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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 25.08.2013

Predigt zu Matthäus 6:1-4, verfasst von Johannes Schick

Vergessende Gerechtigkeit

Liebe Gemeinde,

es scheint, dass Gerechtigkeit die Schleier des Vergessens braucht. Hinter Jesu Worten von der Gerechtigkeit jedenfalls verschwindet die Bühne des Lebens, diese Welt der Auftritte und des Gesehenwerdens. Und kaum ist die Lebensbühne verschwunden, schieben sich seine Sätze wie ein Vorhang zwischen unsere zupackenden Hände, so dass die eine Hand nicht mehr um die andere weiß. Zu alledem weicht Gott zurück und liebt die Verborgenheit. Was sonst für uns zählt - Ansehen, Tatkraft, Überzeugungen - tritt hier ganz in den Hintergrund. Eine Zumutung, gewiss, denn wer kann ohne Weiteres das Geläufige ignorieren? Eine Mutprobe. Der Prüfstein ist das Almosen, griechisch: ELeäMOSüNä (wir hören den Gleichklang in beiden Sprachen), die Geldgabe, aber auch jedes Stück geteiltes Leben sonst. In der uneigennützigen Tat, die nicht schielt, entscheidet sich der Mut zur Gerechtigkeit. Habt acht! Achtsamkeit weiß, worauf es ankommt und was vergehen muss.

Was ist die Kraft der Gerechtigkeit, die ganze Welten hinter den Schleier des Vergessens rückt? Und welchen Lohn verspricht sie? Was macht sie aus uns und unserem Leben?

Der erste Schleier gilt der Bühne, auf der wir tagaus tagein unterwegs sind. Kein Mensch, der nicht auf der Bühne ist. Menschen sind Wesen, die sich mit dem, was sie tun und haben, zeigen. Schon ein Kind braucht seine kleine Öffentlichkeit, in der es sich präsentiert und auch stolz sein darf auf das, was schon gelingt. Und auf allen Stufen des Lebens gibt es Bühnen, auf denen wir uns äußern können. Was ist schwierig daran? Jesus sagt doch selbst wenige Sätze vor dem heutigen Redestück den bekannten Satz: „Ihr seid Licht für die Welt! Lasst es leuchten, damit die Leute euch preisen! Kein Mensch stellt sein Licht unter den Scheffel!" (Mt 5, 15f)

Denken wir nur: Was wären wir ohne die Mutigen, die zeigen, was ihnen wert und wichtig ist und die Hoffnung auf eine bessere Welt hochhalten. Wie viel fehlte uns ohne Menschen wie Nelson Mandela, der in seinen Bekenntnissen, die ich in diesen Tagen vor mir habe, schreibt, dass er nicht der Mensch „im Lehnstuhl" sein wollte, sondern ins „Zentrum des politischen Kampfes" trat, um für sein Ideal einer freien Gesellschaft einzutreten und dabei den langen Atem der Vergebung zu bewahren. An Menschen wie ihm finden wir ein Maß für mehr Deutlichkeit und Klarheit.

Also: Worüber sollen wir dann den Schleier der Ignoranz werfen? Es geht wohl um einen feinen, aber entscheidenden Unterschied: ob ein Mensch sein Gutes zeigt - oder ob er dabei nur auf sich selbst zielt. Die Selbstbeabsichtigung gehört hinter den Schleier. Sie verstellt die Gerechtigkeit. Sie macht aus anderen Mittel oder Instrumente zur Selbstbestätigung. Aber jeder Mensch hat eigene Bedürfnisse, Vorlieben, eine eigene Persönlichkeit, und ein Recht auf Respekt. Mit dem Blick, der achtet, kann ich mich gut und gerne sehen lassen.

Kürzlich hat der Journalist Maximilian Probst, ein Enkel von Christoph Probst, dem Widerstandskämpfer der Weißen Rose, in einem Essay in der ZEIT gefragt, wer ein Held sei. Er sagt darin etwas sehr Treffendes: Die wirklichen Helden finden sich nicht im Pop-Heroismus unserer Tage, der dazu anleite, „sich zu nehmen, was man kriegen kann" und einem suggeriere: „Und jetzt du!" Dieses Narrativ der Selbstrettung lasse uns die wichtigen Dinge vergessen und sei obendrein zynisch; denn kaum Einige haben die Chance zur Superiorität. Der wirkliche Held ist für Probst einer, der - wie sein Großvater - „von seiner eigenen Person absieht und sich in den Dienst einer Sache stellt, die ihn oft nur mittelbar betrifft: in den Dienst der anderen, der Benachteiligten, Verfolgten, Unterdrückten, Gequälten, Gemordeten." An Helden dieser Art lernen wir etwas „für unsere tägliche Aufgabe, aufrichtig zu leben."

