch beiden, sagt er einfach." Und da fragt Jesus Simon direkt: "Was glaubst Du nun, Simon, wer von den beiden, denen der Gläubiger die Schulden erlassen hat, ist ihm dankbarer?" Simon weiss sofort, was er sagen will: "Natürlich der, der ihm mehr geschuldet hat!" "Gut hast Du's gesagt", entgegnet ihm Jesus. "50 Goldstücke, die könnte ein normal verdienender Mensch mit etwas Mühe und gutem Willen irgendwann aufbringen. Aber 500, das ist viel Geld, und es hätte dem Mann übel ergehen können, wenn der Gläubiger nicht so grosszügig ihm gegenüber gewesen wäre. Natürlich ist er dankbarer als sein Kollege, dem nur ein vergleichsweise kleiner Betrag gefehlt hat. Und nun schau Dir diese Frau hier an. Als ich in Dein Haus kam, da hast Du mir kein Wasser gereicht, dass ich mir meine staubigen Füsse hätte waschen können. Sie aber hat mit ihren Tränen meine Füsse gewaschen, hat sie mit ihren Haaren getrocknet und hat mich erfreut mit dem wunderbar wohlriechenden kostbaren  TMl. Spürst Du ihre grosse Liebe zu mir und ihre grosse Dankbarkeit? Wer zu einer solch grossen Liebe fähig ist, dem muss viel Schuld erlassen worden sein. Denn wem viel vergeben ist, der erweist viel Liebe. Hingegen, wem wenig vergeben worden ist, der erweist wenig Liebe, so wie Du es mit mir getan hast, seit ich hier in Deinem Hause bin. Du hast keine grosse Schuld begangen, Du hast ein normales, wohlanständdiges Leben gelebt, alles ist glatt gelaufen. Was hast Du es nötig, mir Liebe zu erweisen? Du hast es nicht nötig, denn es gibt kaum eine Schuld, die Dir vergeben werden müsste. Hingegen diese Frau: Da gibt es viel Schuld, die ihr vergeben werden muss, und die ihr vergeben wird. Und weil sie das weiss, ist sie zu ganz anderer Liebe fähig als beispielsweise Du." Und dann wendet er sich endlich zu Esther selbst: "sei überzeugt", sagt er zu ihr, "Deine grosse Schuld hat Gott Dir vergeben. Du kannst und Du sollst ein neues Leben anfangen. Du hast Vertrauen zu mir gehabt. In mir ist Dir Gott begegnet. Nun glaube auch weiterhin an ihn und gehe Deines Weges in Frieden!"

Kann es ein Mensch wagen, Schuld zu vergeben? Simon und seine Gäste bleiben mit dieser Frage allein. Und wir verlassen die festliche Mahlzeit im Hause des Pharisäers und denken noch einen Augenblick nach, wer und was uns begegnet ist. Ich denke, wenn wir unvoreingenommen diese Geschichte auf uns wirken lassen, dann verschlägt es uns beinahe die Sprache. mit welcher ungeheuerlichen Freiheit Jesus Menschen begegnet. Peinliche Gefühle: Um Gottes Willen, ich bin blamiert mit dieser Frau, die mir nachläuft, was werden die wohlanständigen Menschen im Hause des ehrenwerten Simon denken - all dies kennt Jesus offenbar überhaupt nicht. Er sieht nur das Motiv dieser Frau, er lässt sich ganz auf sie und ihre Möglichkeit, Dankbarkeit und Liebe zu  zeigen, ein, folgt ihr auf dem Weg jenseits aller Konventionen.

Und begibt sich in der gleichen Souveränität hinein in ein theologisches Lehrgespräch, ganz nach den Regeln der Kunst, wie sie zu damaliger Zeit galten, mit einer Parabel und ihrer Deutung - er setzt sich mit den Ausgestossenen an einen Tisch und lässt sich beschimpfen von den Gutsituierten: "Da sieht man's, der ist ja auch einer von denen", er setzt sich aber genauso an einen Tisch mit denen, die das Sagen haben und gibt ihnen mehr als einen Denkanstoss. Er stellt sich ganz und gar auf den jeweiligen Menschen ein, mit dem er es zu tun hat. Ihn interessiert die Gesinnung eines Menschen und sonst gar nichts. Und deshalb kann er souverän mit Schuld und Vergebung umgehen. Es braucht einer nicht tausend Bussübungen zu absolvieren, bevor ihm ein frommer Theologe oder Priester vielleicht die Absolution erteilen kann -

Im Gegenteil: Solche Bussübungen verführen gewaltig zur Heuchelei, und im Herzen hat sich gar nichts geändert. Gott ist anders: Gott schaut nur auf das Herz und die Motivation, die einen Menschen zum Handeln bewegt. Wenn im Herzen der Frau eine Wandlung zum Guten stattgefunden hat in der Begegnung mit Jesus, was sollte Gott daran hindern, die Entlastung auszusprechen, die Befreiung: Was gestern war, soll und darf Dich nicht mehr quälen. Es gibt kein verpfuschtes Leben - Du kannst heute neu anfangen! Glaube nur, dass Gott Dein Leben auf einen guten Weg leiten wird, und frage danach, wo Deine Liebe gebraucht wird! Da mögen sich die Gäste des Simon noch so sehr wundern - Gott bindet sich nicht an von Menschen aufgestellte Gesetze.

In der Begnung mit Jesus, erfahren wir, wer wir sind. Auch in uns ist ein Stück von Simon: Ein Stück Selbstgerechtigkeit, ein Stück Leben aus Konventionen, Ein Stück Angst um das, was schicklich ist und was nicht, und ein ganz gewaltiges Stück Unfreiheit den Menschen gegenüber. In uns ist aber auch ein Stück von Esther, von ihrer sprudelnden Dankbarkeit, ein Stück sozusagen kindlicher Seele, die Fähigkeit zu unverbrauchter, grenzenloser starker Liebe gegen Gott und die Menschen. Und ein Stück Demut und das Wissen, dass wir immer wieder darauf angewiesen sind, dass uns vergeben werde, wie auch wir uns darin üben wollen, anderen zu vergeben. Ich möchte zum Schluss die Geschichte lesen, in der šbersetzung Martin Luthers: "Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch sass im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füssen, weinte und fing an, seine Füsse mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füsse und salbte sie mit Salböl. Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füsse gegeben; diese aber hat meine Füsse mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füsse zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit TMl gesalbt; sie aber hat meine Füsse mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. Da fingen die an, die mit zu Tisch sassen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Amen.

 



Erika Reischle-Schedler
Göttingen
E-Mail: e.reischle-schedler@t-online.de

Bemerkung:
Liedvorschläge:
EG289
EG299
EG237
EG410


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