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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 15.09.2013

Predigt zu Lukas 7:11-16, verfasst von Stefan Knobloch

 

 

Das Potenzial des Lebens

Wenn wir an einem Sonntag wie heute, wie es scheinen mag, einen beliebigen Abschnitt aus dem Lukasevangelium „verkündet" bekommen und dann darin auch noch von einer Totenerweckung die Rede ist, dann mögen wir das, wenn es uns überhaupt erreicht, ins Legendäre verweisen. Es trifft uns überfallartig. Es passt nicht in unseren Erfahrungsraum. Und so könnten wir meinen, wir seien es uns schuldig, zu einem solchen Evangelium erst einmal auf Distanz zu gehen. Womit wir richtig lägen, wenn uns eine Totenerweckung unzumutbar störte.

Unsere Empfindung mag sich aber ein wenig ändern, wenn wir zu verstehen beginnen, dass das Lukasevangelium es gar nicht von uns erwartet, dass wir die „Kröte" der Totenerweckung eines jungen Mannes, von der da die Rede ist, einfach so schlucken. Hätten wir nämlich das gesamte Lukasevangelium vor Augen, würden wir vermutlich wahrnehmen, dass uns das Evangelium langsam an diese Totenerweckung heranführt, ja uns über sie sogar hinausführen will zum Glauben an die Präsenz Gottes in Jesus Christus.

Wenn wir auf die Reihe der Heilungswunder an Menschen achten, von denen das Lukasevangelium „berichtet", dann beginnt sie mit der Heilung der fieberkranken Schwiegermutter des Simon (Lk 4,38-39). Es folgt die Heilung aller möglichen Leute von Krankheiten und Anzeichen von Besessenheit (Lk 4,40-41). Es schließt sich an die Heilung eines Aussätzigen (Lk 5,12-16), dann folgt die Heilung eines Gelähmten (Lk 5,17-26). Schließlich ist die Rede von der Heilung eines Mannes mit einer verdorrten verkrüppelten Hand (Lk 6,6-11), eine Heilung, die insofern eine besondere Dramatik beinhaltet, als sie mitten in einem Synagogengottesdienst stattfindet. Die folgende sechste Heilung stellt in anderer Hinsicht eine Steigerung dar, insofern es sich bei ihr um die Heilung eines todkranken Dieners eines römischen Hauptmanns handelt (Lk 7,1-10). Diese Heilung hatte eine neue Qualität. Von der Heilung von Todkranken war bis dahin nicht die Rede. Nach diesen sechs „Heilungsberichten" treffen wir als siebte Erzähleinheit auf die Erzählung der Totenerweckung von Nain. Allein dass es sich um das siebte Heilungswunder handelt, und zwar in Gestalt einer Totenerweckung, allein das ist schon ein stilles und zugleich lautsprechendes Zeichen. Die Zahl 7 steht in der Bibel für eine heilige Zahl. In den mit ihr markierten Vorgängen und Ereignissen drückt sich in der Heiligen Schrift in der Regel die Handschrift Gottes aus. In ihnen setzt Gott gewissermaßen ein Rufzeichen.

Wie sieht dieses Rufzeichen im heutigen Evangelium aus? Es ist bereits daran erkennbar, dass sich am Tor einer kleinen Stadt namens Nain zwei Züge begegnen. Den ersten Zug, der in die Stadt hinein will, führt Jesus an, begleitet von seinen Jüngern und, wie es heißt, von vielen Leuten. Es ist der Zug des Lebens, der Zug von Menschen, denen aufgegangen war, wer ihnen in Jesus geschenkt worden war: ein Gottgesandter, der mit ihrem Leben, mit den Fragen und Problemen ihres Lebens auf eine Art und Weise umging, in der sich ihnen die befreiende Erfahrung Gottes vermittelte. In dem Moment, in dem Jesus als Anführer seiner Gruppe auf das Stadttor zugeht, kommt ihnen von der anderen Seite ein Leichenzug, ein Trauerzug, ein Zug des Todes entgegen. Ein Sarg mit einem in jungen Jahren verstorbenen Mann, dem Sohn einer alleinerziehenden Witwe, die nun auch noch ihren Sohn verloren hatte. Auch dieser Zug wird begleitet von einer Anzahl Menschen. Nur spricht das Evangelium bei ihm nicht von vielen, sondern lediglich von einer gewissermaßen stattlichen Anzahl von Leuten.