Wenn der Schleier über die Bühnen der Selbstdarstellung fällt, besteht die Welt nicht aus Mitteln sondern aus Menschen. Sie haben ihren eigenen Zweck. Nicht wahr, es sind vor allem die schönen Dinge des Lebens, die ihren Zweck in sich selbst haben: das Spiel, die Urlaubszeit, die Liebe. Und deshalb muss es auch mit der Gerechtigkeit etwas Schönes sein: Gerechtigkeit vermehrt die Schönheit der Welt. Die Welt wird schön, wenn Hungernde satt werden und Menschen nicht mehr nach Hautfarbe und Rang beurteilt werden. Schön ist die Welt, wenn Alte, die an Stöcken gehen, und Kinder, die auf den Gassen spielen, sich wieder begegnen; wenn Arbeit nicht mehr vergeblich ist; wenn keiner mehr vom Fest des Lebens ausgeschlossen wird (vgl. Sach 8). Was ist lohnender?

Es gibt den zweiten Schleier, der uns ganz nahe kommt. Jetzt wird nicht nur die Bühne der Welt verschleiert, sondern eine Hand sieht nicht mehr die andere. Aufs erste muss uns das Sprachbild merkwürdig vorkommen. Denn im täglichen Leben ist es nicht gerade von Vorteil, wenn die linke Hand nicht weiß, was gerade die rechte tut. Dinge wie Schüsseln oder Bücherstapel können sonst aus den Händen rutschen und zu Boden stürzen. Die Koordination der Hände ist viel wert; sie schafft Verlässlichkeit; das wissen besonders jene, die sich im Alter oder nach einem Unfall mit der Koordination der Hände schwer tun.

Und doch steckt in Jesu Sprachbild eine große Aussagekraft. Wenn da mitten hinein in das Werk unserer Hände ein Wort wie ein Vorhang fällt und die eine Hand von der anderen löst - was geschieht da? Wir merken urplötzlich, dass es im Leben gar nicht nur ums Greifen geht - Greifen ist die Aufgabe der koordinierten Hände -, sondern dass etwas anderes seine Wichtigkeit hat: das Lassen - Hände, die sich nicht mehr fassen können, können ja mit einem Mal genau dies: sie lassen sich. Los lassen sie sich.

Was geschieht? Wenn ein Mensch für einmal loslässt, was er fest zu halten gewohnt ist, vielleicht loslassen muss durch ein einschneidendes Ereignis, dann wird er eines spüren: dass, auch wenn es ohne Griffe und Begreifen im Leben nicht geht, viele Griffe zu fest und manche Begriffe zu starr waren. Im Loslassen merke ich erst, wie viel ich umklammert und ausgebeutet habe, als sei ich ein Eroberer. Die Griffe und Zugriffe - das lässt uns Jesu Wort spüren - können schnell einengen, dabei bräuchten wir Räume, die uns umgreifen und wieder Atem geben. Die Kunst des Greifens haben wir wohl zur Genüge gelernt, meint Ihr nicht auch, es sei an der Zeit, sich in die Kunst des Lassens einzuüben? Wie anders werden wir uns selbst gerecht?

Ich war überrascht bei einem Vortrag Friedrich Schorlemmers vor einiger Zeit in Blaubeuren. Schorlemmer, einer der maßgebenden Vorkämpfer für die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR, der Initiator jener symbolträchtigen Aktion 1983, als ein Schmied auf dem Wittenberger Lutherhof vor aller Augen wahrhaft ein Schwert in einen Pflug umschmiedete - dieser Kämpfer sprach in seinem Vortrag zum Thema: „Lass es gut sein", das heißt von der Kunst, der Freundlichkeit Gottes zu trauen, von der Geduld, die den Frieden reifen lässt, von der Langsamkeit, in der Liebe und Mut gedeihen können. Mir wurde deutlich: Ein Mensch, der ins Rad des Lebens eingreift, muss sich zugleich auf die Quellen verlassen können. Sonst laugt er aus.