Dieser Zug tritt aus dem Tor heraus, und Jesus hat sofort nur einen Blick: auf die trauernd gebeugte Mutter. Auf sie fällt sein Blick. Auf nichts anderes sonst. Es war kein neugieriger touristischer Blick, der etwas wie im Vorübergehen aufschnappt; ach, man könnte rasch ein Foto machen! Es ist ein Blick, der von Herzen kommt und zu Herzen geht. Jesus lässt sich berühren, so wie sich nach der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils „Über die Kirche in der Welt von heute" die Christen aller Konfessionen berühren lassen sollten: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände."

Jesus lässt sich berühren, wie so oft in den vorangegangenen Heilungen. Nur, diesmal geht es um die leidvolle Trauer um einen Verstorbenen. Er tritt zur Frau. Nicht zum Toten. Nicht zu den Sargträgern. An die Frau wendet er sich tröstend: Du bist jetzt ein heulendes Elend. Aber bitte, weine, schluchze nicht. So versucht er sie aufzurichten. Dann er wendet sich dem Leichnam zu: Junger Mann, ich sage dir, komm' wieder zum Leben! Richte dich auf! Der Tote richtet sich auf und beginnt zu sprechen. Ein überraschendes und vielseitig deutbares Detail. Vielleicht will gesagt sein: Er ist kein „in-fans", das heißt, kein Kind, das nicht sprechen kann; von lateinisch in-fari/nicht sprechen können. Er kann sprechen, und gibt in dieser Situation nicht Belanglosigkeiten von sich. Sondern aus ihm brechen Jubel, Glück, Dank und Gewissheit, dass Gott in Jesus das Leben gibt.

Und Jesus gab ihn, heißt es dann wörtlich wie beim Propheten Elija (vgl. 1 Kön 17,23), an seine Mutter zurück. Aus dieser wörtlichen Übernahme wird ersichtlich, dass sich das Lukasevangelium in dieser Erweckungserzählung an der Erzählung aus dem ersten Buch der Könige orientierte. Lukas nahm damit einen Erzählstrom auf, der schon bei Elija in der Feststellung mündete, dass Elija ein Mann Gottes und das Wort Gottes wirklich in seinem Mund war (1 Kön 17,24).

Dasselbe geschieht hier im Lukasevangelium. Das Erstaunliche ist dabei, dass auf die Reaktion der Mutter ganz verzichtet wird und wir gleich den vielseitigen Jubel, der nun gewissermaßen beide Züge verbindet, vernehmen: dass in Jesus ein großer Prophet unter ihnen sei und Gott auf sein Volk blicke.

Richtig betrachtet geht es im heutigen Evangelium nicht um die Frage, die bei uns wohl im Vordergrund stehen dürfte, ob diese Totenerweckung damals so stattgefunden hat oder nicht. Dem Evangelium geht es vielmehr um die ungleich wichtigere, vom Glauben getragene und gestützte Aussage, dass uns, dass der Menschheit, dass der Schöpfung insgesamt Leben geschenkt ist, ein Leben, das auf Fülle angelegt ist (Joh 10,10). Seinen Geschmack haben wir manchmal mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht auf der Zunge. Ein Leben, das, so will uns das Bild der Totenerweckung sagen, ja, so will uns noch eindringlicher die Glaubensrede von der Auferstehung sagen, nicht „zu Tode zu kriegen" ist. Obwohl es dem Tod, dem Untergang, der Ende, der Vergänglichkeit unterworfen ist, worunter wir leiden.

Wir laufen keiner Illusion nach, wenn wir auf dieses Leben in Fülle setzten.

Freilich: Wir sollen von ihm weniger große Lettern entwerfen. Wir sollen uns an ihm im Kleingedruckten des Lebens orientieren. Indem wir Freude und Hoffnung, Trauer und Angst mit denen teilen, deren Leben vor allem von Trauer und Angst, von Entbehrung und Verzweiflung geprägt sind. In der gesellschaftlichen Diskussion dieser Tage vor der Wahl ist viel von Solidarität und Gerechtigkeit die Rede. Lassen wir uns neu anstecken von dem Erregungs- und Heilungspotenzial, von dem Potenzial des Evangeliums, Todeszonen ausfindig zu machen und aufzudecken. Von dem Potenzial, das in der Gestalt des Glaubens in unser Leben gekommen ist.

 



Prof. Dr. Stefan Knobloch
94036 Passau
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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