Wenn sich die eine von der anderen Hand lösen kann, dann lebt der Kampf für Gerechtigkeit von der Gelassenheit. Nicht von Lässigkeit, die sich über das Leben lustig macht. Aber gelassene Menschen wissen, dass von ihren Handgriffen nicht das letzte Gelingen abhängt. Sie lassen es gut sein. Sie heißen die Güte Gottes gut, trotz allem. Dann aber ist es mit der Gerechtigkeit so: Sie kommt - unter der Hand - zum Fließen. Sie strömt. Bricht sich Bahn. Wäscht das Unrecht aus. Sie denkt nicht mehr ans Halten. Sie zeigt eine andere Ökonomie, die „Ökonomie der Generosität" (P. Sloterdijk), die nicht mehr beharrt auf Recht und Schuldigkeit, die den Kreislauf des Rechtens und Rechnens kreativ durchbricht. Sie gibt der Herzenssparsamkeit den Abschied. Das Evangelium der Reihe I in Lk 10 zum heutigen Sonntag macht die Generosität aufs Schönste anschaulich: Der barmherzige Samariter sieht hin. Wird empathisch. Tut den ersten Schritt. Heilt die Wunden. Bringt in Sicherheit. Sorgt nach, damit der Bedürftige wieder auf die eigenen Füße kommt. Müssen wir noch fragen, was er in den Händen hat, wenn die Hände überfließen? Der Mensch, der sich im Flow des Erbarmens weiß, muss nicht begreifen, was er tut, um zu verstehen, wer er ist: ein Wesen, das die Hände offen hält. Er rührt an die bessere Gerechtigkeit Jesu: Sie lässt sich nicht aufhalten. Sie verströmt. Vergibt. wäscht das Unrecht aus.

Nun sind wir ganz nahe beim letzten Schleier. Zuletzt gehört zur besseren Gerechtigkeit Jesu der verborgene Gott. Das ist vielleicht am schwersten zugänglich. Muss die Sache Gottes nicht öffentlich gemacht werden? Sollen Christen nicht hinausposaunen, wie sehr Gott ein Liebhaber der Gerechtigkeit ist? Gewiss. Zudem kann Gottes Verborgenheit verdammt wehtun. Das wissen Menschen, die sich an den Dunkelwänden des Lebens wund gerieben haben. Aber auch wenn uns die großen Prüfungen erspart bleiben, können wir leiden am Gott, der sich entzieht im Geschäft oder in der Sorge unseres Tages. Gewiss.

Aber die Verborgenheit Gottes, die Jesus meint, ist nicht Ferne sondern intimste Nähe. Denn wohin zieht er sich zurück? In unsere irdischen Schicksale. Christus sagt im Wochenspruch (Mt 25): Was ihr meinen geringsten Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan. Gott birgt sich in den unscheinbaren Menschen, die um uns sind, in solchen, mit denen der Schuster Martin in Tolstois Geschichte sich müht: Den Straßenkehrer gibt er einen warmen Platz; der Frau mit ihrem kleinen Kind kocht er eine Suppe, damit sie wieder Wegzehrung hat; einer alten Frau ersetzt der den gestohlenen Apfel und verhilft ihr zu ihrem Recht. Normale Begegnungen, in denen er Christus gar nicht wiedererkennt, aber in der Nacht öffnet Christus ihm die Augen: In ihnen war ich und in der Güte, die du ihnen erwiesen hast. Wo birgt sich Gott? Auch in mir. Wenn ich nur noch mit mir allein bin mit meinen ärmlichen Gedanken, die keiner sehen soll. Der Psychologe Viktor Frankl, der KZ-Überlebende, nennt einmal Gott den Partner seiner intimsten Selbstgespräche. Er spricht nicht von Gebeten, und doch weiß er sich nicht allein; Gott ist der verborgene Mitwisser.

Es ist interessant: Mein intimes Gespräch mit mir selbst und meine Tat an einem, der gering geachtet wird oder sich selbst geringschätzt - beides ist wieder kein Mittel zu etwas, auch nicht zum Zweck der Gotteserkenntnis. Mag sein, ich weiß mich Gott im Dasein für andere nicht besonders nahe, und wahrscheinlich fühle mich nicht sehr fromm, wenn ich ehrlich werde zu mir selbst und anfange, an meinen Fehlern zu arbeiten. Aber mir muss gar nicht viel klar sein, wenn ich nur weiß: Er sieht mich. Meine Gerechtigkeit liegt in Gottes Anblick. Ja, das Leben lohnt sich.

Liebe Gemeinde, es wird die Proben geben für die bessere Gerechtigkeit; beides: die Prüfungen auf der Bühne des Lebens, wo wir uns verwirklichen und nach den Dingen greifen müssen, wo wir auch Überzeugungskraft brauchen und uns die Schwächen kaum eingestehen dürfen; aber auch unsere Versuche, das Geläufige, das uns hält, zu vergessen, frei zu werden für eine Sache, die wichtiger ist als wir selbst, dabei empfänglich zu bleiben für die Güte, die fließt, und genug zu haben am Ansehen vor Gott.

Gott gebe, dass unsere Versuche den Prüfungen gewachsen sind. In unserer Achtsamkeit für die Gerechtigkeit achte noch viel mehr er auf uns. Amen

 



Pfarrer Dr. Johannes Schick
89143 Blaubeuren
E-Mail: johannes.schick(at)t-online.de

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